Bauwelt

1111 Lincoln Road



Text: Cornete, James, Miami


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    Iwan Baan

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Die Struktur ist die Architektur, die Parkplatzsuche wird als zeremonielle Erfahrung stilisiert: Herzog & de Meuron machen aus einem Parkhaus mit Shopping eine Versuchsanordnung für den gehobenen Konsumenten. Das umliegende, ebenfalls von den Architekten gestaltete Ensemble nimmt sich zurück und überlässt dem Parkhaus den großen Auftritt.
Auf den ersten Blick sieht die Betonstruktur an der Lincoln Road aus wie der Rohbau eines neuen Kunstmuseums oder eines exklusiven Apartmentgebäudes. Tatsächlich ist der Neubau aber so gut wie fertig. „1111 Lincoln Road“ ist ein Gebäude ohne Fassade, das die Architekten als Verlängerung der Straße verstehen; ein Parkhaus mit 300 Stellplätzen, Läden im Erdgeschoss, einem Penthouse auf dem Dach sowie Restaurants, Bars und Veranstaltungsflächen, die locker über sieben Geschosse verteilt sind. Über das Projekt ist in den vergangenen Jahren viel geschrieben worden, doch im Mittelpunkt stand bislang vor allem die ikonische Gebäudeform. Der Kontext in Miamis Art-déco-Viertel South Beach mit seinen über 800 Gebäuden aus den zwanziger und dreißiger Jahren wurde meist außen vor gelassen, nicht zuletzt, weil die Renderings sich auf das
Gebäude selbst konzentrierten. Auch die gestylten Fotos von Iwan Baan, die seit Anfang des Jahres in verschiedenen Medien auftauchen, zeigen lediglich die Struktur als solche, effektvoll beleuchtet. Tatsächlich wird das Projekt nur als Ganzes verständlich, als Teil eines „mixed use developments“, zu dem auch der Umbau des Suntrust-Bürogebäudes gehört, eines brutalistischen Reliktes der siebziger Jahre von Adolfo Albasia, weiterhin der Neubau einer Bankfiliale mit Wohnungen – und schließlich die Neugestaltung der Promenade vor der vis-à-vis gelegenen „Lincoln Mall“ , einem der wenigen Orte Miamis, an dem man zu Fuß ins Kino schlendern, essen gehen und am South Beach kurz ins Meer springen kann.

Einfügung in den Kontext, was heißt das?

Der Neubau bleibt zunächst ein „Fremdling“ im historischen Kontext: Er steht für sich selbst, die Nachbarn ignorierend, als wolle er sagen, dass er um Klassen besser sei als alle anderen Gebäude, in denen man jemals geparkt hat. Die Betonstruktur bildet einen starken Kontrast zu den Stromlinien-Formen der teuren Autos und der Art-déco-Gebäude: Letztere bestehen aus massiven Volumina, der Neubau hingegen ist ein feingliedriges Skelett, das Licht und Wind bis in seine letzten Winkel lässt. Bei den Nachbarn zählt die Oberfläche, hier die Struktur. Im Gegensatz zu den strahlend weißen Fassaden der Umgebung bleibt der vor Ort gegossene Beton roh. Gerade von dem Suntrust-Gebäude setzt sich das Parkhaus deutlich ab: Die Geschossebenen beziehen sich kaum auf den Bestand, dem sie die­nen; die Verbindungen zwischen beiden sehen aus wie ein Produkt der Notwendigkeit. Die stark gegliederte Fassade des Bestands wurde ebenfalls weiß gestrichen und betont zusätzlich die Haltung der Architekten: Der Bestand gehört zu Miamis Moderne, der Neubau verkörpert ein völlig andere, zeitgenössische Moderne. Um dem Parkhaus nicht die Schau zu stehlen, ist auch die neue Filiale der Suntrust-Bank zusammen mit vier luxuriösen Patiowohnungen auf dem Dach in einer geschlossenen, zweigeschossigen, weiß verputzten Kiste unter­gebracht, die mit der Umgebung so sehr verschmilzt, dass man sie kaum als „Herzog & de Meuron“ erkennt.

