Auf einer künstlich angelegten Halbinsel im IJ hat der Amsterdamer Architekt Felix Claus den neuen Paleis van Justitie errichtet. Durch eine Zweiteilung des Baukörpers und weitere Aussparungen wurde dem massiven Volumen im Inneren Struktur gegeben
Die Amsterdamer Innenstadt wird durch den IJ, einen Arm des IJsselmeeres, vom Stadtteil Amsterdam Noord getrennt. Auf künstlichen Inseln und Deichen wird in der Stadt seit jeher nah am Wasser gebaut. Das neue Gerichtsgebäude von Felix Claus ist Teil eines architektonischen Ensembles auf einer künstlich angelegten Halbinsel im IJ. Dieser sogenannte IJDock ist ein wichtiger Baustein der seit längerem vorangetriebenen Revitalisierung der Ufer sowie der städtebaulichen Planung, mit der das Amsterdamer Zentrum zur früheren Hafenfront hin geöffnet werden soll. Diese Entwicklung wird an der Umgestaltung des östlichen Hafengebiets, des Oosterdoks- und des Westerdokseilands sowie am gegenüberliegenden Ufer deutlich. Als ersten Bau haben die Wiener Architekten Delugan Meissl 2012 dort das neue Filmmuseum EYE fertiggestellt.
Ein alter Masterplan
Der IJDock wurde als gemeinsames Vorhaben vom staatlichem Hochbauamt RGD Rijksgebouwendienst, dem Bauträger a.s.r. vastgoed ontwikkeling und der Gemeinde Amsterdam entwickelt. Der Bebauungsplan für das Areal auf der Halbinsel entstand vor 16 Jahren. Die Verantwortung dafür lag in den Händen von zwei Architekten, die damals noch zum Büro Architectengroep gehörten: Dick van Gameren (Architekturbüro Dick van Gameren architecten) und Bjarne Mastenbroek (Architekturbüro SeARCH). Neben dem Gerichtsgebäude sollten auf der gemischt genutzten Halbinsel Hotels, Büros und Wohnungen entstehen. Diese wurden in 2013 von Bakers Architecten und Zeinstra van Gelderen Architecten realisiert. Um die verschiedenen Funktionen auf der Halbinsel unterzubringen und gleichzeitig keinen monolithischen Block gegenüber der kleinteiligen Altstadt zu errichten, hatten van Gameren und Masterbroek entschieden, den ganzen Komplex aufzubrechen. Der Zusammenhang zwischen den einzelnen Gebäuden sollte erkennbar bleiben. Mit Einschnitten, sogenannten „Canyons“, gedacht als Verlängerungen der Grachten, wurde ein Pendant zu der vom Grachtengürtel geprägten, charakteristischen Morphologie der Stadt kreiert. Durch die Akzentuierung vorhandener und neuer Sichtachsen sollte das Ensemble in der Stadt verankert werden. Nicht nur die seit der ersten Planungsphase Anfang der Neunziger vergangene Zeit, auch die hohen Baukosten lassen erahnen, dass der Entwurf einer bereits vergangenen Epoche, der Zeit vor der Wirtschaftskrise, entstammt.
Ein neues Gebäude für die Justiz
Der alte Justizpalast aus dem Jahr 1663, an der Prinzengracht gelegen, hatte heutigen Anforderungen der Arbeitswelt nicht mehr entsprochen. Der Gerichtshof wünschte sich, der eigenen Bedeutung wegen und um Präsenz im Stadtbild zu zeigen, weiterhin einen innerstädtischen Standort. Deshalb wurde der neue Paleis van Justitie auf der südlichen Spitze des IJDock platziert. Der Architekt Felix Claus konnte sich 2006 in einem Wettbewerbsverfahren durchsetzen und wurde mit der Realisierung beauftragt.
Den geteilten Kubus bezogen der Amsterdamer Gerichtshof und die Staatsanwaltschaft. Etwa 700 Arbeitsplätze gibt es hier, neben 19 Sitzungssälen und 26 Zellen für Angeklagte. Ein Steg verbindet beide Gebäudeteile im sechsten Obergeschoss miteinander. Dieses wurde als ein zu großen Teilen öffentliches Zwischengeschoss gestaltet, mit Restaurants, einer Bibliothek und Konferenzräumen. Von hieraus lässt sich auch die Dachterrasse betreten, eine der drei großen Aussparungen im Gebäudevolumen, die die Fassade deutlich akzentuieren. Die Terrasse liegt der Stadt zugewandt und ist von der Kantine und den Konferenzräumen zugänglich. Wie von einem Bilderrahmen gefasst, blickt man durch ein großes Panoramafenster auf die pittoreske Amsterdamer Innenstadt. Die niederländische Künstlerin Barbara Broekmann hat für den Außenraum einen bunt gemusterten Fliesenfußboden entworfen.
