Kammer als Wohnlabor
WohnBüro Offenbach
Text: Spix, Sebastian, Berlin
Kammer als Wohnlabor
WohnBüro Offenbach
Text: Spix, Sebastian, Berlin
Im Frühjahr sind 13 „Probebewohner“ ins ehemalige Gebäude der Industrie- und Handelskammer in Offenbach eingezogen. Unter der Regie des Frankfurter Architekturbüros bb22 und finanziell unterstützt durch das BMVBS wandeln sie den jahrelang leerstehenden Bau vom Büro- zum Wohngebäude um.
Das Projekt „WohnBüro Offenbach“ bietet einen Lösungsansatz gegen chronischen Wohnungsmangel und steigende Mietpreise im Rhein-Main-Gebiet.
„Krieh die Kränk, Offebach! Die Staa binne se aa, die Hunde lasse se laafe“, schreit ein Frankfurter wütend, als er in Offenbach von einem Rudel Hunden angegriffen wird. Er bückt sich, will nach einem Stein greifen und friert am Boden fest. Eine Skulpturengruppe erinnert in Offenbach an diesen Zwischenfall aus dem 19. Jahrhundert, der als Ausgangspunkt der Rivalität zwischen den beiden hessischen Nachbarstädten gilt. Trotz fortwährender Zwietracht eint Frankfurt und Offenbach ein gemeinsames Problem: der Leerstand von Bürobauten und fehlende Wohnungen. Rund zwei Millionen Quadratmeter Bürofläche sind allein in Frankfurt ungenutzt; laut Mieterbund werden etwa 17.000 Mietwohnungen gebraucht. In der Frankfurter Bürostadt Niederrad, die mit einem Leerstand von 30 Prozent kämpft, versucht die Stadt seit 2009 den dringend benötigten Wohnraum durch Umnutzung zu schaffen. Ein Blick nach Offenbach könnte den Stadtplanern aus Frankfurt helfen: In das ehemalige Gebäude der Industrie- und Handelskammer sind im Frühjahr Designer, Künstler und Architekten zum „Probewohnen“ eingezogen. Im Rahmen des Projekts „WohnBüro Offenbach“ experimentieren die neuen Bewohner ein Jahr lang mit der Konversion des 1957 gebauten und seit 2006 leerstehenden Bürogebäudes.
Vom Studien- zum Forschungsprojekt
Ausgangspunkt für das Projekt war eine 2011 im Architektursommer Rhein-Main vorgestellte Semesterarbeit der Hochschule Darmstadt (h_da). Initiiert von Felix Nowak, Architekt im Frankfurter Büro bb22, entwickelten Studenten des Fachbereichs Architektur Ideen zum Wohnen im verlassenen IHK-Gebäude. Im Vordergrund stand ein kostengünstiger Umbau des Bürobaus. Nach der Präsentation der Konzepte wurde bb22 von der Stadt Offenbach beauftragt, im Rahmen des Forschungsprojekts „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“ (ExWoSt) des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, eine Machbarkeitsstudie für die Umgestaltung des IHK-Gebäudes zu entwickeln. Mit der ExWoSt fördert der Bund innovative Planungsmaßnahmen zu wichtigen städtebau- und wohnungspolitischen Themen. Im Offenbacher Fall soll das Vorhaben den Eigentümern leerstehender Bürogebäude Ideengeber sein und konkrete Potenziale zur Umnutzung vor Augen führen. Finanziert mit 275.000 Euro entwickeln die Architekten gemeinsam mit den Bewohnern auf Zeit die Transformation des sechsgeschossigen Hauses. Bis zum nächsten Frühjahr testen die Pioniere, wie man auf knapp 1000 Quadratmetern, verteilt über drei Geschosse, wohnen und arbeiten kann. Die neue Bewohnerschaft setzt sich aus einer Studenten-WG, einem Künstler-Pärchen und einer Arbeitsgemeinschaft zusammen. Hinzu kommen der Offenbacher Kunstverein, der private Verein „Creativ-Haus-Offenbach“, das Atelier von Anny und Sibel Öztürk sowie das junge Architektur- und Designbüro riemenschneider, die temporär im Gebäude arbeiten.
Vom Gewerbe- zum experimentellen Wohnraum
Ohne großen Aufwand haben Architekten und Bewohner aus dem Bürohaus mit gleichförmigen Amtsstuben und langen Fluren, ausgelegt mit Behördenteppichboden, eine Art kreatives Wohn- und Arbeitslabor geformt. Das von den Darmstädter Studenten erarbeitete Konzept sah eine dreigeteilte Umgestaltung vor, die die charakteristischen Merkmale der Büroarchitektur aufgreifen sollte: loftartige Wohnräume, lichtdurchflutete Arbeitsräume und dazwischen flexibel nutzbare Bereiche für Ausstellungen und Events. Diese Verzahnung von Wohn-, Arbeits- und Veranstaltungsraum ist gelungen: Trennwände wurden eingerissen, Teppiche entfernt und Estrich gestrichen. Die gebäudetechnische Anpassung beschränkt sich auf neue Wasseranschlüsse und eine neue Starkstromleitung. Die Räume im zweiten Obergeschoss variieren zwischen 20 und 90 Quadratmetern. Diese großzügigen, fast luxuriösen Räume bieten den Bewohnern enorme Flächen zur wohnlichen und kreativen Gestaltung. Das Bürohaus ist nicht nur ein Wohnhaus, sondern auch ein Arbeitsort und ein öffentlicher Raum für Präsentation und Interaktion geworden. Im ersten Obergeschoss gibt es ein Gemeinschaftsatelier, im ehemaligen Büro des IHK-Präsidenten wohnt das Künstlerpaar. Das Bett haben sich die beiden aus alten den Büroschränken gezimmert. Ein mit Holzfurnier ausstaffierter ehemaliger Besprechungsraum im Erdgeschoss dient als offenes Studio. Mit diesem sogenannten „Rock-Hudson-Saal“ öffnet sich das „Wohnbüro“ zur Stadt. Hier finden regelmäßig Ausstellungen, Konzerte oder Lesungen statt.
Vom öden Amtsbau zur begehrten Wohnimmobilie
Das Büro bb22 hat ein beispielhaftes Wohnexperiment realisiert. Von den temporären Mietern werden sechs Euro pro Quadratmeter verlangt, was angesichts der herrschenden Mietpreise – in Offenbach im Schnitt 8,20 Euro pro Quadratmeter, beim teureren Nachbarn in Frankfurt sogar 12,80 Euro – unschlagbar günstig ist. Was nach Beendigung des Modellprojekts tatsächlich mit dem Gebäude geschieht, Miet- oder Kaufobjekt, will der Inhaber, das Immobilienunternehmen Geisheimer aus Mühlheim, noch in diesem Jahr entscheiden. Die Nachfrage ist groß: Der Frankfurter Verein Gewagt möchte das Haus für Mehrgenerationen-Wohnen mieten, das „Creativ-Haus-Offenbach“ will es auf genossenschaftlicher Basis kaufen. Auch die Offenbacher Hochschule für Gestaltung (hfg) hat ihr Interesse angemeldet. Die Probebewohner möchten am liebsten nicht wieder ausziehen und bb22 sind auf der Suche nach dem nächsten Offenbacher Objekt, um ihr Experiment fortzuführen.
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