Bauwelt

Ab nach Kassel

Die Bauwelt-Redaktion unterwegs. Einen Tag mit dem Zug zur documenta, wie schon die Jahre zuvor. Ein Betriebsausflug, aber auch eine Vergewisserung, zu sehen, was „die von der Kunst“ so machen. Die Atmosphäre auf dem Rückweg im Wagon 22 ist angeregt, sie schwankt zwischen Begeisterung und Ernüchterung. Die Beobachtungen der Kolleginnen lesen sie weiter unten. Nicht zu vergessen: Kassel gibt auch einen thematischen Vorgriff auf die nächste Architekturbiennale, wenn Lesley Lokko – etwas bescheidener – nicht den ganzen globalen Süden, dafür aber die Perspektive des afrikanischen Kontinents präsentieren wird.

Text: Red.

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Ab nach Kassel

Die Bauwelt-Redaktion unterwegs. Einen Tag mit dem Zug zur documenta, wie schon die Jahre zuvor. Ein Betriebsausflug, aber auch eine Vergewisserung, zu sehen, was „die von der Kunst“ so machen. Die Atmosphäre auf dem Rückweg im Wagon 22 ist angeregt, sie schwankt zwischen Begeisterung und Ernüchterung. Die Beobachtungen der Kolleginnen lesen sie weiter unten. Nicht zu vergessen: Kassel gibt auch einen thematischen Vorgriff auf die nächste Architekturbiennale, wenn Lesley Lokko – etwas bescheidener – nicht den ganzen globalen Süden, dafür aber die Perspektive des afrikanischen Kontinents präsentieren wird.

Text: Red.

