Bauwelt

Der Himmel über Offenbach



Text: Friedrich, Jan, Berlin


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    Abb.: Stadt Offenbach, Dez I Stadtplanung und Baumanagement

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    Abb.: Stadt Offenbach, Dez I Stadtplanung und Baumanagement

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    Abb.: Fraport Ag

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    Abb.: Fraport Ag

Am Frankfurter Flughafen hat eine neue Landebahn ihren Betrieb aufgenommen. Offenbach liegt direkt in der Einflug­schneise. Die 120.000-Einwohner-Stadt ist zu einer riesengroßen Fluglärm-Schutzzone mit enormen Baubeschränkungen geworden und sieht sich ihrer kommunalen Planungshoheit beraubt. Ein bislang beispielloser Fall
„Sie sind kein gebürtiger Berliner ...“ „Nein, ich komme aus Offenbach. Offenbach am Main. Das ist direkt neben Frankfurt.“ „Ja klar, das kenne ich. Da fahre ich gelegentlich mit dem ICE durch.“ Wie oft habe ich das schon gehört. Wobei ich auf dem Gesicht meines Gesprächspartners, wenn er „das kenne ich“ sagt, meist den Anflug eines süffisanten Grinsens zu erkennen glaube. Meine Heimatstadt gilt nicht eben als Perle. In Zukunft werde ich auf eine Variante dieser Konversation gefasst sein müssen: „Offenbach? Kenne ich. Da fliegt man doch drüber, wenn man in Rhein-Main landet.“
Schon immer, seit es in Frankfurt den Flughafen gibt, liegt Offenbach in der Einflugschneise. Der Lärm der Maschinen auf ihrem Weg zu den gut zehn Kilometer entfernten Landebahnen gehört zur Geräuschkulisse der Stadt, solange ich mich erinnern kann. Schulfreunde wussten den Flugzeugtyp am Klang des Motors zu nennen. Und jedes Kind in Offenbach kann sagen, ob der Wind gerade aus Osten oder aus Westen weht. Bei Westwind ist es laut, weil der Landeanflug von Osten nach Westen, also über Offenbach hinweg, stattfindet – das ist zu etwa drei Vierteln des Jahres der Fall. Bei Ostwind ist es ruhiger: Die Start- und Landebahnen werden in der anderen Richtung betrieben, und die startenden Flugzeuge sind über Offenbach schon wesentlich höher. Ich hatte immer Angst, ein Flugzeug würde abstürzen und ausgerechnet auf unser Haus fallen. Vor allem vor dem Einschlafen lauschte ich auf verdächtiges Dröhnen der Triebwerke und malte mir schaurige Szenen aus. Nicht, dass die besonders realistisch gewesen wären: Die Flugzeuge waren in Wahrheit viel zu weit weg; ihre Route führte über den südlichen Stadtrand, und wir wohnten weiter im Zentrum.
Fluglärm macht gleicher
Heute wären meine Kindheitsängste weit weniger irreal: Seit zwei Monaten fliegen die landenden Maschinen direkt über die Innenstadt von Offenbach. Ende Oktober hat der Flughafenbetreiber, die Fraport AG, eine vierte Bahn in Betrieb genommen; die „Landebahn Nordwest“ ergänzt die beiden Start- und Landebahnen im Süden des Flughafens und die Startbahn im Westen. Frankfurt ist in ständiger Sorge um seine Stellung als größter Airport in Deutschland und als drittgrößter (gemessen am Passagieraufkommen) bzw. zweitgrößter (gemessen am Frachtaufkommen) in Europa; die Antwort auf den zunehmenden Luftverkehr kann aus dieser Perspektive nur lauten: Kapazitätssteigerung; um Arbeitsplätze in Hessen zu sichern; um zukunftsfähig zu bleiben. Doch das Wachstumsparadig­ma birgt enormes Konfliktpotenzial. Der Flughafen liegt mitten im dicht besiedelten Rhein-Main-Gebiet; jede Erweiterung führt unweigerlich zur Konfrontation mit den Menschen in den benachbarten Städten, die durch noch mehr Fluglärm ihre Lebensqualität bedroht sehen. 
Die neue Landebahn Nordwest bedeutet für Offenbach: Bis zu 700 Maschinen täglich überfliegen die Stadt, in einer Höhe zwischen einem Kilometer und 700 Metern; im Jahr 2020 sollen es 1000 Überflüge am Tag sein. Durch die neue Anflugroute hat sich die Einflugschneise auf jene Quartiere ausgedehnt, die bislang weitgehend unbehelligt waren: die gesamte Innenstadt, ebenso wie das Westend – eine typische „bessere Gegend“ mit den schönsten Gründerzeitvillen der Stadt. Fluglärm macht fast alle ein bisschen gleicher. 80.000 der 120.000 Offenbacher sind betroffen.
