Mekka tickt anders
Die weltgrößte Turmuhr
Text: Marquart, Christian, Stuttgart
Mekka tickt anders
Die weltgrößte Turmuhr
Text: Marquart, Christian, Stuttgart
Die in diesem Jahr fertiggestellte weltgrößte Turmuhr in der heiligen Stadt Mekka wurde am 15. Mai in Stuttgart mit einem Film vorgestellt. Den Auftrag für die Aufstockung des Gebäudekomplexes erhielt die SL Rasch GmbH aus Leinfelden-Echterdingen. Die Uhr stammt von Perrot aus Calw.
Die Behauptung, irgendwo gingen die Uhren „anders“, ist eine gängige Metapher. Gemeint sind damit vor allem Kulturbrüche hinter zivilisatorischen Grenzlinien. Die 24 Zeitzonen rund um den Globus, die erst im 19. Jahrhundert festgelegt wurden, spielen in diesem Zusammenhang fast keine Rolle.
In der Welt des Islam, und speziell in ihrem spirituellen Zentrum Mekka, leben die Menschen nach einem eigenen Zeitmaß. Man schreibt dort aktuell das 14. Jahrhundert und darf sich – je nach Stimmung – im späten Mittelalter fühlen, in der Moderne oder auch in einem bizarren Komposit aus Tradition und Avantgarde. Rechtgläubige Muslime beten fünf Mal täglich, sobald der Muezzin seine Stimme, mittlerweile elektronisch verstärkt, vom Minarett herunter schallen lässt. Aber das Minarett des 21. Jahrhunderts ist kein eigenes Architekturformat mehr: Eben wurde in Mekka in Saudi-Arabien eines fertiggestellt, das technisch, funktional und symbolisch ein Hybrid ist: Uhrturm in viktorianischem Design, Wolkenkratzer mit eingebauten Superlativen in einem siebentürmigen Ensemble, Pilgerhotel, astronomisches Observatorium mit mehreren Ausstellungsebenen, Aussichtsturm, Touristenmagnet, Geldmaschine. Realisiert wurde das Gebäude von der Saudi Bin Laden Group.
Der Orient gilt als Wiege der exakten Wissenschaften. Während die Europäer noch in klammen Strohhütten hausten, entwickelten morgenländische Mathematiker hellsichtig die Algebra mitsamt der Zahl Null. Heute hingegen werden baden-württembergische Uhrmacher und Ingenieure beauftragt, wenn es darum geht, dem Wunsch saudischer Bauherren folgend, in der heiligen Stadt Mekka für ein paar Hundert Millionen Dollar dem mittleren Turm des King-Abdulaziz-Al-Waqf-Projekts auf 450 Metern Höhe nachträglich noch die weltgrößte Turmuhr aufzusetzen. Und dies gleich neben der Großen Moschee, in deren Innenhof die Kaaba steht, das Ziel muslimischer Pilgerreisen, deren Höhepunkt die siebenmalige Umrundung des schwarz verhängten Heiligtums ist.
Die Mechanik der Turmuhr von Mekka ist eine Konstruktion der Firma Perrot aus Calw. Ein Uhrmacher gleichen Namens findet sich auch schon in den Schriften Hermann Hesses, der in diesem Schwarzwald-Städtchen aufwuchs. Ins Geschäft mit den Saudis kam das Traditionsunternehmen durch die Vermittlung des Generalplaners der Rekord-Uhr – das Architektur- und Ingenieurbüro SL-Rasch in Leinfelden-Echterdingen bei Stuttgart. SL steht für „Special & Lightweight Structures“: Bodo Rasch, der Chef des Büros, war einst Mitarbeiter des Leichtbau-Papstes Frei Otto. Seine großzügigsten Auftraggeber sind Bauherren auf der arabischen Halbinsel, für die SL-Rasch vorzugsweise große, schattenspendende Schirm- und Zeltkonstruktionen entwickelt. Da Rasch vor Jahrzehnten zum Islam konvertierte, hat er mit einigen seiner Mitarbeiter ungehinderten Zugang zu den heiligen Stätten Arabiens, die zu betreten Andersgläubigen verwehrt ist.
Schätzungen zufolge bekennt sich ein Fünftel der Weltbevölkerung zum Islam. Die Stadt Mekka muss sich also darauf einrichten, jährlich viele Millionen Pilger empfangen zu können, Tendenz steigend: eine Verpflichtung einerseits, aber auch ein blendendes Geschäft. So wird Mekka seit Jahren städtebaulich brachial hochgerüstet (Bauwelt 11.2007). Aber den meisten Berichten darüber fehlt doch der unvoreingenommene Blick: Kaum ein frommer Muslim wird es sich leisten, das saudische Königshaus, das sich als strenger Wächter der heiligen Stätten des Islam versteht, mit „respektloser“ Architektur- und Städtebaukritik zu belästigen.
Wie kommuniziert man architektonische und technische Highlights der Stadtentwicklung an einem hügeligen Ort in der saudischen Wüste, der für mehr als eine Milliarde Menschen der Nabel der Welt ist, für alle anderen aber eine No-go-Area? Nun, am eindrücklichsten wohl mit gut gemachten Filmen. Achmed Rasch, ein Sohn des Architekten Bodo Rasch, ist in der Medienwirtschaft zuhause und produzierte eine schöne Dokumentation über die große Uhr von Mekka. Das Werk hatte vor einigen Tagen in Stuttgart Premiere und wird wohl bald einen Sendeplatz im Fernsehen finden. Die beeindruckendsten Bilder dieses Films sind nicht jene vom Abenteuer der Realisierung einer monumentalen Uhrturmspitze in 400 bis 607 Meter Höhe; faszinierender ist die Vogelperspektive, der Blick über Mekka hinweg auf die staubigen Bergketten und auf das Geschehen im Rund der Moschee Al Haram al-Sharif, wo sich Zehntausende in einem steten Wirbel um die Kaaba herum bewegen.
Wie zwingend ist eigentlich das Retro-Design des neuen Uhrturms von Mekka im Stil imperialer britischer Architektur? Von Weitem wirkt das Gebäude, und erst recht seine Spitze, wie eine dem Original grob angenäherte, aufgepumpte Big-Ben-Replik – ein später postmoderner Scherz, wie man ihn eher in Moskau vermuten würde. Aus geringerer Distanz erkennt man die üppigen Details orientalischer Ornamentik und Kalligrafie, die mit modernsten Materialien und Technologien auf die vier Zifferblätter und auf geschosshohe Gesimse und Ecktürmchen appliziert wurden: gläserne Mosaikarbeiten mit eingelegtem Blattgold, gefertigt in einer venezianischen Manufaktur; Millionen von LED-Lampen, damit die Uhrzeit und die Lobpreisungen Allahs in Kufi-Schrift nachts auch noch weit draußen in der Wüste abzulesen sind (Bartenbach-Design). Die riesigen, ultraleichten Uhrzeiger mit Einlegearbeiten sind aus Carbonfasern und innen begehbare. Sie halten starkem Winddruck stand. Ein „Leuchtturm“ ist aus diesem Projekt für Mekka nun im Wortsinn geworden. Luftbilder werden uns Auskunft darüber geben, ob die Kaaba irgendwann völlig zugestellt ist von riesigen Pilgerhotels. Rund um die Große Moschee steht schon heute drohend ein Wald von Kränen.
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