An der Balustrade des Fridericianums drückt eine unaufhaltsam laufende Schuldenuhr des Künstlers Richard Bell das Unberechenbare in Zahlen aus: Die Summe, die der australische Staat den Aborigines schuldet, gemessen an den seit 1901 fälligen „Pachtzahlungen“ für das von ihm besetzte Land. Absurd? Unser Finanzsystem läuft ja nicht anders, denke ich, global betrachtet aber umgekehrt: Ärmere Staaten verschulden sich bei Reicheren, um das früher von diesen besetzte Land mit Investitionen auf die Beine zu bringen. Ein Schuldenerlass aber scheint hier undenkbar.
Buchen Sie eine Führung! Nach Informationen, die über den Künstlernamen, die Materialzusammensetzung und die Finanzierung der Arbeit hinaus gehen, habe ich meist vergeblich gesucht. Meine Empfehlung: über die Karlswiese zum Werk „Return to Sender“ von „The Nest Col­lective“ aus Nairobi zu laufen. In Würfel gepresster Auto-, Elektro- und Plastikmüll säumt den Weg. Schließlich ein aus Altkleidern errichteter Pavillon. In Inneren wird ein Film gezeigt, der sich mit den Folgen des Müllhandels aus dem Westen befasst – und die Kehrseite gut gemeinter Kleiderspenden für die Empfängerländer sichtbar macht. 4
„Ruangrupa und die Künstler*innen, die das Fridericianum besetzen, sehen das Gebäude als Lumbung“, verkündet die Documenta. Lumbung bezeichnet auf Indonesisch eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune. Im Fridericianum suche ich nach Erklärungen zu den Kunstwerken. Wo sie existieren, sind sie auf Kniehöhe. Ein Besucher nimmt einen der Ausstellungstexte von der Wand, und hängt ihn mit der Reißzwecke auf Augenhöhe. Die Kunst ist frei, doch Ordnung muss sein. Vermittlung auch. 1
Es bleibt eine Stunde bis zur Rückfahrt des Zugs nach Berlin. Lange Schlange vor der Installation von Hito Steyerl im Ottoneum, ich reihe mich ein. Eigentlich sind auf dieser Documenta keine Welt-Künstlerinnen erwünscht. Doch das bisher unbekannte spanische Künstlerkollektiv „Inland“, das Szenen aus dem Landleben und auch „cheesecoins“ in Geldform präsentiert, hatte die Berliner Starkünstlerin eingeladen – sozusagen über die Hintertür, als eine Art Subunternehmerin für den Dialog zwischen Welt- und ländlicher Kunst. Weil die Schlange vor mir nicht kleiner wird, muss ich unverrichteter Dinge aufbrechen. Einen Tag später lässt Steyerl ihren Beitrag abbauen. Sie ist unzufrieden mit der misslichen Aufarbeitung des Antisemitismus-Skandals durch die Documenta-Leitung. Das spanische Künstlerkollektiv bleibt allein zurück. Ihre global vernetzte Dialogpartnerin hat sich aus dem Staub gemacht.
Zum Glück fahre ich nicht zurück nach Berlin, sondern weiter nach Heidelberg. So habe ich eine Stunde länger Zeit, die ich zum Anstehen im Ottoneum nutze, weshalb ich vermutlich einer der letzten bin, der die Arbeit von Hito Steyerl zu sehen bekommt. Die Filmemacherin hat „Animal Spirits“ nach Kassel mitgebracht, ein rasant geschnittenes, 24-minütiges Video, das sich zwar wie alle Beiträge in diesem Jahr mit ungleichen Machtverhältnissen, mit der Ausbeutung von Mensch und Natur, dem entfesselten Kapitalismus also, beschäftigt. Doch gleichzeitig bietet es mir all das, was ich den ganzen Tag über vermisst habe: Ironie, Doppelbödigkeit, Ambivalenzen, künstlerische Perfektion. Es treten auf: der Ökonom John Maynard Keynes, ein viriler spanischer Schäfer, der mit populistischer Hetze gegen „Ökofaschisten“ zum Instagram-Star wird, echte und virtuelle Wölfe, Schafe, (Schafs-)Käse.
„Unser kuratorischer Ansatz zielt auf ein anders geartetes, gemeinschaftlich ausgerichtetes Modell der Ressourcennutzung – ökonomisch, aber auch in Hinblick auf Ideen, Wissen, Programme und Innovationen“, so umfassend formuliert das Künstlerkollektiv Ruangrupa den eigenen Anspruch. Die Umsetzung ist offensichtlich gelungen. Aber neben unzähligen Räumen, Orten und Plätzen, die der Diskussion über Kunst und Gerechtigkeit dienen, bleibt der künstlerische Ausdruck häufig auf der Strecke. Kaum ein Werk erzeugt bei mir nach einem Tag Besichtigung eine bleibende Erinnerung. Im Gegenteil: Die vielfachen Foren ermüden durch die immer gleiche Bildsprache begabter Wortwolken-Flipchart-Szenographen. 5
Eine Wiese ist nicht nur eine Wiese. Für mich steht das plattgedrückte, gelbliche Gras am Friedrichsplatz vor der Documenta-Halle für das dröhnende Schweigen der Verantwortlichen in der Documenta-Leitung. Die Leerstelle ist der räumlich erfahrbare Rest von Darstellungen mit ins Mit-telalter zurückreichender antisemitischer Ikonografie und das, was Heinz Bude „die größte Beschädigung“ der Marke Documenta seit ihrem Bestehen nennt. Mehr noch, sie ist durch die anti-auratische Aufladung quasi symbolisch kontaminiert. An diesem Ort kann ich mir 2022 keine künstlerische Arbeit mehr vorstellen. Nicht nur Kunst kann den Blick, wie wir die Welt sehen, verändern – auch ihre augenscheinliche Abwesenheit. 3
Ist das jetzt schon Kunst? Ich denke ja, aber Google Maps wird mich später eines Besseren belehren: die aneinandergeklickten roten Bänke auf dem Friedrichsplatz sind mein vermeintliches Documenta-Lieblings-Ausstellungsstück, ein Ort zum gemeinsam Eisessen: eine Kugel grün, eine Kugel blau – Matcha und Spirulina, eine ähnlich überfordernde Kombination wie das d15-Programm.
Das Kollektiv Britto Arts Trust aus Bangladesch macht mit seinen Werken auf die Schäden der Umwelt und Gesundheit durch die Lebensmittelindustrie und auf die Verdrängung der traditionellen Landwirtschaft aufmerksam. Mir gefällt, dass sie auch andere mögliche Seite der Ernährungsproduktion sichtbar machen: Neben der Installation eines Bazaars mit handgefertigten Produkten, wie Gemüse aus Keramik und Milchkartons aus Metall, haben sie einen Gemüsegarten mit Gemeinschaftsküche errichtet. Es geht um gutes Essen und die Qualität lebensnotwendiger Produkte. Es ist einer der vielen Orte gemeinschaftlicher Selbstermächtigung auf der Documenta.2

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