Aneignung
Nach welchen Prinzipien nimmt man Häuser in Beschlag? Nach welchen „die Straße“? Zwei Ausstellungen in Rotterdam widmen sich informellen Phänomenen des Städtischen
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Aneignung
Nach welchen Prinzipien nimmt man Häuser in Beschlag? Nach welchen „die Straße“? Zwei Ausstellungen in Rotterdam widmen sich informellen Phänomenen des Städtischen
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Das Nieuwe Instituut, wie die Einrichtung mehr nichts- als vielsagend heißt, bildet den geografischen Endpunkt der Rotterdamer Kunst- und Museumsmeile. Schräg gegenüber liegt der Museumspark, hoch ragt der backsteinerne Turm des Museums Boijmans Van Beuningen auf. Weiter in Richtung Stadt schließt sich hinter einer breiten Querstraße ein Stück altes Rotterdam an, die Witte de Withstraat mit ihren zahlreichen Kneipen, Galerien und Kulturinstitutionen. Hier liegt das „Tent“, seinem Namen zum Trotz keine mobile Einrichtung, sondern eher der Untermieter der tonangebenden Gegenwartskunsthalle Witte de With.
Das Tent und das Nieuwe Instituut zeigen derzeit Ausstellungen oder besser Veranstaltungen, die um dasselbe Thema kreisen: die Aneignung von Raum, sei er städtisch-öffentlich – Thema beim Tent – oder privat-wohnlich – im Nieuwe Instituut. Nun ist die Aneignung, „Appropriation“, die Platz- und vor allem Hausbesetzung nichts Neues und schon gar nichts kulturell Unbearbeitetes mehr. Längst gibt es ganze Handbücher für „Squatter“, wie Haus- und Wohnungsbeset-zer im angelsächsischen Sprachraum und daher auch in den anglophonen Niederlanden heißen.
Im Nieuwe Instituut ist die Ausstellung mit „Architektur der Aneignung“ überschrieben. Wir erinnern uns, dass das Nieuwe Instituut im Kern das bis Ende 2012 bestehende Nederlands Architektuurinstituut (NAi) umschließt, das eine kaum zu überblickende Reihe gehaltvoller Architekturausstellungen veranstaltet hat. Diese Zeit ging zu Ende mit der Umbenennung des Hauses, die durch die Einbeziehung zweier weiterer Institutionen vordergründig ein geweitetes Themenspektrum signalisieren sollte, doch nur zur Unsicherheit über die hier tatsächlich vorhandene Kernkompetenz geführt hat.
Im dritten Obergeschoss verlieren sich nur wenige Besucher dieses architektonisch doch durchaus attraktiven und mit Café und Terrasse einladenden Hauses nach Entwurf von Jo Coenen. Es gibt hier oben zurzeit auch nicht viel an Architektur zu sehen, dafür umso mehr an die Wände geheftete Fotokopien und manche Fotografie; viel Text insgesamt, der die soziale Situation beschreibt, unter der Hausbesetzungen entstehen. Die Niederlande haben darin eine lange Tradition, die Hand in Hand geht mit dem gesellschaftlichen Protest, wie ihn einst die auch so bezeichneten „Provos“ zur Kunstform erhoben. Amsterdam, nicht Rotterdam war stets das Zentrum von Protesten, die sich insbesondere an großflächigen Planungen entzündeten wie an dem umstrittenen Bau von U-Bahn und Opernhaus.
Die Ausstellung will Hausbesetzung eben nicht als bloße Inbesitznahme, sondern als Architek-tur „von unten“ verstanden wissen. Dass Squatter die zumeist dem Verfall gezielt preisgegebenen Gebäude zuallererst herrichten und bewohnbar machen, wird zu Recht betont. „Das räumliche Erbe der Hausbesetzerbewegung umfasst zahllose Baudenkmäler und Nachbarschaften, die durch ihre Eingriffe vor dem Abriss bewahrt wurden“, heißt es denn auch im zusammenfassenden Ausstellungstext (ein gesonderter Katalog oder Begleitband liegt leider nicht vor).
Von da aus erscheint die Stadt denn auch weniger als Ergebnis exakter Planung, deren Resultate auf Jahrzehnte hinaus fixiert bleiben, denn als Bühne punktueller Interventionen. Die Infrastruktur der Stadt ist in ständigem Fluss: „Systeme können angepasst werden, Netzwerke neu verschaltet und Gebäude neu definiert“, heißt es an anderer Stelle. Doch inwieweit solche generalisierenden Aussagen mit willkürlichen Fallbeispielen deutlich gemacht und verifiziert werden können, ist die Frage. Die Ausstellung bleibt in dem für das Thema typischen Sammelsurium von Einzelbeispielen und übergreifenden Aussagen von hohem theoretischen Anspruch befangen.
Anders geht es im „Tent“ zu. Dort steht allerdings auch nicht Architektur im Mittelpunkt, sondern das Tun selbst. Der Titel lautet „Blaupause: Wessen städtische Aneignung ist das?“. Die Räume sind mit street art gefüllt, es laufen Videos subjektiv dokumentarischen Charakters. Vor allem bietet das Tent eine Bühne für Diskussionen, Performances, für eine – emphatisch gesprochen – Gegenöffentlichkeit. Hier geht es darum, die multikulturelle, multiethnische Stadtgesellschaft, die in vielen Quartieren Rotterdams gelebte Wirklichkeit ist, in ihrer urba-nen Qualität zu fassen. Die „Straße“ ist der Ausgangspunkt aller Aktivitäten, die Straße verstanden als Bühne unterschiedlicher Lebensweisen und -wirklichkeiten.
Viel stärker als architektonische Begriffe – wenn überhaupt – sind hier solche aus der Jugend- und Gegenkultur, wie der schwer fassbare der „credibility“. Auf „der“ Straße geht es ums Überleben ebenso wie um Selbstbehauptung. Es genügt, in Rotterdam eine Weile lang mit der Straßenbahn in und durch die äußeren Wohnquartiere zu fahren, um zumindest einen Eindruck von der sich nach eigenen Regeln bildenden und verändernden Struktur des Städtischen zu gewinnen.
Die Ausstellung des Nieuwe Instituut hat dazu nicht viel mehr beizutragen als die detailreiche Darstellung von Einzelfällen, als Forderungen, Statements, Dokumentationen. Im Tent ist zumindest Leben. Man kann es als Strategie der Befriedung durch geplante Freiräume abtun. In beiden Veranstaltungen wird deutlich, dass die Architektur, dass das planvolle Realisieren von Gebautem in den Hintergrund tritt, wenn die Verhältnisse so sind wie in jenen Quartieren, in denen Menschen durch den puren Zufall ihrer Einzelschicksale leben und miteinander auskommen müssen.
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