Bauwelt

Zwei Quadratmeter pro Kopf

Vor 500 Jahren wurde ­in Venedig das jüdische Ghetto eingerichtet. Eine Ausstellung im Dogen­palast widmet sich seiner ­Geschichte

Text: Schulz, Bernhard, Berlin

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    Giorgio Fossati, Schnitt durch ein Wohnhaus im Ghetto, 1778, Tusche und Aquarell auf Papier (Ausschnitt)
    © Venezia, Archivio di Stato

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    Giorgio Fossati, Schnitt durch ein Wohnhaus im Ghetto, 1778, Tusche und Aquarell auf Papier (Ausschnitt)

    © Venezia, Archivio di Stato

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    Vogelschauplan von Venedig (Jacopo de’ Barbari, 1500): Auf dem berühmten Stadtplan fehlt das Ghetto noch. Der Kreis lokalisiert es.
    Abbildung: Museo Correr, Venezia

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    Vogelschauplan von Venedig (Jacopo de’ Barbari, 1500): Auf dem berühmten Stadtplan fehlt das Ghetto noch. Der Kreis lokalisiert es.

    Abbildung: Museo Correr, Venezia

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    Il canale degli ebrei, Domenico Margutti (1688) - das jüdische Ghetto Castello wird durch drei Kanäle begrenzt.
    ©Venezia, Archivio di Stato

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    Il canale degli ebrei, Domenico Margutti (1688) - das jüdische Ghetto Castello wird durch drei Kanäle begrenzt.

    ©Venezia, Archivio di Stato

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    Vittore Carpaccio, Predica di santo Stefano, Olio su tavola
    ©RMN-Grand Palais

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    Vittore Carpaccio, Predica di santo Stefano, Olio su tavola

    ©RMN-Grand Palais

Zwei Quadratmeter pro Kopf

Vor 500 Jahren wurde ­in Venedig das jüdische Ghetto eingerichtet. Eine Ausstellung im Dogen­palast widmet sich seiner ­Geschichte

Text: Schulz, Bernhard, Berlin

Als der Begriff „Mietskaserne“ geprägt wurde, dachte man an Wien und an Berlin, das Werner Hegemann 1930 als „größte Mietskasernenstadt der Welt“ brandmarkte. Doch der Begriff hatte weit früher schon seine Berechtigung: im Ghetto von Venedig. Im Laufe des 17. Jahrhunderts wuchs die jüdische Einwohnerschaft derart, dass gegenüber den sieben Quadratmetern Wohnfläche pro Kopf, die für das Jahrhundert zuvor geschätzt werden, jedenfalls in den ärmeren Häusern nur noch zwei Quadratmeter pro Kopf anzunehmen sind. Diese Zahlen ergeben sich aus den Belegplänen, die es von den Wohnhäusern gibt, und die neben einer für Venedig extrem hohen ­Bebauung mit bis zu sieben Obergeschossen ­die Belegung der Wohnungen mit jeweils ganzen, nach damaligen Verhältnissen kopfstarken ­Familien zeigen. Es handelt sich in der Tat um Mietshäuser. Juden war Immobilienbesitz verboten.
Zu sehen sind solche Pläne in der Ausstellung „Venedig, die Juden und Europa 1516–2016“, die die Städtischen Museen der Stadt in ihrem nobelsten Haus ausrichten, dem Dogenpalast. Anlass ist die Einrichtung des Ghettos vor 500 Jahren, am 29. März 1516, durch Dekret der Serenissima. Der Name hat keinen Bezug zur jüdischen Bevölkerungsgruppe; er leitet sich vielmehr her von der damaligen, umgangssprachlichen Bezeichnung für den Ort der einstmaligen Metallschmiede, getò. Die Schmiede, so wichtig für die Bewaffnung der beständig Kriege führenden Republik, war längst ins Arsenal verlegt worden, und das aufgelassene Areal wurde Gegenstand von Immobilienspekulation. Arrondierungen und Bodenbefestigungen ließen das Gelände des Stadt-„Sechstels“ Cannaregio in der nordwestlichen Ecke der Lagunenstadt wachsen. Dort entstand auf zunächst einer kleinen Insel im Kanal­gewirr das Ghetto.
Die Geschichte der Juden lässt sich archivarisch mindestens bis 1396 zurückverfolgen; so weit reichen die Aufzeichnungen über den jüdischen Friedhof am Lido. Andererseits wohnten und arbeiteten Juden vorwiegend auf dem Festland, in Mestre, wo sie ihren Geschäften als Pfandleiher, Geldverleiher, modern ausgedrückt als Kreditgeber nachgingen. Jüdische Ärzte hingegen, die ihrer besonderen Fähigkeiten wegen geschätzt wurden, übten ihren Beruf naheliegenderweise in Venedig selbst aus. Die nicht immer glückliche Bündnispolitik der streitbaren Republik führte zu Beginn des 16. Jahrhunderts zu militärischen Niederlagen, die zahlreiche Festlands-Venezianer in die sichere Lagunenstadt flüchten ließen. Die Politik sah sich vor die Notwendigkeit gestellt, die zahlreichen Minderheiten unterschiedlicher Nationalitäten und Religionen anders, besser zu organisieren.

