Brunnenstraße 9
Der inszenierte Rohbau
Text: Kleilein, Doris, Berlin
Brandlhuber + ERA, Emde, Schneider haben in Berlin eine Baulücke geschlossen mit einem Haus, bei dem das Unfertige Programm ist. Das Wohn- und Geschäftshaus will nicht viel mehr sein als ein Rohbau mit temporärer Hülle. Die zur Schau gestellte Brutalität trifft den Nerv in einer Stadt, die sich selbst gern im Werden begreift.
Die Brunnenstraße ist einer der letzten sperrigen Straßenzüge in Berlin-Mitte: laut und immer noch ein wenig schäbig. In den Höfen und Schaufenstern hat jedoch die „Kreativindustrie“ längst Einzug gehalten, und spätestens mit der Räumung des besetzten Hauses Nummer 183 durch 600 Einsatzkräfte im November wird auch dem oberflächlichen Beobachter deutlich, dass die Zeit der großen Freiräume hier vorüber ist: Fensterlos und mit Stahlplatten gesichert wartet die Hausruine auf ihre Umwandlung in Eigentumswohnungen „with a view on the park“, den angrenzenden Weinbergspark.
Schräg gegenüber, in der Nummer 9, steht seit einigen Wochen ein Neubau, der den Abgesang auf das Berlin der neunziger Jahre noch einmal inszeniert. Das Wohn-, Atelier- und Galeriehaus von Arno Brandlhuber + ERA, Emde, Schneider erinnert an das, was möglich gewesen wäre in den vielen Baulücken nach der Wende – und kommt in seiner Ruppigkeit doch mindestens zehn Jahre zu spät. Wenn das große Scheunentor offen steht, zieht sich die Brunnenstraße hinein in die über drei Geschosse mäandrierenden Räume der Galerie Koch Oberhuber Wolff. Die Innenräume sind von einer Direktheit, wie man sie an improvisierten Nutzungen in Berlin schätzt und bei vielen Neubauten vermisst. Die Fassade ist nicht steinern, sondern leicht und billig, als könne sie bei Bedarf ausgewechselt werden. Das Haus verspricht all das, wofür Berlin nach dem Mauerfall stand: offen zu sein für Aneignung, wandelbar, unfertig. Im Jahr 2009 ist das im Bezirk Mitte allerdings nicht mehr so einfach, auch der „Guerrilla Store“ des japanischen Modelabels Comme des Garçons ein paar Häuser weiter arbeitet mit den gleichen Strategien.
Investorenruine aus den Neunzigern
Arno Brandlhuber, vormals Partner im Kölner Büro b&k+, war 2006 vom Rhein an die Spree gezogen und hatte kurz darauf das Grundstück Brunnenstraße 9 erworben. Ein Grundstück, das über zehn Jahre lang trotz hohem Investitionsdruck rundum niemand haben wollte: Zum Wohnen war es eigentlich zu laut, auch war es 1993 mit einem Kellergeschoss samt Aufzugskern bebaut worden, in dem sich Wasser und Abfälle sammelten; hinzu kamen zwei Drittel der Bodenplatte des Erdgeschosses. Überdies hatte der Eigentümer weitere Bedingungen an den Verkauf geknüpft, unter anderem verlangte er eine bestimmte Dachneigung des Vorderhauses, damit das in seinem Besitz verbleibende Hinterhaus nicht verschattet werde. All das hat die Architekten nicht abgeschreckt, sondern im Gegenteil ihre Vorstellungskraft angeregt: Wie bei ihren Kölner Bauten (Hefte 5.1998 und 9.2001) haben sie die Beschränkungen als Formgeneratoren der Architektur nahezu freudig begrüßt. Ihre erste Überlegung war, zunächst nur ein einziges Geschoss auf die Ruine zu bauen und die Anschlussbewehrung herausstehen zu lassen, eine Art High-End-Gecekondu. Dabei ist es nicht geblieben, schließlich hat das Budget doch für einen viergeschossigen Weiterbau der Investorenruine gereicht. Der Keller wurde gereinigt und poliert und bildet heute das Untergeschoss der Galerie. Die Außenwände und der Aufzugsschacht wurden in Stahlbeton hochgezogen bis an die Traufkante. Die neuen Geschossdecken greifen die unterschiedlichen Raumhöhen der Nachbarhäuser auf: Der daraus resultierende Versprung bildet sich in der Fassade ab und zieht sich als 40 Zentimeter hohe Stufe durch die Geschossflächen.
Bei der Fassade griffen die Architekten auf ein Material zurück, das sie zuletzt bei ihrer Sporthalle in Kopenhagen (Heft 10.2007) großflächig eingesetzt hatten: Sie besteht weitgehend aus in Alurahmen gefassten Polycarbonatplatten, innen durchsichtig, außen mit einem hitzebeständigen Überzug versehen. Jedes Geschoss hat zudem zu beiden Seiten eine raumhohe feststehende Verglasung, die Ausblicke zulässt und – bei der Galerie – Einblicke bis in das Untergeschoss.
