Kindertagesstätte
Zurück in die alte Stadt
Text: Friedrich, Jan, Berlin
Eine Kindertagesstätte im brandenburgischen Wittstock sollte vom Stadtrand in zwei alte Schulhäuser neben der Kirche umziehen. Die Architekten Kleyer, Koblitz, Letzel, Freivogel haben kurzerhand ein drittes Haus daneben gesetzt, in dem sie all das verstauten, was die Denkmäler aus dem 19. Jahrhundert überfrachtet hätte.
Die 195-Stufen-Kraxelei hoch auf den Turm der Marienkirche wird mit einem seltenen Panorama belohnt. Kneift man die Augen ein wenig zusammen (um etwa das kleine Plattenbauquartier und das kaum größere Industriegebiet auszublenden), könnte man meinen, im kolorierten Foto einer Stadtansicht vom Beginn des 20. Jahrhunderts zu stehen. Wittstock ist nie wirklich über seinen historischen Kern hinausgewachsen. „Die Einwohnerzahl des heutigen Wittstocks entwickelte sich bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts unterproportional zur Bevölkerung Brandenburgs“, ist dazu bei Wikipedia im Abschnitt Bevölkerungsentwicklung nachzulesen. Heute zählt das Städtchen knapp 15.000 Bewohner.
Als wahrer Glücksfall für das Ortsbild entpuppte sich der erste Nachwende-Bürgermeister (er behielt das Amt 17 Jahre lang). Von der Blühende-Landschaften-Euphorie, die seinerzeit um sich griff, ließ er sich offenbar nicht anstecken. Er erkannte, dass Wachstum eher keine Perspektive für die rund 130 Kilometer nord-westlich von Berlin gelegene Stadt sein würde. Lange bevor die Rede von den „schrumpfenden Städten“ die große Runde machen sollte, gab er die Devise aus: Die Rückführung auf den Stadtkern ist die einzige Chance für Wittstock! Bis heute fördert Wittstock ausschließlich Projekte in der Kernstadt. So kommt es, dass die in einer DDR-Neubausiedlung gelegene und schwer in die Jahre gekommene Kindertagesstätte „Kinderland“ nicht an Ort und Stelle ertüchtigt oder gar neu gebaut wurde, sondern in zwei denkmalgeschützte Altbauten gegenüber der Marienkirche umgezogen ist – in die ehemalige Jungen- und die ehemalige Mädchenschule, 1850 bzw. 1890 erbaut und seit Jahren leerstehend.
Die Causa Küsterstraße
Ein örtliches Ingenieurbüro erhielt den Auftrag, die energetische Sanierung zu planen – das war Voraussetzung, um Bundes-Fördermittel einzuwerben. Und die Ingenieure sollten sich überlegen, wie man die beiden Häuser barrierefrei erschließen und miteinander verbinden könnte, denn sie sind durch eine Gasse, die Küsterstraße, getrennt. Sie schlugen vor, die Häuser mit einem Gelenkstück zu ergänzen, das Eingang, Treppe und Fahrstuhl aufnehmen sollte. Mit dieser Verbindung hätten sie allerdings die Küsterstraße geschlossen – eine uralte Weg- und Blickachse, die auf das Portal der Kirche führt. Die Denkmalpflege kippte das bereits genehmigte Projekt.
Die Stadt fragte drei Architekturbüros an, in einem konkurrierenden Gutachterverfahren Alternativen zu entwickeln. Sie entschied sich für den Entwurf des Berliner Büros Kleyer, Koblitz, Letzel, Freivogel und beauftragte es mit der Ausführung. So ist die Verbindung der beiden Altbauten über die Küsterstraße hinweg nun auf eine gläserne Brücke im ersten Obergeschoss reduziert. Und für alles, was in den beiden Altbauten selbst keinen oder nur schwer Platz fand (zusätzliches Treppenhaus, Aufzug, Toiletten und Waschräume, Sozialräume, Werkstatt u.a.), haben die Architekten ein drittes Haus auf dem südlich angrenzenden Grundstück gebaut. Ein echter Befreiungsschlag für das kleine Projekt: Die alten Schulhäuser beherbergen nun fast ausschließlich die Gruppenräume für die rund 180 Kinder; die ließen sich in den ehemaligen Klassenräumen leicht unterbringen – ohne allzu drastische Eingriffe in die Denkmal-Substanz. Darüber hinaus ist das dritte Haus ein städtebaulicher Gewinn. Die verlängerte Bauflucht gibt dem Kirchplatz eine deutlichere Fassung.
Dass der Neubau eine Ziegel-Fassade erhalten solle so wie die Schulgebäude und die Kirche, hätte für ihn nie infrage gestanden, sagt der Architekt Timm Kleyer. Tatsächlich mag man sich gar nicht vorstellen, dass jemand in dieses so selbstverständlich wirkende, geschlossene Ensemble mit einem Materialkontrast eingebrochen wäre. Die Architekten verwendeten sogar denselben Backstein, einen Egernsunder Ziegel. Und noch mehr: Sowohl mit der Dachneigung als auch bei der Gliederung der Fassaden in horizontale und vertikale Elemente orientiert sich das dritte Haus an den Proportionen der alten Schulbauten – ohne einen Augenblick zu verleugnen, dass es 120 beziehungsweise 160 Jahre jünger ist.
Die Architekten haben für die Ausbildung der Backsteinfassaden eine Reihe von Details gewählt, die sich zwar auf traditionelle Mauerwerksverbände beziehen, diese aber variieren und, wenn man so will, umdeuten. Am eindrücklichsten ist das an der Straßenfassade zu sehen, wo die Läuferschichten, um die Breite eines Binders gegeneinander versetzt, vor den fast hausbreiten Glasfassaden ein Brisesoleil für die dahinterliegenden Räume bilden. Es sei ein Glück für das Projekt gewesen, sagt Timm Kleyer, dass man in der Region Handwerker finde, die versiert mit dem Ziegel umzugehen wüssten.
x
Bauwelt Newsletter
Immer freitags erscheint der Bauwelt-Newsletter mit dem Wichtigsten der Woche: Lesen Sie, worum es in der neuen Ausgabe geht. Außerdem:
- » aktuelle Stellenangebote
- » exklusive Online-Beiträge, Interviews und Bildstrecken
- » Wettbewerbsauslobungen
- » Termine
- » Der Newsletter ist selbstverständlich kostenlos und jederzeit wieder kündbar.
Beispiele, Hinweise: Datenschutz, Analyse, Widerruf
0 Kommentare