Separation und Kontrolle

„Inklusion und Isolation“ heißt es dazu in der Ausstellung, oder auch „Separation und Kontrolle“. In seiner Bedeutung nicht zu überschätzen ist der Hinweis, dass diese Politik nicht auf die ­Juden beschränkt war, auch wenn es sie – nicht zuletzt aus religiösen Gründen, als Nicht-Christen – in deutlich verschärfter Weise traf. Beispielsweise mussten sich die deutschen Kaufleute und ihre Besucher – Albrecht Dürer ist der prominenteste – im Fondaco dei Tedeschi aufhalten, das gerade erst, 1508, den heute noch erhaltenen Neubau an der Rialtobrücke bezogen hatte. Während Jahrhunderten schwankte die venezianische Innenpolitik zwischen Lockerung und Verschärfung ihrer Vorschriften; dies aber stets unter dem Primat der städtischen Ökonomie, für deren Funktionieren jüdische Kreditgeber unerlässlich waren und immer wieder auch bewusst angeworben wurden.

Spiegel der kosmopolitischen Bevölkerung

Im Alltag blieb die jüdische Minderheit aufs Ghetto beschränkt, das bis zum 17. Jahrhundert seine heutige Ausdehnung erfuhr. In sich war das Ghetto ein Spiegel der kosmopolitischen Stadtbevölkerung, lebten doch aschkenasische, sephardische und levantinische Juden eng nebeneinander und pflegten ihre religiösen Gebräuche in jeweils eigenen Synagogen. Auch die alltägliche Versorgung fand im Ghetto statt, wo Bäcker, Fleischer und Gemüsehändler ihre Läden hatten. Mit dem Campo inmitten der dichten Bebauung besaß das Ghetto einen Versammlungsplatz, ­einen öffentlichen Stadtraum. In der Ausstellung zeigen Pläne einzelner Häuserzeilen, wer wo wohnte und welchen Geschäften nachging.
Das Ghetto war nicht nur abgeteilt, sondern, wo es nicht ohnehin von Kanälen umgeben war, auch durch Pforten nachts verschlossen. Das entsprach der möglichst lückenlosen Überwachung, für die die Republik mit ihrer multinationalen Bevölkerung berühmt und berüchtigt war. 1797 ließ Napoleon nach der (kampflosen) Einnahme der Stadt die Tore niederreißen und die rechtlichen Beschränkungen – die umgekehrt die venezianischen Juden jahrhundertelang vor Übergriffen oder gar Pogromen bewahrt hatten – aufheben. Über die Baugeschichte hinaus entfaltet die Ausstellung ein kulturhistorisches Panorama bis in die Neuzeit hinein.
Auf dem berühmtesten Stadtplan, drei Jahrhunderte lang (!) in Gebrauch, fehlt allerdings das Ghetto: Es gab es noch nicht, als Jacopo de’ Barbari seinen wundervollen Vogelschauplan der gesamten Stadt im Epochenjahr 1500 vorlegte. Mit diesem Plan beginnt die lehrreiche Ausstellung im Dogenpalast. Genauer, als es de’ Barbari vor 500 Jahren gelang, war kein späterer Plan, bis sich das Ghetto zum touristischen Anziehungspunkt der Gegenwart wandelte.
Venedig, die Juden und Europa 1516-2016
Palazzo Ducale, San Marco,1, 30135 Venezia
www.veniceghetto500.org, palazzoducale.visitmuve.it
Bis 13. November
Der Katalog (Italiensch oder Englisch) kostet 70 Euro.

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