Generation Unabhängigkeit
Sie sind Architekten, Stadtplaner, Verlegerinnen. In der Regierungszeit von Leonid Breschnjew oder der Glasnost-Zeit geboren, kennen sie die Sowjetunion nur aus der Kindheit oder Erzählungen. Ob Architekturfestival, geradlinige Entwürfe oder Co-Living-Konzepte: Ihre Perspektive ist global, und ihre Ideen sorgen für Aufsehen – nicht nur in der Ukraine. Sieben Porträts junger ukrainischer Vordenkerinnen und Macher.
Text: Knoch, Peter; Rosen, Björn
Generation Unabhängigkeit
Sie sind Architekten, Stadtplaner, Verlegerinnen. In der Regierungszeit von Leonid Breschnjew oder der Glasnost-Zeit geboren, kennen sie die Sowjetunion nur aus der Kindheit oder Erzählungen. Ob Architekturfestival, geradlinige Entwürfe oder Co-Living-Konzepte: Ihre Perspektive ist global, und ihre Ideen sorgen für Aufsehen – nicht nur in der Ukraine. Sieben Porträts junger ukrainischer Vordenkerinnen und Macher.
Text: Knoch, Peter; Rosen, Björn
Oleg Drozdov schloss im Jahr 1990 sein Architekturstudium am Civil Engineering Institute in Kharkiv ab. Die schwierigen Neunzigerjahre verbrachte er zuerst als Architekt in Sumy, später als bildender Künstler in Prag. Erst später, nach seiner Rückkehr nach Charkiw, begann er wieder als Architekt zu arbeiten. Heute leitet er das Büro Drozdov&Partners, das mit geradlinigen, modernen und deshalb immer wieder umstrittenen Projekten auf sich aufmerksam gemacht hat. Im Jahr 2017 kam die Gründung und Leitung der Kharkiv School of Architecture (KHSA), der ersten und bisher einzigen privaten Architekturhochschule der Ukraine, als Aufgabe dazu. In beiden Bereichen ist ihm das Aufweichen von Grenzen wichtig – zwischen Innen- und Außenraum, Haus und Garten, privatem und öffentlichem Raum und nicht zuletzt zwischen kommerzieller und öffentlicher Sphäre. „Ich mag es, wenn Architektur nicht nur ein Ort für das Anhäufen von Dingen ist, sondern ein Werkzeug, um zu lernen – und das Leben zu genießen“, betont Oleg Drozdov im Gespräch.
Julian Chaplinsky, Jahrgang 1982, gehört zu den Vordenkern einer neuen Stadtplanung in der Ukraine. Nach dem Ende der Sowjetunion sei diese noch lange dem Muster aus realsozialistischen Zeiten gefolgt, obwohl sich die Besitzverhältnisse von Land und Wohnraum radikal verändert hatten, sagt er. Chaplinsky will weg vom Generalplan, den eine schwache Stadtverwaltung nur unzureichend umsetzen kann: Stattdessen soll es staatliche Regulierung geben, bei gleichzeitiger Motivation für private Projektgesellschaften, nicht nur Profit zu schlagen, sondern einen Beitrag zur jeweiligen Stadtkultur zu leisten. Geboren und aufgewachsen im westukrainischen Lwiw, studierte Chaplinsky Architektur an der dortigen Nationalen Polytechnischen Universität, einer der bedeutendsten technischen Hochschulen des Landes. Danach gründete er zunächst ein eigenes Architekturbüro. Ab 2015 war er als Stadtarchitekt von Lwiw tätig – eine Zeit, in der er eng mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (giz) kooperierte und sich etwa mit Kollegen aus Dresden und Leipzig austauschte. Nach dem Amtsantritt von Präsident Wolodymyr Selenskyj wechselte Chaplinsky 2020 in die Hauptstadt Kiew und übte dort im Ministerium für Entwicklung von Gemeinden und Territorien ein halbes Jahr das Amt des Stellvertretenden Ministers mit Schwerpunkt europäische Integration aus. Heute ist er Teil des Büros AVR Development in seiner Heimatstadt – und darüber hinaus bekannt für seinen kritischen Videoblog, der über 75.000 Abonnenten auf Youtube zählt.
Anton Olyinyk ist ein Architekt aus Kyjiw. Er leitet das Büro BURØ, das sich aus drei Gruppen zusammensetzt: BURØ architects, BURØ design und BURØ visuals. Dabei geht es thematisch um Architektur und Stadtplanung, Innenausbau, Außenanlagen und Visualisierungen. „Wir glauben, dass in einer sich verändernden Welt die Qualität des Designs von größter Bedeutung ist. Wir überdenken ständig die Vergangenheit, einschließlich des sowjetischen Erbes, um eine neue Tradition zu schaffen, die auf kritischem Denken und globaler Erfahrung basiert.“ BURØ demonstrieren dies auch, an kleinen Interventionen ebenso wie an großen städtebaulichen Projekten. Seit 2017 ist Anton Olyinyk zudem Tutor an der Kharkiv School of Architecture und kann seine Erfahrungen aus über zehn Jahren Planungserfahrung an Studierende weitergeben.
