Drei Follies in Aigle, Schweiz
Auf dem Place du Marché im schweizerischen Aigle dominierten bisher Parkplätze und eine Durchgangsstraße. Das junge Architekturbüro rotative studio hat hier drei knallbunte Follies errichtet, die von den Bewohnerinnen spielerisch entdeckt werden wollen.
Text: Stumm, Alexander, Berlin
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Das grüne „Theater“ ist die neue große Bühne für Jung und Alt im schweizerischen Aigle.
Foto: rotative studio
Das grüne „Theater“ ist die neue große Bühne für Jung und Alt im schweizerischen Aigle.
Foto: rotative studio
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Das „Observatorium“ ist auf gerade mal zwei Quadratmetern Grundfläche erichtet. Kinder nutzen den knallrosa Ausguck mit Vorliebe als Versteck.
Foto: Guarnaccia Constructions
Das „Observatorium“ ist auf gerade mal zwei Quadratmetern Grundfläche erichtet. Kinder nutzen den knallrosa Ausguck mit Vorliebe als Versteck.
Foto: Guarnaccia Constructions
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Dem Entwurf ging ein Workshop mit Bewohnern von Aigle voraus.
Foto: rotative studio
Dem Entwurf ging ein Workshop mit Bewohnern von Aigle voraus.
Foto: rotative studio
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Die blaue „Bibliothek“ bietet mit Büchertausch-Regal und großem Tisch einen Rückzugsort zum Schmökern.
Foto: rotative studio
Die blaue „Bibliothek“ bietet mit Büchertausch-Regal und großem Tisch einen Rückzugsort zum Schmökern.
Foto: rotative studio
Die beschauliche Gemeinde Aigle im Kanton Waadt liegt nahe des Genfer Sees in der französischen Schweiz. Während die Hänge entlang der Rhone hervorragende Bedingungen für den Weinanbau bieten, lässt sich im Süden das knapp 2.800 Meter hohe Bergmassiv der Dents Blanches ausmachen. Wie für viele Schweizer Kleinstädte gab es auch für das seit dem 12. Jahrhundert urkundlich verbriefte Aigle bisher kein übergreifendes städtebauliches Konzept. Der seit 2019 im Amt befindliche Bürgermeister treibt nun die behutsame Transformation des Stadtzentrums voran. Perspektivisch soll mit einem Masterplan der zentrale Place du Marché und die umgebende Innenstadt fußgängerfreundlich und mit neuen Grün- und Freiflächen umgestaltet werden.
Dass dafür nicht zwangsläufig ein großangelegter Stadtumbau notwendig ist, bei dem kein Stein auf dem anderen bleibt, zeigt die temporäre Intervention von rotative studio. Im Auftrag der Gemeinde entwarf das von Caterina Viguera (Zürich) und Alexandra Sonnemans (Rotterdam) gegründete Architekturbüro drei Pavillons: das „Theater“, die „Bibliothek“ und das „Observatorium“. 2021 fertiggestellt, werden sie nun für sieben Jahre auf dem Platz stehen. „Obwohl sie als kleine Bauwerke konzipiert sind, entfalten sie im Stadtzentrum eine große Wirkung“, sagt Viguera. „Die Pavillons schaffen eine neue Identität auf dem Platz: Sie sind so konzipiert, dass die Bewohner sie sich angeeignen und zugleich das Potenzial des Ortes wiederentdecken können.“
Im Norden des Platzes steht das alte Rathaus aus dem Jahr 1675, das heute als Touristeninformation dient. Im Süden liegt das moderne Verwaltungsensemble der Kommune, hier eine auf einem Sockel platzierte fünfstöckige Scheibe ragt in den Himmel. Der schlichte Beton- und Glasbau von 1960–64, in dessen Zuge auch das Umfeld autogerecht gestaltet wurde, prägt den Platz.
Ausgangsidee für die drei Pavillons war, möglichst flexible und reversible Räume zu schaffen, die Freiraum für Improvisation zulassen. „Bei unseren Stadtinterventionen stellen wir uns stets die Frage: Wie viel sollen wir vordefinieren und wie viel für die Improvisation offen lassen?“, erzählen die Architektinnen. Das Programm wird nämlich nicht von der Gemeinde geplant oder vorgegeben, sondern wird vielmehr von den Bewohnerinnen und Bewohnern selbst gemacht. Architektonisch entschied man sich für einfache Primärkörper und klare horizontale und vertikale Gliederungen.