Der „Rohbau“ ist erschlossen über eine außen liegende Betontreppe auf der Hofseite, die die Breite des Hauses durchmisst und an der Brandwand eine Kurve zum vierten Stock schlägt. Zwar gibt es innerhalb des Hauses noch weitere Treppen (in der Galerie, zwischen der Wohnung und dem Atelier), doch konnte so auf ein Treppenhaus bei ohnehin knapper Geschossfläche verzichtet werden. Das soziale Innenleben des Hauses bildet sich zum Vergnügen der Nachbarn auf der Freitreppe ab: Auf den Treppenabsätzen wird geraucht, telefoniert, Gäste kommen und gehen. Die Treppe war Gegenstand langwieriger Verhandlungen mit den Berliner Behörden und hat den Baubeginn im Jahr 2008 erheblich verzögert. Man wollte keinen Präzedenzfall für diese untypische Art der Erschließung schaffen. Die Architekten modifizierten ihr Konzept (größere Abstände zur Fassade, die den Feuerüberschlag verhindern; eine teilweise Anhebung des Bodenniveaus im Hof, so dass an zwei Fenstern im dritten Geschoss angeleitert werden kann), beauftragten externe Gutachten und konnten so – da trotz positiver Prüfung keine Baugenehmigung erteilt wurde – schließlich eine fiktive Baugenehmigung erwirken.
Der veredelte Rohbau
Wenn die Architekten über den Neubau sprechen, wird deutlich, dass es hier um weit mehr geht als um die Schließung einer Baulücke: Ziel war der „bewohnbare Rohbau“, ein Haus, das ohne Trittschalldämmung und ohne Wärmeschutz auskommt; ein Gebäude, das dem überregulierten deutschen Baurecht trotzt. Wie weit kann man ein Bauteil reduzieren? Welche Details sind wirklich nötig?
Dass diese Einfachheit nicht immer einfach herzustellen ist, konnte bereits im Februar dieses Jahres beobachtet werden: Im Schneetreiben wurde die gegossene und verdichtete Betondecke flügelgeglättet und anschließend aufwendig mit einer Folie gegen Kälte und Nässe geschützt. Dafür kann sie nun im „Rohzustand“ benutzt werden. An manchen Stellen fallen die Kompromisse mehr ins Auge: Im vierten Geschoss beispielsweise ist die Betondecke von unten gedämmt und mit Sperrholzplatten verkleidet, um Bauschäden durch die darüber liegende Dachterrasse abzufangen. Hinzu kommen eine Reihe von Speziallösungen, die mit Handwerkern entwickelt wurden, wie das Geländer der Außentreppe und auch die innere Aussteifung der Fassade: Dicke Eichenbohlen nehmen die Windkräfte auf und dienen zugleich als Ablage. An Decke und Boden geklebte Stahlstäbe halten die Bretter in der Waagrechten und können per Hand nachgespannt werden. Die Architekten haben ihr Misstrauen in herkömmliche Lösungen auch bei der Produktrecherche leidenschaftlich ausgelebt: Allein für die Badezimmerausstattung wurden über zwei Jahre hinweg braune Colani-Waschbecken und -Toilettenschüsseln im Internet ersteigert. Die Aufzug- und Lichtschalter wiederum entstammen einer klassisch strengen Produktreihe, Baumarktprodukte wird man vergeblich suchen. Die Brutalität des Rohbaus ist fein abgestimmt.
Bauen als Selbstversuch
Radikaler ist da schon der Umgang mit der Akustik. Die Polycarbonatfassade hat ähnlich wie Glas einen G-Wert von o,9, das einfallende Licht ist mild – akustisch dagegen ist sie eine Zumutung. Der Straßenlärm verteilt sich auf der gesamten Fassadenfläche und schafft einen wummernden Grundton. Sollte sich das über längere Zeit als störend erweisen, so die Architekten, kann mit einer innen liegenden Einfachverglasung nachgerüstet werden. Überhaupt sei die Hülle nicht auf Dauer angelegt. In die Geschossdecken einbetonierte Winkel, die andere Fassadenelemente aufnehmen können, garantieren die Wandelbarkeit bis hin zum ausfachenden Mauerwerk. Das Bauen wird als ein demonstrativer Langzeitversuch gesehen.
Derart lässt sich natürlich nur aus einer ganz besonderen Konstellation heraus argumentieren: Arno Brandlhuber tritt als Bauherr, Investor und Architekt in Personalunion auf. Nach einer gemeinsamen Entwurfsphase hat er die Ausführungsplanung und Bauleitung seinen Partnern Markus Emde und Thomas Schneider überlassen. Nun ist er in das dritte und vierte Geschoss mit seinem Büro eingezogen, in die Dachgeschosswohnung mit seiner Katze. Lediglich die Galeriebetreiber, die bereits zu einem frühen Zeitpunkt in die Planung einbezogen wurden, sind „Fremdnutzer“. Der bereits mehrfach gezogene Vergleich mit innerstädtischen Baugruppen ist daher schlichtweg unsinnig. Die Baukosten liegen zwar mit weniger als 1000 Euro pro Quadratmeter unter dem Durchschnitt, die Bauvorschriften sind bis an die Grenzen ausgelotet, das Gebäude zeugt von großer Experimentierfreudigkeit – und doch ist die Brunnenstraße 9 kein Modell für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen in der Stadt. Eher ein sehr großes Eigenheim, das, stünde es nicht in Berlin-Mitte, wohl auch weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde.
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