Das Parken als Zeremonie

Die Basler Architekten verstehen kontextuelles Bauen nicht nur als eine architektonische Aufgabe, sondern auch als eine soziale und kulturelle. Bereits bei der Einfahrt in das Parkhaus wird klar, dass es zu einem einzigen Zweck entworfen wurde: die Erfahrung des Autoabstellens zu überhöhen. Mit jeder Kurve öffnet sich ein neuer Blick auf die Stadt, Rampe für Rampe erobert sich der Autofahrer ein weiteres gerahmtes Stück des Himmels über Florida: Die Architektur zwingt den Besucher geradezu, sich mit der Stadt auseinanderzusetzen. Die Form der Stützen führt den Blick zusätzlich nach draußen. Nach einer Weile vergisst man, dass man eigentlich einen Parkplatz suchen wollte, und fährt weiter nach oben, immer in Erwartung des nächsten, noch besseren Ausblicks. Ist das Auto dann endlich abgestellt, lädt die skulpturale Treppe ein, zu Fuß weiterzuklettern. Auch in der Vertikalen schöpfen die Architekten aus dem Vollen: Nichts erinnert an herkömmli­che Garagen mit Geschossdecken im Abstand von 2,80 Metern. Die Raumhöhen variieren, das zweite Geschoss hat eine Höhe von sechs Metern, das siebte sogar von neun, ein grandioser Ort für Veranstaltungen. Dass hier nicht die maximale Flächenausnutzung maßgeblich war, sondern luxuriös mit Raum umgegangen werden konnte, ist den Verhandlungen zwischen dem Investor Robert Wenett und der Stadt Miami zu verdanken. Letztere erkannte das Potential des Projektes und genehmigte an der Ecke Lincoln/Alton Road mehr Höhe, jedoch nicht mehr Geschossfläche.

Wie viel Geld verdienst du?

Das Auto bleibt Statussymbol Nummer eins in den USA, und nirgendwo ist die Zurschaustellung von Status und Reichtum wichtiger als in Miami, dem Dubai der 1920er Jahre. Herzog & de Meuron haben es geschafft, dem „Spirit“ von South Beach eine architektonische Entsprechung zu geben: Der Neubau ist ein Monument für das Automobil, aber auch ein Billboard, auf dem man seinen Wohlstand öffentlich zeigen kann. Welches Auto fährst du? Wie viel Geld verdienst du? Von welchem Designer sind deine Klamotten? Das sind auch heute noch die Dinge, die in Miami zählen. Das Parkhaus ist die perfekte Bühne für die „celebutantes“ von South Beach, die mit ihrem Auftritt die Aufmerksamkeit der Touristen auf sich ziehen.

Ein Bodybuilder im Tutu

Aber ist die Parkgarage wirklich „all muscle without cloth“, also der pure Muskel, wie Jacques Herzog gern zitiert wird? Die nackte Haut ist eine akzeptierte Ausdrucksform in South Beach, und doch stimmt die Analogie nicht ganz, denn vor Ort zeigt sich das Gebäude eher als ein Bodybuilder im Tutu. Die Schönheit der Struktur, die an- und abschwillt, sich stets in die richtige Richtung streckt und dehnt und die in ihr fahrenden Autos veredelt – diese Präzision wird leider bei den Verkaufsflächen im Erdgeschoss nicht erreicht: Konventionelle Rundstützen stehen hinter der Schaufensterfront. Hier fehlt die Helligkeit und Transparenz der oberen Ebenen. Nur auf der Nordseite ist die Struktur bis auf den Boden gezogen. Der Fußgängeraufgang zum Parkhaus liegt zudem zurückversetzt und wenig einladend in einer Passage. Diese fehlende Verbindung zu der neu gestalteten Plaza und der autofreien Lincoln-Promenade ist die einzige Schwachstelle des Projekts. Es hätte dem Ensemble gutgetan, wenn die „Muskeln“ sich auch auf der Straßenebene hätten zeigen können – aber so viel Perfektion wäre wohl kaum auszuhalten gewesen.



Fakten
Architekten Herzog & de Meuron, Basel
aus Bauwelt 21.2010

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