Ricardo Bofill
1939–2022
Text: Kockelkorn, Anne, Zürich
Ricardo Bofill
1939–2022
Text: Kockelkorn, Anne, Zürich
Stadt zu schaffen, wo Stadt nicht existiert: Diese Formel bringt das Wesen der experimentellen Wohnungsbauprojekte von Taller de Arquitectura in den 1970er Jahren auf den Punkt. Dabei ging es den Mitgliedern des vom 20-jährigen Ricardo Bofill gegründeten „Taller“ (spanisch für Atelier) um nichts weniger als die Konventionen der Nachkriegsmoderne auf den Kopf zu stellen: erstens, die bürgerliche Kleinfamilie durch neue Wohnbaukonzepte aufzubrechen und zweitens, in den urbanen Peripherien der wachsenden Metropolen Spaniens und Frankreichs jene Qualitäten anzubieten, die es damals wie heute nur in Innenstädten gab. „Der Bruch mit dem Trio von Eigentum-Familie-Wohnung wird die Form der Stadt total verändern“, heißt es im 1970 in Architecture d’Aujourd’hui publizierten Text „Ausblick auf die Raumstadt“. Die zweite Angriffsfläche war die städtische Funktionstrennung, die auf modernistischen Planungsdoktrinen und kapitalistischer Bodenökonomie basiere und die stadträumliche Segregation verstärke. Um das Zusammenleben unterschiedlicher sozialer Gruppen zu ermöglichen, schlug das Taller in seinen Projekten eine Mischung von Funktionen, Klassen und Nutzertypen vor und deklarierten, dass diese Aufgabe bisher von keinem Gesellschaftssystem gelöst worden sei.
Dieser Blick auf Wohnungsbau und Stadtentwicklung war vielen nordeuropäischen Architekten um ein Jahrzehnt voraus. Dass er möglich war, hängt nicht nur mit der Weitsicht Ricardo Bofills und seiner Fähigkeit zusammen, unterschiedliche Talente in Dialog treten zu lassen. Genauso wichtig waren u.a. die Bedingungen der spanischen Stadtentwicklung während der Franco-Diktatur. Anders als in den Nordeuropäischen Wohlfahrtsstaaten der Boomjahre unterstützte die Wohnbaupolitik Francos eher die Mittelklasse, ignorierte die Slums der spanischen Binnenmigration und setzte auf Immobilienspekulation im Zuge der ansteigenden Tourismusindustrie. An diesem Punkt setzten die Arbeiten von Bofill an: in den Großprojekten des Taller ging es nicht nur um eine gangbare Antwort auf das Wohnen für Alle, sondern auch um die Erweiterung des Wohnens durch das Angebot kollektiver Erfahrungswelten in der urbanen Peripherie. Zweiter Grund für die intellektuelle Positionierung des Taller war das fröhliche Ignorieren disziplinärer Konventionen. Zu den Gründungsmitgliedern zählten neben Schriftstellern, Soziologen und Theatermachern nur zwei Architekten: Ricardos Schwester Anna Bofill und Peter Hodgkinson. Die ökonomische Voraussetzung, um jenseits von institutionellem Zuspruch und staatlichen Aufträgen umfassende, sozial orientierte Wohnungsbauprojekte umzusetzen, war das Bauunternehmen von Ricardo Bofills Vaters Emilio Bofill Benessat, der bis in die frühen Siebziger hinein die Bauanträge des Büros unterzeichnete. Die Unterstützung des Vaters erlaubten Bofill ökonomische Spielräume und die intellektuelle Freiheit massentauglichen Wohnungsbau als gesellschaftspolitisches Instrument zu verstehen.
Wichtigstes Projekt der Zusammenarbeit des Taller war die Raumstadt, ein zwischen 1968 und 1972 entwickeltes Stadtprojekt und Gesellschaftsmodell, das seine Realisierung in der Peripherie von Madrid nur knapp verfehlte, aber die Ideengrundlage für kommende Jahrzehnte lieferte. Grundprinzip dieses Stadtmodells war die Auflösung von Straße und Wohnblock durch das dreidimensionale Clustern von Mikroeinheiten. Die kleinste Einheit ist das Zimmer, jenseits dessen die Stadt mit ihren kollektiven Freiräumen und sozialen Infrastrukturen beginnt. Ökonomisch sollte sich die Raumstadt auf Basis von kollektiven Eigentümerstrukturen im per Architekturformel geleiteten Selbstbau entwickeln. Praktisch bauten diese Konzepte auf circa sieben Jahren Bauerfahrung mit experimentellen Feriensiedlungen am Meer auf (Xanadú bei Calpe, 1965–68) sowie Großüberbauungen für Arbeiter (Barriò Gaudi in Reus, 1964–72).
Die beiden Projekte, in denen Teile dieser Ideen umgesetzt wurden, sind „Walden 7“ in Barcelonesischen Vorort Sant Just Desvern (1970–75) und „Les Espaces d’Abraxas“ in der Pariser Neustadt Marne-la-Vallée (1978–84). Sie verwirklichten die Idee des Wohnens in dreidimensionalen Raumclustern; dazwischen liegt jedoch der Wandel von den Boomjahren zur Rezession und, was das Büro betrifft, vom Kollektiv zum Signature-Büro des Architekten Ricardo Bofill. Dazwischen liegt auch der Ruck zur neohistoristischen, monumentalen Fassadeninszenierung aus eingefärbten Betonfertigteilen, wie bei „Antigone“ in Montpellier (1978–99) oder „Cergy St. Christophe“ (1981–86) in der Pariser Neustadt Cergy, die zum Markenzeichen des Büros wurden.
Zwar pilgerten weiterhin Journalisten, Architekten und Stadtplaner nach Barcelona, um den Büro- und Wohnsitz „Fábrica“ und „Walden 7“ zu besuchen, aber insbesondere „Abraxas“ wurde von der Fachöffentlichkeit mit gemischten Gefühlen begrüßt. Zu monumental erschienen die Sogkraft der urbanen Innenräume, zu dunkel die Wohnungen der unteren Geschosse. Die visionäre Kraft und Bedeutung der frühen Antwort auf eine sich immer weiter ausdifferenzierende Gesellschaft blieb angesichts des Widerwillens, die postmoderne Ästhetik der späteren Projekte zu akzeptieren, auf der Strecke.
„Es ist großartig, in einem Palast zu wohnen“, erinnerte sich im Gegenzug eine Bewohnerin von „Abraxas“. So empfanden es vor allem jene, für die der Wohnungskauf oder die Zuweisung einer Sozialwohnung nach langer Wartezeit ein sozialer Aufstieg war und die nun inmitten eines Défilées an Künstlern, Architekturtouristen und Modeshootings wohnten.
Mediales Unverständnis und der Streit mit nahezu allen Gründungsmitgliedern des Taller mögen dazu beigetragen haben, dass sich Bofill ab den 1990ern weitestgehend zurückzog. Er blieb ein genialer Kommunikationskünstler, Manager und Ideengeber, dessen Büro RBTA bis heute Großprojekte von Marokko bis China realisiert. Am 14. Januar starb Ricardo Bofill an den Folgen einer Covid-Erkrankung.
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