Die strikten Vorgaben des Bebauungsplans, die die Kubatur des Gebäudes bestimmen, kompensierte der Architekt mit der Gestaltung der Fassade. Sie setzt sich aus fünf verschiedenen, weißen oder hellgrau gefärbten Fassadenverkleidungen zusammen: Naturstein, keramische Fliesen, weißer Beton, glasierter Backstein und pulverbeschichtete Stahlplatten wurden in horizontalen Bändern angebracht. Das Streifenmuster bricht die Massivität des großen Volumens auf. Die helle Fassade unterstreicht den prominenten und artifiziellen Standort am IJ und setzt das Gebäude eindeutig von den überwiegend dunklen Tönen der klassischen Amsterdamer Backsteinhäuser ab.
Viel Marmor und Walnussholz
In den vier Geschossen über der Zwischenzone sind die Büroräume des Amsterdamer Gerichtshofs untergebracht. Unterhalb dieser Transferzone befinden sich die Stockwerke mit den größtenteils öffentlich zugänglichen Bereichen – darunter auch die Gerichtssäle –, die ausdrücklich mit Blick auf ihre öffentliche Funktion gestaltet sind. Die auf drei Niveaus aufgeteilten Bereiche sind durch seitlich angeordnete, schmale Treppen und Rolltreppen miteinander verbunden. Offene „Schächte“ ermöglichen Sichtbeziehungen zwischen den unterschiedlichen Ebenen; Öffnungen zu den Gerichtssälen erlauben Einblicke in einen sonst abgeschlossenen Bereich.
Die räumliche Kontinuität und die Bedeutung dieser öffentlichen Erschließung – in den Fluren befinden sich vor den Sitzungssälen auch Wartebereiche – wird durch den an Boden und Wänden üppig angebrachten Marmor noch verstärkt. Das mag ein auf den ersten Blick ungewöhnliches Material für Amsterdam zu sein, doch der Marmor wurde als eine Referenz an den Amsterdamer „Paleis op de Dam“ gewählt. Im Königlichen Palast befindet sich der älteste Gerichtssaal der Stadt, der Vierschaar. Er ist komplett mit Marmor ausgestattet.
Für einen visuellen Kontrast zum grauen Marmor sorgen die runden Lichtinstallationen und die Kassettendecken aus Walnussholz. Hinter ihnen verbergen sich die technischen Anlagen des Hauses. Zugleich sind sie aber auch als Akustikdecken ausgebildet, um den Geräuschpegel in den Gängen zu minimieren. Bei der Auswahl der hochwertigen Materialen wurde besonders auf geringe Instandhaltungskosten geachtet. Ein anderes wichtiges Kriterium war die unkomplizierte Austauschbarkeit von Bauteilen. Die restlichen Räume des Gebäudes sind, egal ob es sich um Gerichtssäle, Konferenzzimmer, Büros, Flure oder auch die Haftzellen handelt, überwiegend in hellen oder weißen Tönen gehalten. Die Büroräume wurden von OTH-architecten entworfen. Im neuen Paleis van Justitie finden sich an verschiedenen Stellen Kunstwerke von Marien Schouten und Ad de Jong.
Die bewusst eingesetzte Farbgebung kaschiert die kaum wahrnehmbare, komplexe Aufteilung der beiden Gebäudeteile und die unterschiedlichen Wege zu den einzelnen Bereichen. Dazu gehören neben jenen, die der Öffentlichkeit zugänglich sind, auch die gesicherten Bereiche der Anwalts- und Richterbüros und die Aufenthaltsräume für die Häftlinge. Die Wege all dieser Bereiche verlaufen voneinander getrennt durch das Gebäude. Sie treffen nur in den Gerichtssälen aufeinander. So ließ sich der Neubau für die Justizbehörde als ein öffentliches Gebäude realisieren. Nicht zuletzt rechtfertigt dies auch seine Platzierung an dem prominenten Standort am Kopf des IJDocks.
Aus dem Niederländischen von Birgit Erdman
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