Bauwelt

Geschwister-Scholl-Gesamtschule


Das große Vorbild aus Lünen


Text: Geipel, Kaye, Berlin


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Vor fünf Jahren haben wir über das Vorhaben berichtet, die legendäre Mädchenschule von Hans Scharoun endlich doch zu sanieren. Die sanfte Modernisierung durch die Architekten Oskar Spital-Frenking und Michael Schwarz ist exemplarisch. Dabei stellt der Bau selbst kritische Fragen an die Reformbemühungen im heutigen Schulbau.
Die Fußgängerzone in der Mitte von Lünen gleicht einem gebeugten Rücken, dem es an Training mangelt. Öffentliche Funktionen hängen lose und unvermittelt an diesem von Norden nach Süden verlaufenden städtischen Rückgrat. Die grünen Flussufer der Lippe etwa, die die Fußgängerachse auf der Hälfte kreuzen, wurden bislang nur halbherzig mit dieser Achse verknüpft. Auch das elegante Heinz-Hilpert-Theater des Bonatz-Schülers Gerhard Graubner von 1958 auf der Ostseite der Fußgängerzone liegt verloren abseits.
Dann allerdings, wenn man der Langen Straße noch ein Stück weiter folgt, stößt man hinter dem Wallgang auf einen schon seit Jahren kaum noch wahrgenommenen, jetzt im Stadtbild wieder präsenten Vorzeigebau: die zwischen 1956 und 1962 in drei Bauabschnitten realisierte „Mädchenschule“ von Hans Scharoun. Mädchenschulen gibt es heute nicht mehr. Auch die Schule in Lünen ist längst gemischt und heißt inzwischen Geschwister-Scholl-Gesamtschule. Aber es grenzt fast an ein Wunder, dass dieser architektonisch wichtigste Bau der Stadt, Auslöser für eine Schulbau-Reformdebatte in den 60er Jahren, saniert werden konnte und weiter als Schule genutzt wird. Die denkmalgerechte Sanierung ist einer Reihe von Zufällen zu verdanken. Schrumpfende Bevölkerungszahlen in der Stadt und eine komplizierte Raumdisposition ließen die dringend notwendige Sanierung der von Bauschäden gezeichneten Schule im Lauf der letzten Jahre immer unwahrscheinlicher werden. Erst die Zusage der Wüstenrot Stiftung, sich an der Instandsetzung maßgeblich zu beteiligen, hat diese dann möglich gemacht (zum Sanierungsvorhaben siehe Heft 8.2008). Die Kosten von rund acht Millionen Euro wurden zur Hälfte von der Stadt, zu je einem Viertel von der Stiftung und dem Land Nordrhein-Westfalen getragen. Nach einer dreieinhalbjährigen Sanierungsphase konnte die Geschwister-Scholl-Schule am 29. April mit einem Festakt wieder eröffnet werden.
Es gibt wohl keinen anderen Schulbau aus jener Zeit, an dem sich derart exemplarisch ablesen lässt, dass es zur standardisierten Schulmoderne der 60er Jahre mit ihren gerasterten Blöcken eine wirkliche Alternative gegeben hatte. Scharouns individualistischer Schulentwurf besteht aus freien, immer auch nach außen agierenden Raumformen, die nur auf den ersten Blick wie zufällig zusammengesetzt erscheinen. Ganz im Gegenteil lag ihnen – schon die legendären Darmstädter Gespräche von 1951 bezeugen es – ein gründlich durchdachtes und eigensinniges pädagogisches Konzept einer demokratischen Schularchitektur zugrunde (Bauwelt Fundamente Band 94). Gegen die sich abzeichnende Industrialisierung des Schulbaus kam der Reformpathos Scharouns mit hohem Ton daher. Der Architekt erläuterte sein Konzept mit bildkräftigen, heute teilweise verstaubt wirkenden Begriffen. Da gab es „Schulschaft als geheimer Bezirk“, „räumliche Pforten“, „Wege der Begegnung“ und vor allem das Konzept der
„Klassenwohnungen“, das in Lünen in eine vorbildliche Raumfolge übersetzt worden ist. Über die Frage, ob solch ein feingliedriges Gestaltungskonzept generell zukunftsfähig sei, entbrannte bereits 1951 in Darmstadt heftiger Streit. Paul Bonatz warf Hans Scharoun vor, die Bauaufgabe zu „zerdenken“.
Der Vorzeigebau in Lünen straft Bonatz Vorwurf noch heute Lügen. Allerdings stellten die zergliederten Raumfolgen mit ihren schon damals waghalsigen Details eine enorme Her­ausforderung an die jetzige Sanierung. Die beauftragten Architekten Oskar Spital-Frenking und Michael Schwarz waren konfrontiert mit einer Fülle von im Lauf der Jahrzehnte hinzugekommenen Minisanierungen und verbastelten Reparaturen. Die komplexen Raumfolgen mussten erst wieder freigelegt werden, um die Scharoun’sche Idee des Fließens und die in Pastellfarben markierten Übergänge sichtbar zu machen.
