Torre David
Informal Vertical Communities
Text: Geipel, Jan, Kopenhagen
Torre David
Informal Vertical Communities
Text: Geipel, Jan, Kopenhagen
Heure bleue. 28. Stockwerk. Eine Dachterrasse. Freier Blick auf das irisierende Lichtermeer. Ein Gewichtheber trainiert im Freien, ein junger Vater lässt seine kleine Tochter zur ihrer Freude über seinem Kopf und über den Dächern der Metropole schweben. Die Stimmung – konzentriert hier, ausgelassenen da; der Blick – unverstellt; die Höhe – schwindelerregend.
Es gibt keine Fassade, kein Geländer. Und eigentlich sollten hier die Hubschrauber von Finanzakteuren landen, auf dem Dach des Centro Financiero Confinanzas, einem der höchsten Wolkenkratzer Südamerikas, dem zweithöchsten Haus der Fünfmillionenstadt Caracas. Der knapp 200 Meter hohe Turm mit 45 Etagen entstand ab 1990 im Auftrag des Investors David Brillembourg als luxuriöse Finanzdrehscheibe, mit Großbank, Büros und Hotel. 1993 starb Brillembourg, ein Jahr später kollabierten im Sog der Finanzkrise Venezuelas Banken. Die Bauarbeiten am vom Staat übernommenen Torre David wurden eingestellt. 14 Jahre geschah nichts. 2007 besetzen die ersten Bewohner aus den Armenvierteln unter der Leitung des Pastoren Alexander Daza den Rohbau. Ohne behördliche Genehmigung, doch mit genau choreographierter Vorgangsweise, demokratischer Organisation, stockwerksweise. Mit einem Minimum an Mitteln und einem Maximum an Improvisationstalent und Phantasie entstand und entsteht hier ein faszinierend polymorphes urbanes Laboratorium auf bisher 28 Etagen.
Weltweit leben 1 Milliarde Menschen in Slums. In Caracas wohnen ca. 60 Prozent in solchen Barrios. Auch das Squatting des Torre Davis bezeichnen manche als Slum. Hier leben 750 Familien, mehr als 3000 Personen. Ob dies ein Vertical Slum oder etwas ganz anderes, vielleicht für andere Orte modellhaftes ist, ist Thema dieses Buches. Alfredo Brillembourg, Hubert Klumpner und ihr in Caracas und an der ETH Zürich positionierter Urban Think Tank ‚U-TT‘ haben mit dem in London lebenden Kurator Justin McGuirk und dem holländischen Fotografen Iwan Baan die Transformation ein Jahr lang begleitet, analysiert, dokumentiert. Baans Fotografien transportieren ein Spektrum öffentlicher wie intimer Szenen und lassen ahnen, wie schwer es war, das Vertrauen der zwar demokratisch organisierten, nach außen jedoch strikt regulierten Gated Gommunity zu gewinnen.
Sorgsam und frei von sozialromantischem Pathos werden in acht Kapiteln, in denen immer wieder auch die Bewohner zu Wort kommen, die urbanen und funktionalen Elemente analysiert, in ihrer Komplexität zueinander geordnet und textlich, grafisch und fotografisch herausragend illustriert. Der soziale Mix und architektonische Facettenreichtum lassen die standardisierten Regularien des sozialen Wohnungsbau als Makulatur erscheinen: Singles, junge Paare, Brüder, klassische Familien, gleichgeschlechtliche Wohngemeinschaften aus drei Generationen, Wanderarbeiter, Patchwork-Familien, darunter inzwischen nicht wenige aus der Mittelschicht. Fast jedes Stockwerk hat einen kleinen Laden, es gibt Cafés, Schneider, Frisöre, Kindertagesstädten, eine Kirche und ein Sportteam. Bestehende Infrastrukturen wurden adaptiert, neue Wanddurchbrüche etabliert, die nie fertiggestellten Aufzüge funktional kompensiert. Ein Nachbarturm mit Anbindung, ursprünglich als Parkgarage gedacht, dient als vertikale Schnellverbindung. Eigene Taxis bringen die Bewohner und ihre Lasten auf Höhe.
Die Ausgangssituation in Caracas – Stichwort Leerstand und Shrinking Cities – repräsentiert keinen Einzelfall. In den neunziger Jahren machte die in Teilaspekten ähnliche City of Darkness, Kowloon Walled City, in Hong Kong, vergleichbare Schlagzeilen. Die Stadt der Dunkelheit mit ihren 35.000 Menschen gibt es inzwischen nicht mehr. Auch beim Torre David bleiben Legalisierung des status quo wie conditio futura ungewiss. Ganz sicher aber liefern Projekt und die Publikation essentielle Fragestellungen, Inspiration und Denkanstöße zur Neuorganisation heutiger wie künftiger sozialer Gemeinschaft. Auf der Architektur-Biennale in Venedig wurde die Präsentation „Torre David/Gran Horizonte“ mit dem goldenen Löwen ausgezeichnet. Für Architekten, Designer, Stadtplaner, Investoren dürfte das Buch – auch weil sie in der Transformation des Torre David kaum eine Rolle spielen – eine vielleicht sogar verpflichtende Lektüre sein.
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