Kritiker warnen schon lange vor dieser enormen Belastung. Seit die Flugzeuge wirklich die Landebahn Nordwest anfliegen, kocht die Empörung hoch – nicht nur in Offenbach, auch in anderen Gemeinden, die zum Teil wesentlich näher am Flughafen liegen. Ein Streitpunkt ist das Nachtflugverbot. Im Augenblick darf zwischen 23 Uhr und 5 Uhr nicht geflogen werden. Ob es dabei bleibt, ist ungewiss. Das Nachtflugverbot war im Mediationsverfahren, das dem Planfeststellungsverfahren vorausging, ausgehandelt worden: Kompensation für die steigende Belastung. Doch das hessische Wirtschaftministerium als Planfeststellungsbehörde hatte trotzdem planmäßige Flüge während dieser Stunden genehmigt: 17 pro Nacht, im Jahresdurchschnitt – was für einzelne Nächte in Spitzenzeiten erheblich mehr bedeuten könnte. Der hessische Verwaltungsgerichtshof gab einer Klage gegen diese Genehmigung statt, deshalb gilt das Nachtflugverbot zurzeit. Doch die Landesregierung in Wiesbaden hat Revision eingelegt. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, die letzte Instanz, verhandelt am 13. März.
Den Lärm vor den Offenbachern schützen
In Leipzig wird es jedoch nicht allein um das Nachtflugverbot gehen, sondern um den ganzen Planfeststellungsbeschluss. Einer der Kläger ist die Stadt Offenbach. Sie argumentiert, die Nordwestbahn sei nicht „raumverträglich“. Denn nach den Bestimmungen des „Gesetzes zum Schutz vor Fluglärm“ liegen jetzt knapp 80 Prozent der Stadt im Lärmschutzbereich des Flughafens; für sie gelten die Bestimmungen der „Tag-Schutzzone 2“, weil sie einem Dauerschallpegel von mindestens 55 Dezibel ausgesetzt sind. Dort ist es zukünftig untersagt, lärmsensible Einrichtungen neu zu bauen oder in größerem Umfang zu erweitern: Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Altenheime. In 80 Prozent des Stadtgebiets – man muss sich das vorstellen!
Zwar kann Offenbach für jeden Einzelfall eine Ausnahmegenehmigung beim Regierungspräsidenten in Darmstadt beantragen. Unter welchen Umständen diese gewährt wird, ist aber nicht abzusehen. Eine Großstadt, die wegen Fluglärms derart in ihrer kommunalen Planungshoheit beschränkt wird: Das hat es in Deutschland noch nie gegeben. Im Offenbacher Rathaus spricht man davon, dass das Fluglärmgesetz nicht die Menschen vor Lärm schützt, sondern den Lärm vor den Menschen. Tatsächlich erscheint es sinnvoll, unbesiedeltes Gebiet in der Nähe eines Flughafens freizuhalten, aber hier liegt der Fall ganz offensichtlich andersherum: Der Flughafen ist quasi in die Stadt Offenbach hinein- oder eher noch über sie hinweggewachsen.
Dass die Offenbacher überempfindlich auf den Fluglärm reagieren, kann man kaum behaupten; sie haben sich über die Jahrzehnte daran gewöhnt. Und natürlich: Auch Offenbacher steigen in Flugzeuge, und sie weisen Päckchen, die per Luftpost transportiert wurden, nicht empört zurück. Allerdings: Selbst Leute, die kaum im Ruf stehen, wirtschaftsfeindlich zu sein (der Dezernent, der den offiziellen Offenbacher Kampf gegen den Flughafenausbau anführt, gehört der FDP an), stellen inzwischen infrage, dass es ein Naturgesetz gibt, welches besagt: Mehr Flugverkehr am Frankfurter Flughafen bedeutet automatisch mehr Lärm am Himmel über Offenbach. Man argumentiert für „aktiven Lärmschutz“, für neue, flexiblere Anflugverfahren, wie sie andernorts, in Amsterdam etwa, längst angewendet würden; für steilere Anflugwinkel, mit denen sich Flughöhe über der Stadt gewinnen ließe. Natürlich ist das auch ein letztlich hilfloser Versuch, die entscheidende Frage nicht beantworten zu müssen: Bis zu welcher Größe kann ein derart innenstadtnaher Flughafen noch wachsen? 
In Offenbach hofft man, dass das Bundesverwaltungsgericht nicht nur das Nachtflugverbot bestätigen, sondern auch aktive Lärmschutzmaßnahmen fordern wird, die dazu führen, dass die Planungsbeschränkungen weniger strikt ausfallen. Sollte Leipzig aber tatsächlich die Betriebsgenehmigung für die Nordwestbahn kassieren, dann spricht einiges dafür, dass der 13. März in Offenbach künftig ein Feiertag wird.




Adresse Offenbach am Main


aus Bauwelt 1-2.2012
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