Städtebaupreis 2023: Werksviertel in München
Der diesjährige Deutsche Städtebaupreis geht ans Münchner Werksviertel, geplant von steidle architekten. Wir berichteten zuletzt in der StadtBauwelt "Die private Stadt" über die Entwicklung.
Text: Matzig, Katharina, München
Städtebaupreis 2023: Werksviertel in München
Der diesjährige Deutsche Städtebaupreis geht ans Münchner Werksviertel, geplant von steidle architekten. Wir berichteten zuletzt in der StadtBauwelt "Die private Stadt" über die Entwicklung.
Text: Matzig, Katharina, München
Immer wieder entwickeln sich aufgelassene Industrieareale zu den lebendigsten Orten unserer Städte, zu wahren Heterotopien mit reichlich Platz für Ungeplantes und Unvorhergesehenes. Zwangsläufig hat der Spaß ein Ende, wenn das Areal verkauft und der Logik der Immobilienverwertung zugeführt wird. Das Münchner Werksviertel beweist: Es muss nicht so kommen. Der Eigentümer hat es in der Hand.
Er trank keinen Alkohol, verabscheute Handys und Bankkonten, liebte Hardrock und Spiegeleier und schaffte es zeitlebens nicht in die Nobeldiskothek P1. Sein größtes Anliegen: dass Menschen sich treffen, amüsieren, tanzen, verlieben. Man kommt nicht vorbei an schrägen Typen, an Individualisten und Idealisten, an Visionären und Machern, an Ideen-, Geld- und Formgebern, wenn man sich mit dem Münchner Werksviertel beschäftigt. Der im Januar 2021 verstorbene Hardrock-Fan Wolfgang Nöth war einer davon: Mit dem Kunstpark Ost erfand und kultivierte er den Geist der Zwischennutzung, auf den das Quartier am Ostbahnhof seit Jahren baut, von dem es zehrt und lebt.
1996 ließ der „Hallenmogul“ ihn aus der Flasche, als er das leerstehende Fabrikgelände des Münchner Lebensmittelherstellers Pfanni pachtete und mit Clubs, Bars, Restaurants, Künstlerateliers und Kleinunternehmen bespielte, Konzerte, Kunst- und Antiquitätenflohmärkte organisierte und bis 2003 an Wochenenden um die 250.000 Menschen auf das 90.000 Quadratmeter große Areal drei Kilometer östlich des Marienplatzes lockte. Es war nicht Nöths erste Quartiersbelebung – 1992 hatte er das Gelände des aufgegebenen Flughafens Riem genutzt – und es sollte nicht seine letzte bleiben. Doch während in Riem heute, von wenigen Ausnahmen abgesehen, schmutzig verputzter Wohnungsbau achsial strammsteht, ist das Werksviertel, wie das Gebiet heute heißt, einer der ganz wenigen Orte in der bayerischen Landeshauptstadt, in dem die viel gerühmte „Liberalitas bavarica“ Platz findet – laut Wilhelm Hausenstein eine „bayerische Großzügigkeit“ und „Münchner Liberalität, in welcher auch die Humanität enthalten ist“.
Lange entwickelte sich die Mikroutopie, in der zu Pfanni-Hochzeiten 1200 Menschen beschäftigt waren und nun etwa 7000 Arbeitsplätze geschaffen wurden und in Zukunft auch rund 3000 Menschen wohnen werden, unter dem Radar der Öffentlichkeit, ein Geheimtipp vielleicht, eine Insider-Location. Seit einiger Zeit allerdings ziehen das Werksviertel und seine Einzelbauten Aufmerksamkeit und Auszeichnungen auf sich wie der Cuprat-Magnet. Oder, um es mit dem Gewinner des DAM-Preises-2021 zu sagen: AAHHH, OH, WOW, wie auf der von den Künstlern Christian Engelmann und Beate Engl entworfenen Fassade an dem von MVRDV und N-V-O Nuyken von Oefele Architekten geplanten Werk12 zu lesen ist. Gut so!
Knödel, Püree und Reiberdatschi
Womit wir bei dem Mann sind, der „Europas größte Ausgehmeile“ erst zugelassen, dann übernommen hat, und das Familienerbe nun in den „Potato District“ Münchens verwandelt, dem New Yorker Meatpacking District gar nicht mal komplett unähnlich: bei Geld- und Grundgeber Werner Eckart junior. Mehr als 400 Jahre lässt sich die Geschichte der Münchner Handelsfamilie Eckart zurückverfolgen. Im 19. Jahrhundert gründete Ururgroßvater Johannes eine Konservenfabrik, Urgroßvater Otto erfand eine Konservierungsmethode für Kartoffeln und stellte die Truppenverpflegung im Ersten Weltkrieg sicher. Großvater Werner experimentierte nach dem Zweiten Weltkrieg solange mit Kartoffelpulver, bis er Knödel, Püree und Reiberdatschi maschinell produzieren konnte und gründete 1949 die Pfanni GmbH & Co.KG, 1965 machte das Unternehmen 80 Millionen D-Mark Umsatz.
