Bauten aus lebenden Bäumen
Geleitete Tanz-und Gerichtslinden
Text: Reimers, Brita
Bauten aus lebenden Bäumen
Geleitete Tanz-und Gerichtslinden
Text: Reimers, Brita
Bauten aus lebenden Bäumen – dieser Buchtitel, der ein Widerspruch in sich zu sein scheint, da Architektur auf Dauer zielt, während die Natur sich ständig verändert, verkündet keine neue ökologische Bauweise. Im Gegenteil, dieses Buch handelt von einer Tradition, deren Ursprünge in heidnische Baum- und Vegetationskulte zurück reichen. Die Rede ist von „geleiteten Linden“ oder „Stufenlinden“. Unter der Dorflinde versammelte sich die Gemeinschaft, hier saß man zu Gericht oder tanzte, tafelte und feierte – unter der Baumkrone oder in der Krone. Neben der geleiteten Dorflinde gibt es den Typus der geleiteten Kirchen-, Kloster-, Burg-, Schloss-, Schützen- und Gasthauslinde; ein einzigartiges Kulturgut im ehemals deutschsprachigen Raum von den Niederlanden bis nach Schlesien und Ostpreußen, vom Elsass, Baden und der Schweiz bis ins östliche Bayern.
Überrascht und fasziniert erfährt der Leser von dem großen gärtnerischen und baulichen Aufwand, der solche Linden zu repräsentativen Bauwerken von ungeheurer Vielfalt machte, die im Ortsensemble eine wesentliche Rolle spielen konnten.
Da Linden mit ihren duftenden Blüten und herzförmigen Blättern sehr alt werden und ihr Holz lind, also weich und geschmeidig ist, sind sie zum Leiten besonders geeignet. Die Äste wurden häufig auf mehreren Stufen zu waagerechten Ebenen gezogen und die Baumkronen zu sehr unterschiedlich geformten Laubenarchitekturen mit zumeist hohen geschlossenen Wänden mit Fenstern geschnitten.
Die baulichen Maßnahmen reichten von der einfachen Einfriedung der Dorflinde über Lindenbauten bis zu spektakulären Lindenanlagen. Die Ummauerungen des Baumstammes und des gesamten Platzes unter der Linde zeigen in Größe, Form und Material eine Vielfalt architektonischer Lösungen. Beim Stützapparat unter und in der Linde reicht die Spannweite von einfachen hölzernen Pfosten-Balken-Konstruktionen bis zu schön gearbeiteten und kostspieligen Holz- oder Steinsäulen. Die Einbauten bestanden häufig aus einfachen temporär oder dauerhaft eingezogenen Bretterböden mit angelegten Leitern oder Treppen, es gibt aber auch Beispiele mit opulenten Pavillons in luftiger Höhe, bei denen die Linde nur noch schmückendes Beiwerk ist.
Für das neue Lindenbaum-Museum in Neudrossenfeld in Franken (Bauwelt 42.2014) dokumentierte der Bauhistoriker Rainer Graefe mit seinen Innsbrucker Studenten noch existierende Exemplare. Auf der Grundlage verformungsgerechter Aufmaße bauten sie Modelle im Maßstab 1:20. Zusammen mit historischen und aktuellen Abbildungen werden diese Bauaufnahmen und Modelle im monographisch angelegten zweiten Teil des Katalogs vorgestellt. Im ebenfalls reich bebilderten ersten Teil beschäftigt sich der Autor unter Heranziehung von Dichtung, Malerei und Fotografie mit frühen Zeugnissen und mit dem Reichtum gärtnerischer und baulicher Aspekte geleiteter Linden.
Ein vorzüglicher Katalog und Reisebegleiter, ganz gewiss. Vor allem aber auch eine Anregung, über die Bedeutung, Funktion und Gestaltung öffentlicher Räume heute nachzudenken, und über das künftige Verhältnis von Architektur und Natur. Seit unsere Gewissheit, die Herren der Welt zu sein, ins Wanken geraten ist, müssen auch Architektur und Landschaftsarchitektur nach neuen Lösungen suchen. Eine Linde werde durch schöne Stützsäulen aus Stein als bedeutungsvolles Architektur-Element zur Baumarchitektur aufgewertet, heißt es im Buch in vertrauter Manier. Könnte die Linde in Neuenstadt am Kocher eine neue Richtung weisen? Ihre 98 Stützpfeiler wurden nicht nach einem vorgegebenen regelmäßigen Plan aufgestellt, sondern gemäß den wachsenden Aststrukturen des Baumes. Mensch und Natur kommunizieren hier miteinander. Aber das ist ein neues Thema und sprengt den Rahmen dieser inspirierenden „Arbeitsblätter zur Baugeschichte“, denen gemäß dem klugen Konzept des Geymüller Verlags eine Monografie folgen wird, in der dann wohl auch alle Abbildungen der Modelle gleich groß und damit gut vergleichbar zur Verfügung stehen.
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