Das ist auf überzeugende Art und Weise gelungen. Die Freilegung zeigt mehr als eine architektonische Haltung. Die Schule in Lünen macht den Zusammenhang zwischen Körper und Raum wieder anschaulich, der Scharoun so wichtig war. Die Räume agieren auf den Nutzer hin, zeigen, wie groß er ist, wie klein, wie beweglich und wie still, je nachdem, in welchem Raum er sich befindet. Besonders anschaulich wird dieses Prinzip an den schneckenartig angelegten Klassenwohnungen mit ihrer gestaffelten Abfolge von Garderobe, Klassen- und Gruppenraum und einem jeweils zugeordneten Freibereich, den die Schüler selbst bepflanzen können. Alle diese Räume haben ihre individuelle Form, die darüber hinaus zugeschnitten ist auf die jeweilige Alterstufe der Schüler. Der etwas in Mode geratene Begriff der Entschleunigung kommt einem in den Sinn. In Lünen hat er seine Berechtigung: Jedem Raum seine Zeit.
Schwierige Sanierungsentscheidungen
Bei der Sanierung der komplexen Dach- und Fassadenformen, mussten Abstriche gemacht werden, gerade was die energetische Modernisierung dieser Bauteile betraf. „Wir haben ertüchtigt, aber nicht optimiert. Der Bau ließ sich im Ganzen gar nicht dämmen“, so der Architekt Oskar Spital-Frenking – und zwar sowohl im Sinne des Denkmals als auch einer noch tragbaren Finanzierung. Der Stolz darauf, dass es gelungen war, einen Weg zu finden, der von allen Beteiligten akzeptiert werden konnte, war bei der Eröffnung spürbar. Die besonderen Umstände der Finanzierung waren dabei nicht unbedeutend, darauf wies Philip Kurz, Geschäftsführer der Wüstenrot Stiftung hin. Die Beteiligung eines Teil-Auftraggebers und Sponsors habe es manchmal einfacher gemacht, auch außerhalb der üblichen Vorschriften die jeweils richtige Lösung zu finden. Entscheidende Voraussetzung sei jedenfalls die ausführ­liche Sanierungsstudie gewesen, die am Anfang des Revita­lisierungsprozesses stand – ohne sie hätten die unzähligen Entscheidungen nicht so leicht gefällt werden können.
Man kann all denen, die sich über Innovationen im Schulbau Gedanken machen, nur empfehlen, sich die sanierte Schule in Lünen anzusehen. Allein schon die jetzt wieder sichtbaren räumlichen Qualitäten des zentralen Foyers begeistern: Ein Raumgefüge mit Erlebnisqualitäten ist zu besichtigen, wie es heute nicht besser gemacht werden kann – angefangen von den eingehängten Aufgängen zu den Fachsälen über die getreppte Topographie des Großraums bis hin zur dramaturgisch eingesetzten Farbgebung, die die Übergänge markiert. Gleichzeitig steht der Bau für die geschichtliche Entwicklung. Er zeigt die Suchbewegung einer Entwurfssprache, die die Bedürfnisse des Einzelnen und der jeweiligen Gruppe unter einen Hut bekommen und dafür die jeweils passende Raumform finden wollte. Das gestalterische Pathos der Nachkriegszeit ist zum Teil überkommen: Scharoun glaubte an die Kraft einer Architektur, der eine unverbrauchte und unmittelbare Beziehung von Raumform und gesellschaftlichem Bildungsideal gelingt.
Allein angesichts der zahllosen Hüllflächen hätte ein solcher Entwurf bei einem Wettbewerb heute wohl keine Chance mehr, zu sehr sind uns die ökonomischen Zwänge in Fleisch und Blut übergegangen. Wir glauben stattdessen an die gut gemachten, nutzungsoffenen Kisten, die auch architektonisch zeigen, dass wir sie uns leisten können. Die Bedeutung solcher schulischen Case Studies ist allerdings ungebrochen. Auch für die japanischen Architekten Kazuhiro Kojima und Kazuko Akamatsu, deren Bau in Uto wir auf den folgenden Seiten vorstellen, zählt die Scharoun-Schule zu den wichtigen Referenzen ihrer Arbeit. Dies betrifft weniger die anthropologischen Raumformen, die sich wie ein Handschuh über die jeweiligen Nutzungen stülpen, als die spezifische Öffnung des Raums, die Scharoun für die unterschiedlichen Funktionen entworfen hatte. Selbst wenn wir heute so nicht mehr bauen würden, bleibt die Frage: Wo sind Programme, die ähnlich mutig wie vor 50 Jahren (Heft 37.1960) gegen die räumlichen Schulbau-Standards andenken?



Fakten
Architekten Spital-Frenking + Schwarz, Lüdinghausen; Scharoun, Hans (1893-1972)
Adresse Holtgrevenstraße 2-6, 44532 Lünen ‎


aus Bauwelt 25.2013
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