Mailänder Melange
Der nach der Pandemie erstmals wieder im April eingerichtete Salone Internazionale del Mobile war durchweg geerdet. Die vorgestellten Objekte fußten auf Bekanntem oder variierten Qualitäten, was in der Wirtschaftsflaute scheinbar Sicherheit verspricht.
Text: Kasiske, Michael, Berlin
Mailänder Melange
Der nach der Pandemie erstmals wieder im April eingerichtete Salone Internazionale del Mobile war durchweg geerdet. Die vorgestellten Objekte fußten auf Bekanntem oder variierten Qualitäten, was in der Wirtschaftsflaute scheinbar Sicherheit verspricht.
Text: Kasiske, Michael, Berlin
Auch wortwörtlich blieb die Messe auf der Erde. Wegen des Ukraine-Krieges war das Ausbleiben der russischen Kundschaft für Stilmöbel absehbar, so dass die Sektion vollständig entfiel. Die somit nicht mehr erforderlichen oberen Ausstellungshallen waren Anlass für den Salone, die Lichtbiennale Euroluce großzügig zu gestalten – ein Versuch, in einer „Stadt der Lichter“ den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, was sich zukünftig auf alle Hallen ausweiten könnte.
Im Sinne der Stadtmetapher wäre Midgard ein kleines, aber feines Spezialgeschäft. Die Hamburger Manufaktur bietet lenkbare Leuchten an, wobei die Produktion von Typen aus den 1920er Jahren im Mittelpunkt steht. Die Schwenkleuchte K830 tauchte vor 98 Jahren im Programm von Körting & Mathiesen auf, die als KANDEM auch mit dem Bauhaus kooperierten. Sie konnte erst jetzt als Entwurf von Werner Glasenapp (1904–1986) identifiziert werden. Wie an einem Galgen hängt die Lichtquelle, die durch den gelenkigen, 125 Zentimeter ausladenden Schwenkarm und den drehbaren Reflektor das Licht weiträumig führen kann. „Er war ein Meister des ruhigen Bewegens,“ wird Glasenapp von einem seiner Studenten charakterisiert, „der suchenden Konzentration auf das Wesentliche, schließlich des entschiedenen Tuns.“
Konsequent arbeiteten auch Friedrich Gerlach und Julia Huhnholz an ihrer Bachelorarbeit mit dem Titel „The Essence of Bio-Cement“, die der Rat für Formgebung vorstellte. Die beiden Studierenden der Bauhaus-Universität Weimar erforschten unbewehrten Beton, der durch das Harnstoff abbauende Bakterium Sporosarcina pasteurii gehärtet wird. Das Rohrprofil, dessen fein perforierte Schalung im 3-D-Druck hergestellt wurde, ergab sich zum einen aus dem Herstellungsprozess, bei dem eine Mischung aus Bakterien und granuliertem Ziegelschutt für mehrere Tage einer Lösung aus Harnstoff und Kal-zium ausgesetzt wird; des Weiteren sollte es das Material erlebbar machen. Die Forschung umfasste auch die Maschine, die eine weitgehend automatisierte Produktion ermöglichte. Der eigenwillig geformte Hocker ist unbestritten ein Schritt in eine CO₂-ärmere Zukunft.
Ebenfalls als Nachwuchs präsentiert Peter Vosding den Armlehnstuhl BitR: „Beauty in the Raw“, der ebenso minimalistisch ist wie der filigrane Stuhl Mµ, mit dem der Kölner Produktde-signer einst auf dem Salone Satellite reüssierte (Heft 17.2017). Der BitR soll die Folgen der Pandemie ästhetisch widerspiegeln, nämlich Lieferengpässe und steigende Energiepreise. Der verteu-erte Bewehrungsstahl wird veredelt, indem vier Stangen gebogen und geschweißt zum Stuhlgestell werden, an das die Polster der kreisrun-den Sitzfläche und der Rückenlehne geschraubt sind. Der nicht ausbleibende Flugrost und unregelmäßig fallende Säume der Bezüge erzeugen einen Hauch von Ready-Made. Ob Vosding den BitR zu einer Kollektion mit Stühlen, Tischen und Bänken ausweitet, ist noch offen.
Gleiches gilt für sein ebenfalls als Prototyp vorgestelltes UP-Light, das für die Beleuchtung von Raumdecken und -wänden entworfen wurde. Der Phänotyp einer Taschenlampe ist unverkennbar. Vosding hat zwei Versionen entwickelt: als einfache Lichtquelle und als zweifache, die siamesischen Zwillingen gleich miteinander verschmolzen sind. Der Korpus wird in unterschied-lichen Farbtönen aus Quarzsand im 3-D-Verfahren gedruckt, womit die Halterungen für die später einzufügende Lichtkomponente schon mitgefertigt werden. Die Oberfläche weist eine leich-te, von Betonoberflächen bekannte Porigkeit auf, die UP-Light einnehmend verfremdet.
Der 1968 von den drei Designern Jonathan de Pas, Donato d’Urbino und Paolo Lomazzi entworfene Galeotta betritt nun im Programm von Zanotta wieder die Bühne der Möbelmesse. Für den damaligen Fortschritt spricht die Geometrie der drei Polsterelemente, die sich zum Sessel, zur Chaiselongue oder zur Liege zu- und aufklappen lassen. Die einzelnen Elemente bestehen aus verschieden dichten Polyurethanschäumen, so dass sich eine innere Tragstruktur erübrigt. Die Funktion des Scharniers übernimmt der Bezugsstoff, der entsprechend robust gewählt werden muss. Die einfache Handhabung befeuerte seinerzeit das heute selbstverständliche informelle Wohnen.
Der Leuchtenhersteller Artemide setzt seine Zusammenarbeit mit bekannten Architekten fort. Mit der Bjarke Ingels Group (BIG) wurde die Kollektion Vine Light entwickelt, die aus einem Rundprofil von 16 Millimetern Stärke und nur zwei Gelenken eine Vielzahl von Beleuchtungsmöglichkeiten bietet. Eindrücklich zeigt das die Arbeitsleuchte, bei der Fuß und Lichtquelle formal identisch sind. Durch die jeweils an den Fußpunkten der Kreise angebrachten Gelenke wird in unterschiedliche Richtungen belichtet, wo-bei die Stärke der Strahlung je nach Bedarf hoch- oder runtergedimmt werden kann. Die Lampe ist jedoch, anders als die fast hundertjährige K830, nicht visuell selbsterklärend, sondern benötigt eine Erläuterung, wo gedreht, gedrückt oder gewischt werden muss. Ob Erdung zukünftig mehr ein elektrotechnischer Begriff sein wird, bleibt dann auch eine spannende Frage.
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