Dana Pavlychko Ihr Verlag Osnovy ist die wahrscheinlich wichtigste Adresse für Bücher über Architektur, Fotografie und Design in der Ukraine: Dana Pavlychko, 1987 in Kyjiw geboren, studierte in Brüssel und London Politik, Wirtschaft und internationale Beziehungen – und wollte eigentlich Beamtin werden. Stattdessen übernahm sie nach ihrer Rückkehr in die Ukraine das 1991 von den Eltern gegründete Unternehmen und krempelte es um. Ursprünglich hatte Osnovy (dt.: Grundlagen) Klassiker wie Plato und Nietzsche im Programm, nun schuf Pavlychko eine Reihe unkonventioneller, englischsprachiger Reiseführer (Awesome), die mit über 60.000 verkauften Exemplaren zum Bestseller avancierte. Kurz vor dem Krieg wurde sogar ein Konzeptbuchladen, der zugleich Bar und Café war, im Zentrum von Kyjiw eröffnet. Im Frühjahr 2022 floh Pavlychko mit ihrem Mann, einem Dokumentarfilmer, und den drei Kindern nach Deutschland. Der Verlag mit seinen zwanzig Mitarbeitern hat nach einer Pause die Arbeit wieder aufgenommen. Pavlychko hat sich für den Moment jedoch aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen: Seit Oktober ist sie Geschäftsführerin einer Stiftung in der Schweiz.
Lena Rantsevich Die aus Belarus stammende Lena Rantsevich gehört zu den Vordenkern neuer Formen des Wohnens und Zusammenlebens in der Ukraine: Mit ihrem Mann Andrei baute sie in Irpin, nordwestlich von Kyjiw, ein Co-Living-Projekt auf. Mehr als zehn Jahre brauchte es, das minimalistische gestaltete Haus mit seinen 560 Quadratmetern Wirklichkeit werden zu lassen. „Ohne Kredit, ohne Sugar Daddy“, sagt Rantsevich. Zwölf der 14 Studios – alle 30 Quadratmeter klein – wurden lang-, aber auch kurzfristig vermietet. Die unterschiedlichen Bewohner des Hauses konnten gemeinsame Bereiche wie eine Bibliothek, eine Sitzecke, den Garten und Sportanlagen nutzen. Lena Rantsevich, geboren 1976, studierte Linguistik in Minsk und Marketing Strategy Kyjiw. Noch vor Beginn des Krieges floh sie mit ihrer Tochter und den Eltern ins Ausland, sie lebt nun in London, ihr Mann konnte nachkommen. Das Co-Living-House (Stockholm Studios) ist durch den Krieg schwer beschädigt worden. Doch Rantsevich, die sich derzeit mit dem Thema Blockchain beschäftigt, ist schon dabei, neue, globale Co-Living-Konzepte zu entwickeln.
Anastasiia Stryshevska hat in Kyjiw an der Hochschule für Bauwesen und Architektur und am Mailänder Politecnico studiert. Anschließend begann sie im Büro Drozdov&Partners als Architektin zu arbeiten, bevor sie im Jahr 2016 gemeinsam mit Artem Dodonov das Büro AER in Kyjiw gründete. Im Moment ist sie intensiv für die UNHCC (UN Refugee Agency) in Kyjiw tätig. Der Schwerpunkt der realisierten Projekte von AER liegt in Außenanlagen- und Landschaftsplanung. Dabei geht das Büro sehr integrativ vor: der Abstimmungsprozess mit allen Beteiligten stellt ein wesentliches Element des Entwurfsprozesses dar – das hat es in dieser Tiefe in ukrainischen Projekten vorher so nicht gegeben. Das heißt aber nicht, dass bei Gestaltung und Materialwahl Kompromisse gemacht werden. Die Neufassungen einer Bastion in Kyjiw ist für den Mies van der Rohe Award (EU Prize for Contemporary Architecture) nominiert worden.
Viktor Zotov ist Architekt und Stadtplaner. Er hat an der Hochschule für Bauwesen und Architektur in Charkiw studiert. Seit 2004 leitet er das Büro ZOTOV&CO in Kyjiw, ein junges Büro (Durchschnittsalter 28 Jahre) mit rund 30 Mitarbeitenden, das – vom Interieur über Einzelgebäude bis hin zu städtebaulichen Entwicklungen – fein durchgearbeitete und ausbalancierte Entwürfe erarbeitet. Viktor Zotov ist außerdem Initiator der Fortbildungsplattform CANactions und des internationalen CANactions-Architekturfestivals, das seit 2008 jährlich stattfindet. Im Jahr 2015 gründete er die CANactions School, eine Bildungsplattform mit Büros in Kyjiw und Amsterdam, die interdisziplinäre Post-graduate-Programme anbietet. Thematisch geht es dabei um stadtplanerische Studien, urbane Transformationen und soziale Stadtentwicklungsstrategien. Zur ukrainischen Ausgabe der Publikation „Alle wollen wohnen“ (2020) steuerte Zotov das Vorwort bei. Er sagt: „Was das Wichtigste in der Architektur ist? Freiheit steht höher als alles andere“.
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