Wiener Stadterneuerung: Eine unendliche Geschichte
Wien sieht sich zurecht als Vorreiter der behutsamen Stadterneuerung. Doch gerade zeigt sich wieder, dass das Bekenntnis hierzu von Generation zu Generation neu erkämpft werden muss.
Text: Seiß, Reinhard, Wien
Wiener Stadterneuerung: Eine unendliche Geschichte
Wien sieht sich zurecht als Vorreiter der behutsamen Stadterneuerung. Doch gerade zeigt sich wieder, dass das Bekenntnis hierzu von Generation zu Generation neu erkämpft werden muss.
Text: Seiß, Reinhard, Wien
Vierzig Jahre ist es her, dass die UNESCO erstmals ihre Welterbeliste veröffentlichte. 1978 startete sie mit zwölf Stätten. Heute sind es 1073, wovon zehn in Österreich liegen. Selbstredend kann der gesamte erhaltenswerte Baubestand eines Landes durch die UNESCO ebenso wenig vor Abriss, Verfall oder Verunstaltung bewahrt werden wie durch den Denkmalschutz – der in Österreich auch nicht über finanzielle Mittel im Übermaß verfügt. In der Breite ermöglichen nur ein entsprechendes öffentliches Bewusstsein und eine verantwortungsvolle Politik einen kultivierten Umgang mit dem gebauten Erbe.
Allein in Wien – vor 100 Jahren die größte deutschsprachige Stadt mit mehr Einwohnern, als die Donaumetropole heute zählt – stammt nach wie vor ein knappes Drittel aller Wohnungen aus der Zeit bis 1918. Die gründerzeitlich strukturierten Viertel, die bis dato die inneren Bezirke prägen und im Westen bis an den Stadtrand heranreichen, machen zweifellos die urbane Güte, ja die Lebensqualität der 1,8 Millionen-Kapitale aus. Deren baukulturelle Identität schöpft sich daher weniger aus einzelnen Denkmälern, als aus den vielen noch flächenhaft erhaltenen historischen Quartieren. Freilich stand es auch in Wien schon einmal schlecht um die heute geschätzten Altstadt-„Grätzl“. Mitte der siebziger Jahre war die gründerzeitliche und vorgründerzeitliche Bebauung weitgehend im Niedergang begriffen, zumal in viele Mietshäuser seit dem Ersten Weltkrieg nichts mehr investiert worden war und der damalige Zeitgeist die marode Bausubstanz als Bürde empfand. Um diese „Missstände“ beseitigen zu können, erließ die Österreichische Bundesregierung 1974 nach internationalem Vorbild das sogenannte Assanierungsgesetz, dem zufolge ganze Stadtteile abgesiedelt, flächenhaft abgerissen und großmaßstäbig neu bebaut werden sollten. So wäre beinahe auch das Barock- und Biedermeierensemble auf dem Spittelberg geschleift worden, wenn nicht eine Hand voll Studenten, Künstler und engagierter Architekten durch Hausbesetzungen und öffentliche Kundgebungen das damals verkommene Viertel gerettet hätte.
