Bauwelt

Was wir von 2011 erwarten

Text: Geipel, Kaye, Berlin

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Bild aus der Serie „1h“. Titel: 3/09/2010, 6:21 – 7:21 pm, S 29°00.376‘  E 134°45.447‘

Foto: Hans-Christian Schink

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Bild aus der Serie „1h“. Titel: 3/09/2010, 6:21 – 7:21 pm, S 29°00.376‘  E 134°45.447‘

Foto: Hans-Christian Schink


Was wir von 2011 erwarten

Text: Geipel, Kaye, Berlin

Zum Jahresanfang eine knappe und noch unvollständige Liste der Bauwelt-Redaktion mit den neuen Entwicklungen in punkto Architektur und Städtebau, auf die wir gespannt sein können.
Der Leipziger Fotograf Hans-Christian Schink hat eine Angewohnheit. Auf seinen Reisen weltweit kippt er die Kamera immer mal wieder Richtung Sonne und dokumentiert deren Verlauf, jeweils eine ganze Stunde lang. Ergebnis dieser fotografischen Beobachtung sind tiefschwarze Schleifspuren am Himmel: Wo die Sonne eigentlich gleißend hell überstrahlt sein müsste, erscheint auf seinen Bildern ein eindrucksvoller schwarzer Strich. Es handelt sich um die Folge einer photochemischen Überreizung der verwendeten Oberflächen: Schink belichtet auf herkömmliches Negativmaterial. Solchen wissenschaftlich begründbaren „Kippprozessen“ vom einen in den anderen Zustand – in diesem Fall durch Solarisation – begegnen wir auch in der Wahrnehmung städtebaulicher Realität: Jahrelang war der Klimawandel ein Thema der Ökologie, jetzt wird er mehr und mehr zum Thema der Wirtschaft. Die UN-Klimakonferenz in Cancún hat unter anderem deshalb einen Konsens gebracht, weil die Zahl derer, die von der Transformation in sustainaible cities profitieren können, größer wird. Neue Spielräume und Gewinnmöglichkeiten sind abzusehen. Was aber bedeutet das für die Architektur und die Stadt? Vor mehr als einem Jahr (Heft 46.09) haben wir am Beispiel der Elektromobilität untersucht, welche Auswirkungen umweltverträglichere Formen der Fortbewegung für die Stadt und deren Dichte haben könnten. Das Bauwelt-Heft über staatliche Förderkonzepte zeigte damals ein hektisch zusammengeschustertes Flickwerk: Die Unterstützung kommt fast ausschließlich der Technologie großer Autofirmen zugute, von einer Einbindung in einen größeren urbanen Zusammenhang – von walkability, smart grid oder Unterstützung neuer Verhaltensweisen der Bewohner, alles Stichworte, die im Zusammenhang mit neuen Formen der Mobilität diskutiert werden –, war nichts zu sehen. Ein deutsches Beharren auf Greentech allein genügt aber nicht. Was also erwarten wir erstens vom neuen Jahr? Zum Beispiel breit angelegte Criss-Cross-Konzepte, in denen etwa große Technologieträger verpflich-tet werden, sich den kleinen vernetzten Initiativen unterzuordnen.
Zweitens | Die Bauwelt bewegt sich nicht im luftleeren Raum. Unser Vorteil gegenüber anderen Medien liegt aber darin, dass wir schneller und dann oft auch umfassender reagieren können. Im letzten Jahr etwa legten wir dem Konvent der Stiftung Baukultur eine Diskussion über den Zustand des öffentlichen Raums in Deutschland auf den Tisch; zum Start der Weltausstellung in Shanghai Anfang Mai gab es ein Heft über den Sinn solcher Expos; am Beispiel Vorarlberg dokumentierten wir den Vorbildcharakter einer regionalen Architekturkultur; aus aktuellem Anlass erschienen große monographische Hefte zu Gottfried Böhm, Luigi Nervi und Günter Behnisch; zur Biennale in