Kapitel 1: Die Rolle der Zeichnung
Schmale und sehr schmale Linien bei SANAA
Text: Schmidt, Marika, Berlin
Zusammenhängen mit dünnen Linien wird heute – genauso wie die Darstellung von Entwürfen in komplexen Bildgeschichten, die auf solch einfachen Zeichnungen beruhen – von vielen japanischen Büros praktiziert. Beides hat in Japan Tradition. Überwiegend gezeichnete Erzählungen auf bis zu zehn Meter langen Rollbildern transportieren seit dem 8. Jahrhundert das zeitliche Erfahren einer Geschichte. In der religiösen Übung der Kalligrafie emanzipiert sich das Schriftbild als grafisches Kunstwerk vom Inhalt und bleibt in der Verfeinerung der Linie als Sinnbild eines nie endenden Prozesses unendlich wiederholbar. Die offizielle Darstellung von Städten und Gebäuden erfolgt im hierarchielosen Kartieren der Räume in Umrisslinien. Die Reduktion der Raumbegrenzung auf eine Linie im zweidimensionalen Grundriss hat das Hervorheben des wesentlichen Charakters des Raumes zur Folge: der Form der Oberfläche und des Wesens der Öffnungen.
Das Büro SANAA hat über die Jahre das Prinzip der zeichnerischen Darstellung mittels der einfachen Linie perfektioniert. Die Zeichnung ist ständiger Begleiter des Entwerfens in Modellen. Kazuyo Sejima: „I like the debris that results from making studies – drawings, rough models, sketches and so on – as they have an elusive charm that differs from that of completed objects.“ Und Ryue Nishizawa sagt: „The reason why we like hand drawings is because the abstraction it allows is more personal than that of a computer.“
Im entwurflichen Prozess werden zur Formulierung der jeweiligen Idee Modell und Zeichnung präzise formuliert. Die Zeichnung optimiert dabei die kompositorische Ordnung des gesehenen Modells und ist zugleich Ausgang für eine neue Überlegung; die Raumbegrenzung bleibt dabei eine einfache Linie. Teilweise erlangen diese Entwurfszeichnungen eine solche Vollkommenheit, dass das eigentlich Dargestellte, der Raum, nebensächlich scheinen könnte. Diese Art zu zeichnen hat aber auch Konsequenzen. Sie führt mit der Zeit zur Minimierung stilistischer Mittel, so dass kein anderes raumbildendes Element übrig bleibt als die Linie als Abbild der glatten Fläche. Die Vereinfachung auf die Linie ist grafisch reizvoll wie entwurflich Programm und Krux zugleich:
– Programm, da mit wenigen Elementen eine Räumlichkeit beschrieben wird, die aus eben diesen wenigen Elementen besteht. In der gegenseitigen kompositorischen Verfeinerung von Zeichnung und Modell sind entrückte Architekturen wie der Glas-Pavillon in Toledo (Bauwelt 44.06) entstanden, in denen selbst technische Zeichnungen auf verblüffende Weise Raum und Idee widerspiegeln. Die weithin bekannte Handzeichnung zum Kunsthaus in Almere ist von vielen als Inbegriff einer „diagrammatischen Architektur“ verstanden worden. Sie zeigt exemplarisch die Kongruenz von räumlicher Absicht, Programm und Nutzung.
– Und Krux, da die idealisierten Lininen, wie das Beispiel des Rolex-Centers in Lausanne (Bauwelt 13.10) zeigt, wenig von der Körperlichkeit des Projektes transportieren und im weiteren Entwurfsprozess wieder in die Materialisierung „zurückgeführt“ werden müssen. Wie kaum ein anderes Projekt zuvor verdeutlicht dieser eindrucksvolle Raum die grafische Qualität der Architektur einerseits und den Konflikt zwischen Zeichnung, räumlichem Modell und der mühsamen Übereinstimmung mit Funktionalität und Schwerkraft anderseits. Krux ist die Vereinfachung auch deshalb, da in einigen Entwürfen programmatisch wenig komplexer Projekte schmale Linien scheinbar Selbstzweck werden und die Architektur dominieren. Die Linie bekommt in ihrer absoluten Ausbildung eine Überpräsenz und wird so zum eigentlichen Programm des Baulichen. Hat die Vollendung der Linie in ihrer Minimierung der Mittel ein Verschwinden von Architektur zur Folge? Man darf gespannt sein, wie dieser Widerspruch die künftigen Entwürfe von SANAA bestimmen wird.
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