Die virtuelle Stadt
Editorial
Text: Schultz, Brigitte, Berlin
Die virtuelle Stadt
Editorial
Text: Schultz, Brigitte, Berlin
Können Sie sich noch an die Entscheidung erinnern, einen „Personal Computer“ anzuschaffen? Oder ein „Handy“ – nur für Notfälle, selbstverständlich! Erinnern Sie sich noch an das „Modem“ in der Wohnung, dessen Gepiepe signalisierte, dass dem „Festnetztelefon“ nun Funkstille geboten war?
Wissen Sie noch, was für ein Erlebnis es war, die erste „E-Mail“ zu empfangen (und wie lange es gedauert hat...)? Und, weniger weit zurückliegend: das Freiheitsgefühl der ersten Flatrate, des ersten kabellosen Geräts – oder die erste Fahrt mit dem „Navi“?
Inzwischen ist all das für die meisten von uns selbstverständlich. Die digitale Revolution hat sich fast unmerklich, Stück für Stück, in unser Leben geschlichen. Seit Mitte der 80er Jahre stieg die global gespeicherte Datenmenge von gut zwei Trillionen Byte auf weit über das Hundertfache. Noch extremer entwickelte sich die Rechenleistung: In der Summe aller Handys und Smartphones steckt heute tausendmal so viel Rechenleistung, wie vor einem Vierteljahrhundert weltweit verfügbar war. Inzwischen nutzen rund 49 Millionen Deutsche das Internet, und das auch längst nicht mehr nur innerhalb von Wohnung oder Büro: 2010 waren bereits 16 Prozent aller deutschen Handy-Nutzer mobil online, Tendenz steigend.
Was das für unser aller Alltag bedeutet, kann jeder an sich selbst beobachten. Man muss sich schon gezielt dem Strom entzogen haben, um in den letzten 15 Jahren die Auswirkungen der Technologie auf alle denkbaren Bereiche – beispielsweise auf Orientierungs- und Bewegungsmuster, Informationbeschaffung, Kommunikation, Kauf- und Sozialverhalten, Arbeitsweise, das Verständnis von Zeit und die Relevanz von Erreichbarkeit – nicht im Selbstversuch erlebt zu haben. Und das Rad der technischen Entwicklung und ihrer Anwendungen dreht sich weiter. Ob flächendeckende PC-Dichte in der Lehre, fahrerlose Autos, oder, allem voran, das Smartphone als medizinischer Ersthelfer, Steuerformular, Wahlzettel, Autoschlüssel, Kredit- und Fahrkarte – all das ist Zukunftsmusik, für die die Partituren längst geschrieben sind.
Die Vernetzung zwischen online und offline, virtuellem und realem Raum transformiert mit unserem Lebensstil auch unseren Lebensraum. Größere Rechenleistung und bessere Grafik haben nicht nur der Darstellung der realen Stadt im virtuellen Raum zu immer höherer Genauigkeit verholfen und der virtuellen Stadt in Computerspielen Scharen neuer Einwohner beschert. Viel weitreichender ist der Austausch in die andere Richtung, bei dem die digitale Technik die gewohnten Muster des „analogen“ Stadtraums stört, hinterfragt und letztendlich verändert.
In extremer Form testen dies seit einigen Jahren „transmediale“ Spiele im öffentlichen Raum aus, deren Teilnehmer sich mit technischen Hilfsmitteln wie Handy oder Laptop zeitgleich im realen und virtuellen Raum bewegen, orientieren und kommunizieren (siehe S. 44). Dass diese spielerischen Experimente oft von Universitäten und Forschungsabteilungen initiiert werden, hat seinen Grund: Aus der zunehmenden Wechselwirkung zwischen real und virtuell ergeben sich ganz konkrete neue Möglichkeiten und Werkzeuge, auch für die Planung. So können schon jetzt textliche Informationen oder einfache dreidimensionale Modelle fast jedem Punkt der Erde zugewiesen und mit dem Smartphone dort wieder abgerufen werden (Experimentierfreudige finden eine Anleitung hierzu auf S. 38). Neue Formen der Messung und Kartierung bieten die Mittel, um bisher schwer greifbare Realitäten der Stadt verständlich zu visualisieren, beispielsweise körperliche Reaktionen auf den Stadtraum oder die Kommunikationsströme von Handy und Internet. Die durch GPS verorteten Inhalte des „Geoweb“ mischen sich mit der Mit-mach-Mentalität des Web 2.0 und den Netzwerken der Social Media und ermöglichen – und erfordern – neue Formen der Partizipation, aber auch des „Lesens“ der Stadt und ihrer Bürger.
Man kann dies erschreckend oder erstaunlich finden. Darüber, ob die digitale Entwicklung mehr gute oder mehr schlechte Seiten hat, scheiden sich die Geister, wie das Expertengespräch ab Seite 58 zeigt. Einfache Lösungen für Probleme wie mangelnden Datenschutz, unerwünschte Werbung oder Überwachung sind nicht in Sicht, und werden von den Profiteuren der rechtlichen Grauzonen der virtuellen Welt, seien es totalitäre Staaten oder Firmen wie Facebook und Co., sicher auch nicht angestrebt. Ob wir die im „realen“ öffentlichen Raum gültigen Wertmaßstäbe auch im virtuellen und zunehmend hybriden Raum etablieren können, oder ob sich das Verständnis von Privatheit im Laufe der Generationen mit den neuen Medien ändern wird, bleibt abzuwarten. Die „ubiquitäre“, in allen Teilen digital vernetzte Stadt, der sich die Südkoreaner verschrieben haben (siehe S. 52) wird uns wohl noch eine ganze Weile erspart bleiben. Doch auch wenn die Stadt der nahen Zukunft an der Oberfläche nicht so sehr anders aussehen wird als die Stadt der Gegenwart – wir werden sie mit Sicherheit anders wahrnehmen und benutzen als heute.
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