Das Theater ist ein großer Würfel, der an drei Seiten raumhohe Eingänge, an der vierten Seite eine große kreisrunde Öffnung besitzt. Hier finden kleine Aufführungen, Konzerte, Weinverkostungen, aber auch selbstorganisierte Mittagessen oder Get-Together zum Apero statt. Darüber hinaus dient es der Schule als Freiluft-Klassenzimmer und wurde im Zuge der Konzeption des Masterplans für Aigle für Workshops genutzt.
Die Bibliothek ist etwas kleiner proportioniert und will ein stärker geschützter Raum sein: „Die Bewohner können ein Buch aus dem Regal nehmen oder ablegen. Das Prinzip des Teilens funktioniert in der Schweiz sehr gut, weil man dem Kollektiv vertraut und es respektiert“, sagt die gebürtige Barcelonerin Caterina Viguera. An einem großen Tisch kann man die neu entdeckte Lektüre direkt verschlingen oder sich mit seinen Nachbarn austauschen.
Das Observatorium basiert auf einem nur zwei Quadratmeter großen Grundriss und besteht im Inneren aus kaum mehr als einer schmalen Wendeltreppe, die im zweiten Stock in einer kleinen Plattform endet. „Es ist schön zu sehen, wie Kinder den Ort nutzen, um sich vor ihren Eltern zu verstecken. Der Turm ist ein symbolischer Bau, der üblicherweise Macht repräsentiert und für Überblick steht. Hier wird er stattdessen zum Spielplatz, seine Bedeutung gewissermaßen umgedreht“, so Viguera.
Alle Bauten bestehen aus einer Stahlrahmenkonstruktion und Wänden aus Industriesperrholz. Alle Eingänge sind als Schutz gegen Wind und Wetter zusätzlich mit Aluminium verkleidet. Die Möbel und Fußböden bestehen aus Lärchenholz. Die Konstruktion und der Aufbau erfolgte durch das ortsansässige Unternehmen Guarnaccia Constructions, das alle Elemente aus einer Hand fertigte und zusammensetzte. Nach dem Ablauf der sieben Jahre können die Pavillons an einen anderen Ort in der Stadt verlegt werden, der auf seine Umgestaltung wartet.
Farbspiel als Gestaltungsmittel
Direkt ins Auge springt natürlich die Farbigkeit: Die Bibliothek kombiniert dunkles mit hellem Blau, das an die Berge erinnern soll, die grüne Bibliothek referenziert die üppigen Wiesenflächen des Schweizer Panoramas, das Pink ist dem rotfarbigen Gebäude der Stadtverwaltung entlehnt. Da die Materialien Stahl, Holz und Aluminium die Farben unterschiedlich abbilden, war für eine konsistente Erscheinung Feinabstimmung gefragt. Im Inneren sind die Holzelemente allesamt unbehandelt, so dass eine wärmere Atmosphäre entsteht und die Maserungen mit den Farbflächen kontrastieren. Je nach Wetterlage und mit im Verlauf des Tages verändertem Lichteinfall ändert sich die Erscheinung. Die kreisrunden Fensteröffnungen sind so platziert, dass sowohl Beziehungen zwischen den Gebäuden entstehen als auch immer wieder auf Aussichten in die Landschaft gelenkt wird. Abends sind die Gebäude illuminiert, wobei die Beleuchtung die Funktionen hervorheben; so rahmt ein Leuchtkörper zum Beispiel das Bücherregal.
Für den Entwurf der Pavillons konnte rotative studio übrigens auf ein schon im Rahmen des Wettbewerbs für den Masterplan durchgeführtes partizipatives Format zurückgreifen. Hierfür hatten sie mit Bewohnern Qualitäten und Wünsche für den Platz herausgearbeitet. Bei ihren sogenannten On-Site Explorations, die die beiden Architektinnen auch im Rahmen ihrer Lehrtätigkeiten in Delft, Rotterdam und Antwerpen praktizieren, geht es um Architektur als körperliche Erfahrung und Quelle für Inspiration für die Bewohner. Weiterhin konnten sie auf ihre Expertise von einem Projekt in dem ebenfalls im Kanton Waadt liegenden Ort Yverdon-les-Bains zurückgreifen, wo sie seit 2017 jeden Sommer eine Pavillonstruktur in einem bewaldeten Parkgrundstück aufbauen, der sich inzwischen zu einem beliebten Treffpunkt entwickelt hat. Um architektonische Qualitäten im Stadtraum zu schaffen, reicht eben der kleine Eingriff manchmal völlig aus.
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