Linkes Ufer, rechtes Ufer
In westlichen Fachkreisen gilt die erste städtebauliche Konzeption für Magnitogorsk bis heute als visionär, sie bündelte viele wesentliche Entwurfsansätze der Zeit.
Text: Scheffler, Tanja, Dresden
Linkes Ufer, rechtes Ufer
In westlichen Fachkreisen gilt die erste städtebauliche Konzeption für Magnitogorsk bis heute als visionär, sie bündelte viele wesentliche Entwurfsansätze der Zeit.
Text: Scheffler, Tanja, Dresden
Die in der unwirtlichen Steppe des Urals errichtete Stadt Magnitogorsk gehörte zu den zentralen Projekten der frühen Sowjetunion – Stalin glaubte an die Macht der Schwerindustrie. Ernst Mays kurzes berufliches Intermezzo vor Ort (1930–33) als Leiter einer rund 800 Mitarbeiter umfassenden Behörde, die für die Errichtung der Arbeiterwohnungen der gesamten Region verantwortlich war, wurde in den letzten Jahren bereits in Thomas Flierls kommentierter Quellenedition „Standardstädte“ (Bauwelt 36/2012) thematisiert. Trotzdem ist die Mitwirkung ausländischer Spezialisten bei der Entstehung dieser komplett auf die Stahlerzeugung zugeschnittenen Industriemetropole (Stadtbawelt 48/1995) bislang nur ansatzweise erforscht.
Der jetzt erschiene Band steuert zu diesem Thema neue Facetten aus verschiedenen Blickwinkeln bei: In westlichen Fachkreisen gilt die erste städtebauliche Konzeption für Magnitogorsk bis heute als visionär, sie bündelte viele wesentliche Entwurfsansätze der Zeit. Die beiden Autoren des zentralen Kapitels, Mark Meerovič, Irkutsk, und Evgenija Konyševa, Čeljabinsk, erzeugen anhand von lokalen Archivunterlagen jedoch das beklemmende Bild einer komplett in die staatliche Industrialisierungskampagne eingebundenen, lediglich untergeordnete Folgeeinrichtungen konzipierenden Auftragsplanung. Dabei betonen sie den nur geringen Einfluss der ausländischen Fachkräfte auf grundlegende Entscheidungen: Die ersten funktionalistischen, auf eine fußläufige Erschließung setzenden, u.a. von Ernst May, Mart Stam und Walter Schwagenscheidt erstellten Masterpläne sahen die Arbeitersiedlungen noch auf der linken Uferseite des Urals vor. Im Zuge des massiven Ausbaus Magnitogorsks schrumpfte der zwischen den umliegenden Hügelketten und dem Fluss direkt neben den Industrieanlagen vorhandene Platz immer mehr zusammen, sodass sich die zuständigen Sowjetbehörden nach nur ansatzweiser Umsetzung der ersten Pläne für eine weitere Stadtentwicklung auf dem anderen Flussufer entschieden: nach den neuen gestalterischen Prämissen des stalinistischen Städtebaus. Dabei fokussieren Meerovič und Konyševa vor allem auf die verschiedenen Planungsabläufe und Handlungsspielräume der einzelnen Akteure innerhalb des politischen Systems, bieten gleichzeitig aber auch interessante Einblicke in die Diskussionen über eine neue „sozialistische Lebensweise“, die „die Emanzipation der Frau statt ihre Knechtung in der Familie und in der Küche“ unterstützen sollte.
Thomas Flierls Text bettet dies gekonnt in die vielschichtige Rezeptionsgeschichte dieser Ära ein. Er zeigt, dass die frühere Tätigkeit europäischer Spezialisten in Russland während des Kalten Krieges in Ost und West lange Zeit totgeschwiegen wurde. Dabei reißt er auch das heikle Thema der (eher einseitigen) ostdeutschen Aufarbeitung an, bei der die später in leitenden Positionen tätigen kommunistischen Mitarbeiter Mays (wie Hans Schmidt und Kurt Liebknecht) ihre unangenehmen Erfahrungen im sowjetischen Exil tabuisierten, parallel dazu aber, mit der offiziellen Rehabilitierung des Bauhauses in der DDR, ab den 70er Jahren die „progressiven“ politischen und ästhetischen Aspekte der internationalen Moderne stark betont wurden. Das vielschichtige Bild wird ergänzt durch Erläuterungs- und Reiseberichte der beteiligten deutschen Planer, historische Pläne sowie zeitgenössische und aktuelle Fotos.
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