Als Werner Eckart junior im Februar 1968 geboren wird, so weiß die Süddeutsche Zeitung, ließ sein Vater Otto in den Werken Fahnen aufziehen. Die Fabrik am Ostbahnhof ist sein Spielplatz, nur ins Versuchs- und Techniklabor darf der Kleine nicht – zumindest so lange, bis er aus Werk7 die Veranstaltungshalle „Technikum“ macht. Dabei war der Industriekaufmann bereit zur Übernahme. Doch als Pfanni rote Zahlen schrieb, wurde das Unternehmen 1993 verkauft. Grund samt Altbestand allerdings blieben und sind noch im Besitz der Familie, der Firma OTEC GmbH & Co. KG: Was für ein Pfund in einer Stadt, die einer der teuersten Standorte Deutschlands ist, in einer Zeit, in der Immobilien nicht gehalten und entwickelt werden, sondern als Rendite-Durchlaufposten der Geldvermehrung dienen.
Spielplatz ist das Gelände daher heute noch, Werner Eckart aber ist erwachsen. „Die erste Idee der Berater meines Vaters war, das Viertel sehr geordnet zu entwickeln, mit Wohnungen und Büros in Reihenbebauung.“ Denn geradlinige, geordnete Verhältnisse – „das war damals die Zeit und auch das Denken“. Doch der Kunstpark Ost und dann die Kultfabrik, die Eckart zwischen 2003 und 2016 selbst als Kultur- und Veranstaltungsort betrieb, mit 100 gewerblichen Mietern, der Kunsthalle whiteBOX, mehreren Theaterhallen, der TonHalle, Europas höchster Indoor-Kletteranlage, einem Stadtstrand, mit Künstlern und Bands, Kindern und Kleinunternehmen, hatten gezeigt, welches Potenzial das Gelände hat. Und sie hatten bewiesen, dass sich auch mit einem eher ungeordneten, spielerischen Konzept gut Geld verdienen lässt. Never change a working system: „Es soll im Werksviertel kein Gebäude geben, das nur eine Nutzung hat. Jedes soll sich ständig wandeln lassen“, findet Werner Eckart. Als ein potenter Mieter Werk3, das Kerngebäude des Werksviertels Mitte, aufgestockt, in Pfanni-Orange gestrichen und rund 22.000 Quadratmeter groß, als Ganzes nutzen will, lehnt er ab. No risk, no fun.
Urban Motherfucker
Und damit betritt die Figur den großmaßstäblichen Spielplan, die der Energie des Viertels und der Begeisterungsfähigkeit des Bauherrn seit vielen Jahren eine städtebauliche und architektonische Form gibt: der Architekt Johannes Ernst, einer der beiden geschäftsführenden Gesellschafter von Steidle Architekten. Mit der 2011 fertiggestellten Medienbrücke, einem 90 Meter langen, 23 Meter breiten, dreigeschossig auf zwei massiven Erschließungskernen aufgeständerten Wolkenbügel gab das Büro auf einem angrenzenden Grundstück das Startsignal für den gestalterischen Aufbruch: ein „Urban Motherfucker“, wie man im Studio von Kees Christiaanse, wo Johannes Ernst in Berlin studierte, gesagt hätte.
Dass Werner Eckart gegen den Bau klagte, der seinem Grund zu nahekomme und die Abstandsflächen nicht einhalte, es dann im Baubüro zu einem Treffen kam zwischen Eckart und Ernst, eine Skizze herumgereicht wurde und irgendwann der Satz fiel: „Jetzt baust Du mir aber auch drei Wolkenbügel!“, ist nur eine der vielen Anekdoten aus der Schöpfungsgeschichte des Werksviertels Mitte, die der Architekt zu erzählen weiß.
