A Blessing in Disguise War and Town Planning in Europe 1940–1945
War and Town Planning in Europe 1940–1945
Text: Scheffler, Tanja, Dresden
A Blessing in Disguise War and Town Planning in Europe 1940–1945
War and Town Planning in Europe 1940–1945
Text: Scheffler, Tanja, Dresden
„A Blessing in Disguise“ – Eine Katastrophe, die von den Stadtplanern als Segen angesehen wurde. Der neue englischsprachige, von Jörn Düwel und Niels Gutschow herausgegebene Sammelband fokussiert die Planungseuphorie der letzten Kriegsjahre, auf den bereinigten Flächen eine von Grund auf neue Struktur, eine „Stadt der Zukunft“, errichten zu können. Dieses Thema ist seit langem en vogue: Bereits 1988 hat Gutschow zusammen mit Werner Durth im zweibändigen, noch in der Tradition der NS-Aufarbeitung stehenden Standardwerk „Träume in Trümmern“ deutsche Wiederaufbauplanungen und ihre spätere Umsetzung vorgestellt. Der schwergewichtige neue Band hat jedoch eine andere Blickrichtung: Er stellt einzelne, während des „Dritten Reiches“ entstandene Planungen in ihren internationalen Kontext und beleuchtet dabei dann anhand von länderübergreifenden Parallelentwicklungen in symbolträchtigen stark zerstörten Städten wie Rotterdam und Coventry die wichtigsten städtebaulichen Konzepte dieser Ära.
Zu diesem Zeitpunkt standen die althergebrachten Quartiere europaweit (von den Londoner Slums bis hin zu den Mietskasernen des „steinernen Berlin“) in der Kritik: wegen mangelnder Hygiene, ungesunden Lebensverhältnissen oder auch Verkehrsproblemen. In vielen Städten hatten die Planer seit langem großflächige Abrisse heruntergekommener (oft im Altstadtbereich gelegener) Problemviertel anvisiert, sie jedoch nicht umsetzen können. Sie verstanden den Bombenhagel als reinigendes Gewitter für einen planerischen Neuanfang. Dies belegen im Buch viele zeitgenössische Statements: In London wurden die Zerstörungen als willkommene Gelegenheit angesehen, endlich Ordnung ins überkommene Stadtgefüge zu bekommen. Der Präsident der Bostoner Society of Architects bedauerte parallel dazu 1944 im Zuge eines städtebaulichen Wettbewerbs, dass seine Stadt noch nicht unter Bombardements gelitten hätte, denn erst diese würden den Weg freimachen für radikale Veränderungen. Und wenn man dann beim Blick auf die dazugehörenden Pläne sowohl in London als auch Boston monumentale Wolkenkratzer im Stil der unter Stalin für Moskau geplanten „Sieben Schwestern“ erkennen kann, dann wird der damalige Zeitgeist eindrucksvoll wieder lebendig.
Auch wenn der preisintensive, hochwertig ausgestattete Band auf den ersten Blick sehr NS-lastig wirkt, seine große Stärke sind die vielen neuen Perspektiven auf das Thema durch internationale Fachleute sowie das hervorragende, bis ins Detail erkennbare Foto- und Planmaterial. Darunter die Skizzen von Le Corbusier für Saint-Dié (1945) sowie die auch als Covermotiv fungierenden Pläne von André Laborie für die Rekonstruktion der Altstadt von Gien (1941). Die von Dmitrij Chemlnizki ausgegrabenen Entwürfe für Stalingrad und Kiev sind wahre Kunstwerke: vor allem die Veduten und Perspektivskizzen von Georgiy Golt. David Kuchenbuch zeigt anhand von Planungen aus London, Hamburg und Stockholm die europaweite Adaption der ursprünglich aus England stammenden Idee locker verbundener Siedlungszellen: in der deutschen Variante als NSDAP-Ortsgruppen, in Schweden in Form von rund um Spielplätze, Jugend- und Gemeindezentren angeordneten Nachbarschaftsquartieren. Jean-Louis Cohen schneidet neben Le Corbusiers Vorstellungen zum städtebaulichen Luftschutz auch das heikle Thema der zweimal hintereinander (in beiden Weltkriegen) zerstörten nord-französischen Städte an. Jeffrey Diefendorfs ergänzende Ausführungen zur US‑amerikanischen Situation werden gewürzt durch die teilweise deftigen Ansichten des mittlerweile in Harvard lehrenden, früheren Berliner Stadtbaurats Martin Wagner, der sich als „Stadt-Doktor“ bereits radikal am „todkranken Patienten“ des Bostoner Großraums herumoperieren sah. Denn dabei stellt man fest, dass die zentralen stadtplanerischen Vorstellungen, wie die damals heiß ersehnte „Stadt der Zukunft“ aussehen sollte, scheinbar nicht nur in Europa erstaunlich ähnlich waren.
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