Als politischer Wendepunkt und erstes Modellprojekt der sanften Stadterneuerung gilt bis heute das „Planquadrat“, ein Karree im 4. Bezirk – und auch hier brauchte es einen Anstoß von Außenstehenden: Drei Redakteure des Österreichischen Rundfunks wählten diesen Baublock unweit des Naschmarkts, der dem Ausbau der Bundesstraße 1 weichen sollte und schon mehrheitlich von der Stadt aufgekauft worden war, 1974 für eine Sendereihe über den dramatischen Verfall des alten Wiens aus. Die Fernsehjournalisten schufen sich ein eigenes Studio in einem leerstehenden Teil des Blocks und berichteten über zwei Jahre hinweg 16 Mal ausführlich über die Situation vor Ort, teilweise sogar live und im Hauptabendprogramm. So gelang es ihnen, breites öffentliches Bewusstsein für das Thema Stadtzerstörung und -erneuerung zu schaffen – und schließlich auch den damaligen Oberbürgermeister davon abzubringen, das Planquadrat zu demolieren. Dank ihrer ständigen Anwesenheit konnten die Journalisten Schritt für Schritt das Vertrauen der anfangs skeptischen Eigentümer und Mieter gewinnen. Denn „Sanierung“ klang für die verbliebenen Hausherren zunächst nach Investitionen, die sich niemals rechnen – und die Bewohner befürchteten höhere Mieten. In Zusammenarbeit mit einer Gruppe von Architekten wurde ein mustergültiger Bürgerbeteiligungsprozess initiiert: mit wöchentlichen Mieterversammlungen und gemeinsamen Festen, mit partizipativer Planung, vermittelnden Gesprächen zwischen Eigentümern, Bewohnern und Rathausbeamten sowie mit Ausstellungen für ein stadtweites Publikum.
Bald schon kam es in den bis dahin kaum nutzbaren Hinterhöfen der einzelnen Häuser zum Abriss der Grundstücksmauern und Zäune. Die Mieter rodeten und säuberten in gemeinschaftlicher Arbeit den nun zusammenhängenden Freiraum im Blockinneren und schlossen sich zwecks Begrünung und späterer Pflege dieser 5000 Quadratmeter zu einem Gartenhof-Verein zusammen. Zeitgleich begann die Stadt, die ersten Häuser zu sanieren. Heute bildet der halböffentliche Park, der seit vierzig Jahren von den Anwohnern betreut wird, eine grüne Oase inmitten des verkehrsbelasteten Bezirks – auch für Menschen von außerhalb des Planquadrats, das zu einem der attraktivsten Wohnstandorte Wiens wurde.
Ermutigt durch diese und andere Projekte, verabschiedete sich die Stadt mit Beschluss des Wohnhaussanierungsgesetzes von 1984 endgültig von Zwangsmaßnahmen in der Stadterneuerung – und setzte fortan auf finanzielle Investitionsanreize für private Hauseigentümer. Knapp fünf Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln flossen seither in die Modernisierung von rund 7000 Häusern mit insgesamt 330.000 Wohnungen, wobei die Sanierungsförderung – der Wohnbauförderung gleichgestellt – mittlerweile auch auf Bauten der Zwischen- und Nachkriegszeit ausgeweitet wurde. Eine Verdrängung sozial schwacher Bürger durch ein zahlungskräftigeres Publikum, wie sie international vielerorts als Folge von Aufwertungsprozessen zu beobachten ist, konnte zumindest bisher weitgehend hintangehalten werden. Denn die Mietpreissteigerung unterliegt bei Inanspruchnahme von Förderungen – im Wesentlichen langfristige zinslose Darlehen – gesetzlichen Beschränkungen.
Dass die Stadterneuerungspraxis während all der Jahre nicht in guter Wiener Manier in Selbstzufriedenheit erstarrte, war weiterhin immer wieder auch Impulsen „von außen“ – sprich, in den meisten Fällen „von unten“ – zu verdanken: etwa künstlerischen Initiativen wie jenen im Brunnenmarktviertel in Ottakring, dem 16. Bezirk. Der Stadtteil zeigte bis in die neunziger Jahre, gekennzeichnet von Zuwanderung, Arbeitslosigkeit, Bildungsdefizit, Leerstand und Verödung, unübersehbare Tendenzen zur Verslumung. Während sich basiskulturelle Einrichtungen mit Erfolg um den sozialen Zusammenhalt im Grätzl bemühten, gab es seitens der Bezirkspolitik Überlegungen, den Problemen des Quartiers mit längst überholt geglaubten „Sanierungsstrategien“ zu begegnen – und beispielsweise am Yppenplatz die alten Lagerbauten der Großmarkthändler zu schleifen, um dort einen großen Gebäudekomplex samt Tiefgarage zu errichten.