Die Medienbrücke gründete städtebaulich noch auf dem eher rigiden, altbestandbereinigten Plan des Münchner Büros 03 Architekten, das den von der Stadt 2001 ausgelobten Wettbewerb für die Rahmenplanung „Rund um den Ostbahnhof“ gewonnen hatte. Er bezog sich nicht nur auf das Areal der Pfanni-Werke, sondern nahm auch die umliegenden Grundstücke in den Blick, die insgesamt acht Eigentümern gehören, darunter vier Familien. Werner Eckart jedoch überzeugte der Vorschlag, den Johannes Ernst ihm skizzierte: „keine weitere Parkstadt Schwabing“, sondern eine „lebbare, auch vertikale Großstadt, ein Gegenspieler zur Ver-Peripherisierung als gängige Praxis.“
Und so kümmern Steidle Architekten sich nun seit vielen Jahren um den Erhalt und die Weiterentwicklung der nicht schönen, aber charmant adaptierten Wirtschaftswunderbauten aus den 50er- und 60er-Jahren, wo immer es möglich und sinnvoll ist. Anstelle des im Wettbewerb vorgesehenen städtischen Parks entwickelten sie zudem den zentralen Knödelplatz, der heute in privater, sprich, in Eckarts Hand ist. Damit Platz entstand für eine Tiefgarage, musste sein Niveau um 1,50 Meter angehoben werden, inklusive alter Kartoffeltransportschienen, auf denen sich die kartoffelkistenartigen Pflanztröge nach Belieben verschieben lassen, je nachdem, ob gerade der Weihnachtsmarkt oder ein Open-Air-Konzert stattfindet.
Mischen, mischen, mischen!
Wolkenbügel allerdings bauten Steidle Architekten keine weiteren, zumindest nicht in die Horizontale. Beauftragt mit der Weiterentwicklung der Rahmenplanung und als „Chefplaner“ des Werksviertel Mitte realisierten sie jedoch den Umbau und die Erweiterung von Werk3 sowie Neubau und Aufstockung von Werk4: Das ehemalige Kartoffelmehlsilo, das innen wie außen auch heute noch als Kletterparcours genutzt wird, wuchs um einen knapp 90 Meter hohen Wolkenkratzer. Münchens bislang höchstes Hotel entspricht dabei ebenso der Eckartschen Maxime, ausschließlich an Familienunternehmen zu vermieten, wie das von Hild und K Architekten schräg gegenüber entworfene Gambino Hotel. Und selbstverständlich sind auch nur die oberen Etagen gehobener Adina-Standard, in den unteren Geschossen bietet ein wombat’s Hostel 500 preiswerte Betten an.
Wer macht schon denselben Fehler zweimal? Schmerzhaft, erinnert sich Johannes Ernst, hat er bei der Bebauung der Theresienhöhe gelernt, dass Höhe und Dichte nicht a priori für Urbanität sorgen, sondern dass es erst die Mischung – städtebaulich, räumlich und in der Nutzung – ist, die Lebendigkeit schafft. Zu der natürlich auch das Volk der wuseligen Blattschneiderameisen beiträgt, das sich das Treppenhaus von Werk3 in einer transparenten Röhre hinauf- und hinunterarbeitet und die wolligen Schwarznasenschafe, die auf dem Dach von Werk3 grasen, auf exakt 59,64 Metern über der Isar, wie an der ebenso hoch gelegenen Almschule zu lesen ist, die von Kindergruppen und Schulklassen besucht werden kann. Ihr Ausblick ist eindrucksvoll: Rund um das knapp 80 Meter hohe, größte transportable Riesenrad der Welt liegt ihnen München zu Klauen.
„So was fällt nur Werner ein!“, lacht Kusine Caroline Eckart. „ich habe den hut auf für das richtige setzen der segel, damit wir auch zukünftig auf kurs bleiben“, steht auf der Visitenkarte der Geschäftsführerin der eventfabrik münchen gmbh zu lesen. 2023 hofft sie, in Werk7, umgebaut von N-V-O, eine eigene Produktion zeigen zu können. Und dann ist da noch das Konzerthaus, geplante Spielstätte des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, das in Zukunft das Riesenrad ersetzen soll. 2017 gewannen die Bregenzer Andreas Cukrowicz und Anton Nachbaur-Sturm den Wettbewerb und wurden mit der Planung des Klangspeichers mit drei Sälen beauftragt, finanziert vom Freistaat Bayern, der mit Werner Eckart ein „unbefristetes Erbbaurecht“ für das Grundstück vereinbart hat.
Bis das Konzerthaus eröffnet wird und neben U- dann auch E-Musik durchs Werksviertel Mitte tönt, sind vermutlich auch die gut 1000 Wohnungen bezogen. „Wir haben ja schon viel Wohnraum geplant und realisiert, an vielen Orten. Aber noch nie bin ich so oft gefragt worden, ab wann man wohnen hier kann und wie man an eine Wohnung rankommt!“, sagt Johannes Ernst. Sie ist ganz offensichtlich anziehend, die Prozesshaftigkeit, die Heterogenität, die Balance von chic und shabby, aus Leben und Arbeiten, Kunst und Kultur. Dabei ist „die maximale Verdichtung der Widersprüche nichts für Musterschüler“, lacht Johannes Ernst. Umso mehr ist das Werksviertel Mitte ein Musterbeispiel für Stadtentwicklung. Denn dort werden sich auch weiterhin Menschen treffen, amüsieren und sich verlieben, zumindest ins Werksviertel.
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