Wohnungsbau in Paris Montparnasse
Das Wohngebäude in der Rue Castagnari im 15. Arrondissement von Paris fasziniert. Das liegt natürlich an seiner Ästhetik, aber auch an Erfindungsreichtum. Der vom Architekturbüro Tank entworfene Baukörper steht für eine sehr spezielle Spielart des sozialen Wohnungsbaus.
Text: Hugron, Jean-Philippe, Paris
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Die unterschiedliche Ausrichtung der Fassaden-Lamellen erzeugt einen schachbrettartigen Filtereffekt. Der Bezug zwischen innen und außen bleibt bestehen, ohne das Leben der Bewohner bloßzulegen.
Foto: Julien Lanoo
Die unterschiedliche Ausrichtung der Fassaden-Lamellen erzeugt einen schachbrettartigen Filtereffekt. Der Bezug zwischen innen und außen bleibt bestehen, ohne das Leben der Bewohner bloßzulegen.
Foto: Julien Lanoo
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Paris ist mit 20.238 Einwohnern pro Quadratkilometer die am dichtesten besiedelte Großstadt Europas.
Kleine Mansardräume sind für weniger gut betuchter Menschen längst Standardwohnräume. Im Neubauprojekt bieten vorgelagerte Freiflächen zusätzliche Raumqualität.
Foto: Julien Lanoo
Paris ist mit 20.238 Einwohnern pro Quadratkilometer die am dichtesten besiedelte Großstadt Europas.
Kleine Mansardräume sind für weniger gut betuchter Menschen längst Standardwohnräume. Im Neubauprojekt bieten vorgelagerte Freiflächen zusätzliche Raumqualität.
Foto: Julien Lanoo
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Grundriss EG
Abb.: Verfasser
Grundriss EG
Abb.: Verfasser
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Grundriss 1.OG
Abb.: Verfasser
Grundriss 1.OG
Abb.: Verfasser
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Alle Wohneinheiten sind Zwischenquartiere und entsprechend kompakt. Eine flexible Möblierbarkeit und damit Aneignungspotenzial wollten die Architekten mit lang durchlaufenden Wänden ermöglichen.
Abb.: Verfasser
Alle Wohneinheiten sind Zwischenquartiere und entsprechend kompakt. Eine flexible Möblierbarkeit und damit Aneignungspotenzial wollten die Architekten mit lang durchlaufenden Wänden ermöglichen.
Abb.: Verfasser
Früher stand hier ein Leuchtturm. Dabei ist das Meer weit entfernt von Montparnasse. Er sollte die Pariser Bevölkerung auch nicht auf gefährliche Riffs hinweisen, sondern vor allem ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken. Der Bezirk ist schon lange so etwas wie der östlichste Ausläufer der bretonischen Küste. Dort strandeten viele aus den Départements Finistère und Morbihan, nachdem sie ihre Heimat in der Hoffnung auf bessere Zeiten verlassen hatten. So ist es nicht verwunderlich, dass in diesem Viertel von Paris Fische, Muscheln und Krustentiere gehandelt werden. Das einzigartige Bauwerk verschwand trotzdem – und das erst vor kurzem. Denn der in der französischen Hauptstadt herrschende Siedlungsdruck lässt selbst unmittelbar neben Bahntrassen liegende Grundstücke zu Kostbarkeiten werden. Zu wertvoll, um Lagerhallen darauf stehen zu lassen, geschweige denn einen merkwürdigen Leuchtturm.
Solche kleinteiligen Liegenschaften der öffentlichen Hand wecken Begehrlichkeiten, doch die Stadt entwickelt auf ihnen keine Prestigeprojekte. Vielmehr siedelt sie dort diejenigen an, für die sie zwar bereitwillig sorgt, denen sie aber nicht die besten Lagen gönnt. So auch bei diesem aus drei Nutzungseinheiten bestehenden Wohngebäude: einer für junge Menschen bis dreißig Jahren, einer für Geflüchtete und einer für Studierende. Alle, die dort leben, haben sich mit einem marginalisierten Ort im Herzen der Hauptstadt zu begnügen, schließlich ist ihre Verweildauer dort begrenzt. Immerhin verfiel die städtische Wohnungsbaugesellschaft „Paris Habitat“ darauf, die wenig brillante Lage mit qualitativ hochwertiger Architektur zu kompensieren. Der mit einem Portfolio von 125.800 Apartments größte Vermieter von Sozialwohnungen in Paris schrieb 2009 einen Wettbewerb über 250 Einzimmerwohnungen aus, den das Architekturbüro Tank aus Lille gewann.