Dass es dann doch anders kam und das Marktviertel zu einem Aushängeschild der Wiener Stadterneuerung wurde, ist nicht zuletzt Ula Schneider und ihrem Projekt „SoHo in Ottakring“ zu verdanken. Dabei gelang es der Künstlerin, etliche der leeren Geschäftslokale im Umfeld des Markts mit zeitgenössischer Kunst temporär zu bespielen. Ab 1999 lotste sie alljährlich Bildende Künstler und Galeristen aus der Innenstadt ins Quartier, wo für einige Wochen brachliegende Läden zu Ausstellungsräumen, ehemalige Friseursalons zu Ateliers oder eine aufgelassene Tankstelle zum Ort für Kunstvermittlung wurden. Parallel dazu konzipierte Schneider ein umfangreiches soziokulturelles Programm, um die ansässige Bevölkerung aus ihrer Isolierung herauszuführen.
Die Resonanz der Kunstszene, der Menschen vor Ort, des stadtweiten Publikums und auch der Medien war so positiv, dass SoHo nicht nur manch ungenutzter Erdgeschosszone neue Aufmerksamkeit und in der Folge neue Mieter bescherte, sondern auch die Stadt Wien die Aufbruchstimmung im Brunnenmarktviertel zum Anlass nahm, um überfällige Infrastrukturinvestitionen, die Neuorganisation des Verkehrs, massive Verbesserungen im öffentlichen Raum aber auch weitere Bürgerbeteiligungsprozesse zu starten. Gastronomie und Einzelhandel zogen nach, und bald erfolgten auch die ersten Sanierungen maroder Wohnhäuser. Binnen kurzem wurde aus dem einstigen „Scherbenviertel“ eine begehrte Adresse, ohne dass – trotz der üblichen Dachgeschossausbauten und des Zuzugs mancher gut Verdienenden – die soziale Vielfalt bislang verloren gegangen wäre.
Allerdings ist seit dem Wiedererblühen Ottakrings schon wieder einige Zeit samt einer globalen Finanzkrise ins Land gezogen. Ab 2008 explodierten auch in Wien die Immobilienpreise, weil insbesondere Wohnungen als Anlage- beziehungsweise Vorsorgeobjekte jene Renditen versprechen, die der Kapitalmarkt bis heute nicht mehr im Stande ist, verlässlich auszuschütten. Die grassierende Spekulation kurbelte gemeinsam mit dem zuletzt starken Zuzug gehörig den Wohnbau an, der angesichts des chronisch niedrigen Zinsniveaus nicht mehr auf öffentlich geförderte Darlehen und die damit verbunden Auflagen – allen voran auf moderate Grundstückskosten – angewiesen ist. So findet der aktuelle Boom schon seit mehreren Jahren nicht mehr nur am Stadtrand statt, sondern auch in den besten Lagen, als die nach wie vor Wiens Gründerzeitviertel gelten. Wer schnelles Geld machen will, verschwendet freilich keine Zeit mit der aufwendigen Sanierung von Häusern oder langwierigen Verhandlungen mit Mietern, sondern reißt lieber ab und baut in bescheidener Qualität neu. Dies ermöglicht bei gleichbleibender Gebäude-, aber geringerer Geschosshöhe einen Zugewinn von gut und gern zwei Geschossen zuzüglich attraktiver Dachterrassenwohnungen.
