Kinder von Hoy
Freiheit, Glück und Terror
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Kinder von Hoy
Freiheit, Glück und Terror
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
„Kinder von Hoy“ ist kein Architekturbuch. Es ist auch kein Buch über Stadtentwicklung oder -geschichte im engeren, baugeschichtlichen Sinn. Wenn man die Grenzen des Begriffs Fachliteratur aber etwas weiter fasst, passt dieser „dokumentarische Roman“ aber sehr wohl ins Bücherregal von Architektinnen und Stadtplanern – auf jeden Fall von solchen, die sich für die Baugeschichte der DDR interessieren oder für den Lebensraum Neustadt bzw. Großsiedlung im Allgemeinen - und dafür, wie eine (Stadt-)Gesellschaft wächst und zerfällt.
Grit Lemke, die Autorin, ist selbst im Hoyerswerda der 70er Jahre aufgewachsen, genauer: in Hoyerswerda-Neustadt. Die ab Mitte der 50er Jahre als zweite sozialistische Stadt nach Stalinstadt entstandene und bis Ende der achtziger Jahre auf 10 Wohnkomplexe angewachsene Neustadt war die erste ganz mit industriellen Bauweisen errichtete Stadt der DDR und ist schon deshalb von großer baugeschichtlicher Relevanz. Für die „Kinder von Hoy“ aber war sie in den siebziger Jahren eine unbeschwerte, viel Freiräume bietende und Entdeckungen bereithaltende Umgebung, die etlichen von ihnen zwar ein Berufsleben im Energiekombinat „Schwarze Pumpe“ zu versprechen schien, einige aber doch auf selbstbestimmtere, kulturelle oder gar künstlerische Wege führte. Lemke, die als Filmregisseurin bekannt geworden ist, ist eine von ihnen, und sie zeichnet als Autorin und als Interviewerin ihrer einstigen Spielkameraden das gemeinsame Aufwachsen, Experimentieren, Provozieren und schließlich Scheitern an den Bedingungen sehr genau nach. Nicht unwichtig dabei: Das Scheitern und Auseinanderfallen ihrer Gruppe datiert in die Zeit nach 1990, und daran nicht unschuldig ist der plötzlich überhandnehmende Terror der Rechtsradikalen, der von Bürgern, Politik und Polizei nicht gebremst wird und mit dem Pogrom 1991 seinen bundesweit beachteten Höhe-, aber längst nicht Endpunkt erreicht: Denn nach dem erfolgreichen Abtransport der Ausländer wird sich die Aggression der Neonazis nach innen richten, gegen die Spiel- und Klassenkameraden von einst, die plötzlich als "Zecken" bekämpft und auch von der Politik als Außenseiter begriffen werden, die besser verschwänden.
Ist es Zufall oder Ironie, dass damit auch der Niedergang der Neustadt mit ihrem Versprechen von Zukunft beginnt? Um 2000 schon wird Hoyerswerda zum Modellfall des „Stadtumbau Ost“-Programms avanciert und ein paar Jahre später zu weiten Teilen wieder verschwunden sein. „Seit wir denken konnten, wurde um uns herum ständig etwas aufgerissen und umgeschichtet, neu gebaut und wieder abgerissen. Nie konnte hier etwas bleiben, wie es war. Nicht in der Stadt, die gestern noch Landschaft war, heute WK und morgen schon wieder Wald. Und nicht in der Lausitzer Landschaft, wo gestern noch Dörfer standen, heute eine Grube war und morgen ein See sein würde.“
Architektinnen und Architekten, die Lemkes Buch lesen, werden auch ihre genauen Schilderungen der Neustadt-Wohnblöcke in Erinnerung bleiben: „Unsere Stadt funktioniert nach dem Prinzip der Fahrstuhletage. Schon als wir Kinder waren, hatte sie uns gelehrt, wie man mit Verboten umgeht. Sie war das Beste an den Hochhäusern … Auf der Fahrstuhletage zog sich der Flur scheinbar kilometerweit über alle Eingänge des Hauses und verband sie im Inneren miteinander. Die Fahrstühle – falls sie fuhren, das weeß man nie! – hielten nur in der dritten, sechsten und neunten Etage. Aber einzig die sechste war Marktplatz, Freiheit und Zeichen in die Außenwelt: Nachts kündete sie als helle Zeile in der Landschaft von unserer Existenz.“ Ein Spotlight auf Stadt und Land und Leute, die ein Gespräch in Gang zu setzen vermag über das, was war, was ist und sein wird in Ost und West.
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