Das zur Verfügung stehende, lange und schmale Grundstück ist undankbar. An der Nordostseite noch 16 Meter breit, läuft es nach Südwesten spitz zu. „Angesichts dieser Beschränkungen galt unser größtes Augenmerk der Wohnqualität“, erklärt Oliver Camus, einer der Bürogründer. Tank entwarf wenig vorher einen Wohnheim-Komplex für Studierende im Pariser Vorort Boulogne-Billancourt. „Dort konnten wir die Typengrundrisse nicht in unserem Sinne entwickeln“, ergänzt Camus: Der damalige Auftrag ließ eine Überschreitung der Rahmenvorgaben nicht zu, was die Planung der Wohnungen erschwerte. Das Bad beeinträchtigte die Wohn- und Schlafzimmer indem es sie unvorteilhaft einengte. „Im Folgeprojekt wollten wir die Wohnqualität der Einheiten durcharbeiten. Dafür sollten sie so flexibel wie möglich einzurichten sein, also haben wir möglichst lange Wände geplant. Es gibt keine Versprünge in den Zimmern, man kann sie sich uneingeschränkt aneignen.“ Gemäß dieser Strategie wurden die Bäder paarweise angeordnet. Das Prinzip, dem Zimmer möglichst viel Raum zu geben, gilt in jeder der drei Nutzungseinheiten gleichermaßen.
Die Dichte der städtischen Bebauung verlangte auch eine besonders konzentrierte Ausarbeitung der Ansichten, Aussichten und Blickbeziehungen. Tank wählte dafür als zentrales Motiv den „Filter“, der sowohl Belichtung als auch Privatsphäre reguliert. „Dieses Prinzip wollten wir mit der Bewegung der Züge verbinden, um so cineastische Effekte zu erzielen. Die von uns vorgesehenen vertikalen Elemente bestehen aus eloxierten Aluminiumlamellen, deren Querschnitt rautenförmig ist.“ Dem Architekt zufolge erlaubt ihre Form verschiedene Ausrichtungen. Das gesamte Ensemble wurde so gestaltet, dass eine abwechslungsreiche Schachbrettoptik entsteht – sowohl für diejenigen, die das Gebäude aus der Straßenperspektive wahrnehmen als auch für die im Zug Vorbeifahrenden. Flaniert man am Gebäude vorbei, kommt die Frage auf, wer da hinter den Lamellen lebt. „Das war uns wirklich ein Anliegen. Die Form des Profils ermöglicht bei entsprechender Ausrichtung eine schlanke Ansicht. Bewegt man sich in der Wohnung, ändert sich die Wahrnehmung von Transparenz hin zu Geschlossenheit. Darüber hinaus haben wir die Balkone offengelassen, ihre Brüstung ist komplett verglast. Innen kommt also kein Gefühl des Eingesperrtseins auf. Je nach Sonnenstand agieren die Lamellen sogar wie ein Lichtvorhang.“
Die Gemeinschaftsflächen unterliegen der gleichen Idee, sie sind natürlich belichtet. Die zur Straße hin orientieren Foyers wurden als Orte der Begegnung konzipiert. Ein paar Meetingräume ergänzen die vorsätzlich bescheidene Ausstattung, die der Optimierung des umbauten Raums zugunsten einer größtmöglichen Anzahl Wohneinheiten geschuldet ist. Doch auf dem Dach gibt es zum Ausgleich drei Terrassen.
Während der Dachgarten des Wohnheims für die Studierenden geöffnet ist, sind die der anderen beiden Wohngebäude dauerhaft geschlossen. Das Gebäudemanagement des Hauses leisten drei unterschiedliche Firmen für Paris Habitat. Zwei von ihnen wählen den einfachen Weg: Diese Dachterrassen bleiben den Nutzern verschlossen. Der Architekt bedauert das zutiefst, der außenstehende Besucher ebenso. Doch überraschend ist es nicht. Werden nicht viele auf dem Papier großzügig konzipierte Projekte im Zuge der Umsetzung verschlankt? Einige Objekte mögen von so großer Bedeutung sein, dass der jeweilige Betreiber die politischen Forderungen akzeptiert und großzügige Gemeinschaftsflächen schafft. Die werden dann aber oft nicht genutzt, umso mehr, wenn das Objektmanagement dies schlichtweg unterbindet. „In Frankreich dominiert die Ausrichtung auf den Profit. Der Wohnraum ist viel zu entmenschlicht und deshalb nur noch eine Immobilie, eine Investition oder Anlage. Zu viele der Bauträger denken, dass sich alles verkauft – unabhängig davon, was sie tun“, meint der Architekt. Seit der Krise von 2008 errichten die Wohnungsbaugesellschaften immer weniger Sozialwohnungen. Lieber kaufen sie ihre Gebäude direkt von Bauträgern.
Die Subprime-Krise 2007/08 und ihre Folgen hatten verheerende Auswirkungen auf den Immobiliensektor: Um die Anzahl errichteter Wohnungen zu erhöhen, ermöglichte der Staat den Wohnungsbaugesellschaften deren Ankauf. Eine wirksame Maßnahme, doch die Ausnahme wurde zur Regel, und die Gesellschaften geben seit über 15 Jahren immer mehr von ihrer Bauherrenkompetenz ab.
In Frankreich gibt es nur noch in einigen potenten beziehungsweise wagemutigen Städten den politischen Willen, hochwertige Projekte entstehen zu lassen. Zahlreiche Akteure beunruhigt diese Entwicklung, doch es werden keine Entscheidungen gefällt, um ihr zu begegnen. In einigen Jahren wird uns das von den Wohnungsbaugesellschaften akquirierte Vermögen sicher vor viele Fragen stellen. Um nicht zu sagen vor viele Probleme. Wenn endlich dringender Handlungsbedarf besteht, wird der Staat vielleicht wach.
Aus dem Französischen von Hanna Reininger
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