Venedig testeten junge Architekten im Auftrag der Bauwelt in Japan die offenen Raumkonzepte der Biennale-Chefin Kazuyo Sejima; und im Oktober rückten wir der Erinnerungsmalaise am Beispiel der Gedenkorte der Berliner Mauer zu Leibe, um nur einiges zu nennen. Diese zeitnahe Präsenz werden wir auch 2011 als Informationsvorsprung an die Leser weitergeben. Besonders gespannt sind wir da zum Beispiel auf die Versprechungen aus Stuttgart. Teil der Schlichtung zu Stuttgart 21 war ja das grundlegende Überdenken des neuen Stadtquartiers auf den ehemaligen Gleisanlagen, das der Spekulation durch ein Stiftungsmodell entzogen werden soll. Nachdem das bereits halbfertige Quartier A im Norden des Bahnhofs bisher als ein Bollwerk urbaner Rückständigkeit daher kommt, warten wir hier auf die nächsten Schritte. Den Stuttgarter think tanks, die zurzeit an den Grundstrukturen eines offenen Dialog mit der Bevölkerung basteln, werden wir mit einer eigenen Nummer auf die Finger sehen.
Drittens | Das Beispiel Wohnen betrifft uns alle, zuhause und jeden Tag, und das Thema geht über architektonisches Experimentieren weit hinaus. Erst jüngst (Heft 42.10) haben wir auf das Dilemma hingewiesen: Gerade in den Innenstädten dominiert heute ein Verdrängungsprozess, der die Bedeutung experimenteller Wohnentwürfe insofern unterminiert, als sie bloß noch für immer kleinere gesellschaftliche Gruppen bezahlbar sind. Wie weiter? Eine Gruppe von Berliner Architekten traf sich kurz vor Weihnachten im Bauwelt Live-Raum „Marketta“ in der Berliner Linienstraße zu einem perspektivischen Wohnbau-Gespräch – alles Architekten, die wir bereits veröffent­licht haben und die mit gezielten Projekten auf sich aufmerksam machten. Kein Schulterklopfen über innovative Ent­-
wurfs-Konzepte fand statt, stattdessen die nüchterne Suche nach den politischen und ökonomischen Möglichkeiten, neue Modelle auszuprobieren. Stichwort: „Ohne den Rohstoff Grundstück geht gar nichts“. Unsere dritte Erwartung an die kommenden Monate bezieht sich auf folgende Frage: Welche Voraussetzungen sind notwendig, damit in Deutschland kollektive und gemischte Wohnbauten wieder weiterentwickelt werden können? In Heft 4 veröffentlichen wir das Gespräch.
Viertens | Die Bauwelt versteht sich auch als Plattform, die Akteure mit ganz unterschiedlichen Interessen zusammenbringt. Auch 2011 werden wir ungewöhnliche Kooperationen und transversale Verbindungen unterstützen und selber dort schaffen, wo sie uns nötig erscheinen. Am 18. Januar etwa präsentieren wir in Kooperation mit der Messe München die Preisträger des Bauwelt-Preises 2011 für das erste eigene Werk. Einen Tag zuvor werden die jungen Architekten stichprobenartig ihre Konzepte den Studenten der TU München vorstellen. Von den Gewinnern des Sonderpreises aus Johannesburg wird übrigens ein Bauwelt-Film zu sehen sein (siehe Seite 2), der auch zeigt, wie die jungen Architekten ein kurzsichtiges städtebauliches Wohnbauprojekt erfolgreich umgedeutet haben. Die Ideen sind da. Weil aber in Deutschland fast immer das Gießkannenprinzip gilt, gibt es keine Aufträge. Wir wünschen uns – das ist unsere vierte Erwartung – Auftraggeber, ob privat oder kommunal, die mutig genug sind für solche Aufträge. Ob die Erwartungen eingelöst werden – darüber werden Sie lesen, immer dienstags bereits online und jeweils freitags im Heft.

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