Bauwelt

Eines von Hunderten

Text: Mausbach, Leo, Warschau

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Ein Wald aus knapp 300 Kreuzen ist den einzelnen polnischen Gemeinden gewidmet, die unter dem Nationalsozialismus gelitten haben. An der Mauer sind die Namen der Dörfer angebracht.
Foto: Marcin Czechowicz

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Ein Wald aus knapp 300 Kreuzen ist den einzelnen polnischen Gemeinden gewidmet, die unter dem Nationalsozialismus gelitten haben. An der Mauer sind die Namen der Dörfer angebracht.

Foto: Marcin Czechowicz


Eines von Hunderten

Text: Mausbach, Leo, Warschau

In der Nacht vom 11. auf den 12. Juli 1943 riegelte die Ordnungspolizei der deutschen Besatzung das polnische Dorf Michniów ab. Innerhalb der folgenden zwei Tage ermordeten die Besatzer über zweihundert Bewohner. Männer, Frauen und Kinder wurden entweder erschossen oder in Scheunen getrieben, wo sie bei lebendigem Leibe verbrannten, so auch das jüngste Opfer, der neun Tage alte Stefan Dąbrowa. Die verbliebenen Dorfbewohner wurden nach Auschwitz oder zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert. Michniów hörte auf zu existieren. Als mörderische Vergeltung für Sabotageaktionen sollten diese „Pazifizierungen“ die Unterstützung für den polnischen Widerstand in der Landbevölkerung brechen.
Die Geschichte des Dorfs Michniów steht stellvertretend für Hunderte polnischer Ortschaften, die seit 1939 im Zuge des Naziterrors auf diese Weise ausgelöscht wurden. In diesem Jahr am 12. Juli, der in Polen zum offiziellen Gedenktag für diese Dörfer geworden ist, wurde in Michniów of­fiziell das „Mausoleum zum Gedenken an das Martyrium der polnischen Landbevölkerung“ eingeweiht. Aus der Opferperspektive würdigt die Gedenk- und Bildungsstätte mit einer berührenden Ausstellung das tragische Schicksal polnischer Dörfer während des Zweiten Weltkriegs. Neben der Besatzung durch Nazideutschland werden auch die sowjetische Besatzung Ostpolens und ethnische Säuberungen durch ukrainische Par­tisanen thematisiert. Das Leid der ländlichen Bevölkerung spielte im polnischen Gedenken an den Zweiten Weltkrieg bisher eine nachgeordnete Rolle, etwa gegenüber der völligen Zerstörung Warschaus nach zwei gescheiterten Aufständen. Mit dem neuen Bildungsort in Michniów soll die­-se Perspektive nun stärker Eingang in die polnische Erinnerungskultur finden. Der Gedenkkomplex ist das neueste Beispiel bedeutender Erinnerungsarchitektur in Polen. Zu dieser zählen etwa das Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau, das Europäische Zentrum der Solidarność in Danzig oder auch das Museum des Zweiten Weltkriegs, ebenfalls in Danzig (Bauwelt 11.2017). Die an diesen Orten spürbare, große Bedeutung, die der Geschichte in Polen beigemessen wird, kann auf den ersten Blick rückwärtsgewandt wirken. In Wirklichkeit ist die oft schwierige gesellschaftliche Aushandlung einer gemeinsamen Erinnerungskultur und die Schaffung bleibender, öffentlicher Bekenntnisse durch Denk- oder Mahnmäler im Kern zukunftsorientiert. Indem Gedenkorte auf histo­rische Erfahrungen oder nachahmenswerte Taten verweisen, sind sie Orientierungsmarken für das Selbstverständnis von Gesellschaften. Angesichts der neugewonnenen Unabhängigkeit und der gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Umbrüche wurde es für die jungen Demokratien in Ostmittel- und Osteuropa in den vergangenen Jahrzehnten zur Notwendigkeit und zur Herausforderung, eine der neuen Realität gemäßen Iden­tität nicht nur zu finden, sondern auch zu festigen. Zuletzt begann die Ukraine damit, Gedenkorte für die Helden ihrer freiheitlichen „Revolution der Würde“ auf dem Maidan zu schaffen und damit Zeichen für ein neues ukrainisches Selbstbild zu setzen (Bauwelt 10.2018, 18.2019). In Polen wurde der Streit über das richtige Geschichtsverständnis in den vergangenen Jahren oft entlang der tiefen gesellschaftlichen Spaltungslinien geführt. Die Gedenk- und Bildungsstätte in Michniów ist kein solcher Fall. Die Erinnerung an die Opfer des Zweiten Weltkriegs und den Widerstand gegen die deutsche Besatzung eint Polen, da fast jede Familie Angehörige verloren hat. Gemessen an der Bevölkerung war die Zahl der Opfer in keinem besetzten Land höher.

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