Die Kommunalpolitik rechtfertigte die so ausgelöste Abrisswelle in Wiens historischem Baubestand bisher mit dem massiven Bevölkerungszuwachs, der im Sinne einer kompakten Stadt auch im Zentrum Platz finden soll. Allerdings ist das Rathaus stets eine Evaluierung schuldig geblieben, für welche Käufer- oder Mieterschicht in den inneren Bezirken Wohnraum entstanden ist, in wie weit dieser auch tatsächlich Nutzer gefunden hat – und ob unterm Strich mehr Menschen in diesen Neubauten leben als zuvor in den mutwillig devastierten Altbauten. Anfang April überraschte die rot-grüne Stadtregierung nun allerdings mit der Ankündigung, durch eine Bauordnungsnovelle dem leichtfertigen Abriss entgegenzutreten. So will man die „technische Abbruchreife“ historischer Gebäude deutlich schärfer definieren und die Schleifung von Häusern aus der Zeit vor 1945 auch außerhalb von Schutzzonen von einer Bewilligung abhängig machen – wofür es künftig einer amtlichen Bestätigung bedarf, „dass kein öffentliches Interesse am Erhalt eines Bauwerks besteht“. Dass der für Stadterneuerung zuständige Stadtrat, der Sozialdemokrat Michael Ludwig, vor kurzem zu Wiens künftigem Bürgermeister bestimmt wurde, mag diesen Schritt ebenso begünstigt haben, wie die letzten Wahlschlappen der Grünen, die den für Stadtentwicklung zuständigen Juniorpartner in der Wiener Regierung nötigen, sich wieder stärker den Werten der eigenen Wählerschaft als der Wertschöpfung der Immobilienwirtschaft zuzuwenden.
Ob die verheißenen Maßnahmen allerdings reichen, um die spekulative Umwandlung gründerzeitlicher Zinshäuser mit ihren gesetzlich streng geregelten Mieten in völlig frei vermarktbare Eigentumswohnungsneubauten zu stoppen, wird erst die Praxis zeigen. Denn Wiens Planungspolitik und Bauverwaltung verfügen – begünstigt durch eine oft groteske Aufteilung von Zuständigkeiten bis hinunter auf Bezirksebene – über viel Interpretationsspielraum und Erfahrung beim kreativen Umgang mit an sich klaren Regelungen. Nicht eben hilfreich erscheint in diesem Zusammenhang auch, dass die Außenstellen der Stadterneuerung, die sogenannten Gebietsbetreuungsbüros, die bis zum Vorjahr über alle Sanierungsgebiete verteilt präsent waren und sich oft für bedrohte Häuser in ihrem Umfeld einsetzten, nunmehr auf fünf Standorte konzentriert wurden und ihre engmaschige Problemwahrnehmung zwangsläufig eingebüßt haben. Die nötige Früherkennung von Gebäuden, die gewolltem Leerstand und gezielter Vernachlässigung bis hin zum Verfall ausgesetzt sind, wird dadurch merklich erschwert.
Für einen wirksamen Schutz von Wiens Altbaubestand braucht es wohl erneut Unterstützung „von außen“ – diesmal allerdings „von oben“. Was in Deutschland sogar im Grundgesetz verankert ist, nämlich die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, ist in Österreich nach wie vor kein Thema: Die Verfügungsfreiheit über privates Eigentum – ob Grund und Boden, ob baukulturelles Erbe – dominiert mit wenigen Ausnahmen über das öffentliche Interesse. Ohne die Bundespolitik und die entsprechenden verfassungsgesetzlichen Voraussetzungen wird es Wiens Baubehörde schwer haben, in erforderlichem Ausmaß in Eigentumsrechte einzugreifen. Wobei zu ergänzen ist, dass es in Österreichs Gesellschaft bis dato an einer Debatte fehlt, woran die Öffentlichkeit Interesse haben sollte. Da kommt es durchaus gelegen, dass EU-Parlament und EU-Rat 2018 zum Europäischen Jahr des Kulturerbes erklärt haben, mit dem Ziel, die Bedeutung des „Cultural Heritage“ noch stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Und es trifft sich gut, dass ausgerechnet Österreich im Rahmen seiner turnusgemäßen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte Gastgeber der Abschlusskonferenz zum Cultural Heritage Year sein wird. Mangels Interesses der neuen, rechtsgerichteten Bundesregierung an einer ernsthaft nachhaltigen Entwicklung dürfte die nötige Unterstützung zur Fortsetzung von Wiens sanfter Stadterneuerung von nationaler Seite aber dennoch nicht zu erwarten sein.
0 Kommentare