Graue Architektur
Bauen im Westdeutschland der Nachkriegszeit
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Graue Architektur
Bauen im Westdeutschland der Nachkriegszeit
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Das Haus Viehofer Straße 28 in Essen hat nichts, woran der Blick des Passanten hängen bleibt. Ein Nachkriegsbau, wie er in jeder altbundesrepublikanischen Fußgängerzone stehen könnte, mit einem brachialen Ladeneinbau und einer Thermohaut, unter der etwaige bauzeitliche Oberflächenqualitäten verschwunden sind.
Um eben dieses Haus geht es in dem Buch von Benedikt Boucsein – und um noch mehr; um das, was dieses Haus verkörpert, und darum, welche architektonischen und gesellschaftlichen Traditionslinien sich von hier aus verfolgen lassen, letztendlich also um die Alltagsarchitektur des westdeutschen Wiederaufbaus. „Graue Architektur“, nennt Boucsein sie, und meint damit nicht nur ihre Farbe.
Um den Gegenstand der Untersuchung deutlich hervortreten zu lassen, ist der Hintergrund facettenreich ausgemalt. Der Autor macht alles richtig – das der Leser ihn am Ende dennoch scheitern sieht, liegt in der Natur der Sache begründet. Boucsein, Architekt in Zürich, Lehrender an der dortigen ETH und Herausgeber der Architekturzeitschrift „Camenzind“, beschreibt die Entwicklung der Stadt Essen vom unbedeutenden Ackerbürgerstädtchen zur Industriemetropole im 19. Jahrhundert und das sich in dieser so dynamischen Verwandlung herausbildende Bau- und Architekturverständnis vom „Haus als Maschine“; er bilanziert die Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg und die gestalterische Orientierungslosigkeit danach, blickt auf den Werdegang des Baumeisters Walter Ehrecke und dessen Entwurfswerkzeuge Addition, Referenzialität und Kontextualität, berücksichtigt die Arbeitsweise der Stadtplanungsämter in den 50er Jahren und thematisiert das Verhältnis von Modus und Moderne. Sein Text ist mit zahlreichen historischen wie aktuellen Fotos von Stadtbildern aus „Grauer Architektur“ bebildert, Und mit vielen Zeichnungen versucht er, Entwurfsmethoden wie städtebauliche Parameter abzubilden.
Trotz diesem Aufwand muss Boucsein einräumen, „dass sich der Gegenstand der Betrachtung in letzter Instanz entzieht, weil er von den entsprechenden Akteuren nie ausformuliert wurde ... In gewisser Hinsicht bleibt die Graue Architektur daher auch am Ende dieser Arbeit so ,stumm‘, wie sie es schon von Beginn an war“. Und so legt der Leser, bei allem Gewinn, den die Lektüre dieser ungewöhnliche Betrachtung bereithält, das Buch am Ende mit einem gewissen Zweifel aus der Hand, ob der Versuch, die Methode der akademischen Architekturgeschichtsschreibung anzuwenden auf ein Bauen, das an eben dieser Geschichtsschreibung so vollkommen desinteressiert war, letztendlich ein angemessenes Verfahren darstellt.
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