Louvre-Dependance
Louvre, leicht und kompakt
Text: Redecke, Sebastian, Berlin
Flach und unscheinbar sind die Ausstellungshallen der ersten Louvre-Dependance im nordfranzösischen Lens von Kazuyo Sejima+Ryue Nishizawa/SANAA. Fünf Baukörper reihen sich auf einer Länge von 360 Metern aneinander. Der Landschaftspark erinnert an die Geschichte des Orts. Hier befand sich früher einmal die Zeche 9 mit den Gleisanlagen der Kohleloren. Im ersten Monat nach der Eröffnung kamen bereits 140.000 Besucher ins Museum.
Lens ist eine der ärmsten, vielleicht sogar die ärmste Stadt Frankreichs. Sie hat 36.000 Einwohner und liegt im Ballungsgebiet südlich von Lille. Einst prägte der Steinkohlebergbau die Region. Ende der achtziger Jahre war damit Schluss. Die Jüngeren wanderten wegen der Perspektivlosigkeit ab. Während des Strukturwandels behielt in der Region eigentlich nur der Fußball seine Bedeutung. Der RC Lens gewann vor 15 Jahren sogar die französische Fußballmeisterschaft. Das Stadion Bollaert fasst 41.000 Zuschauer und dominiert zusammen mit den zwei spitz aufragenden Abraumhalden von Loos-en-Gohelle das Stadtbild.
Ganz in der Nähe wuchs Daniel Percheron auf, der heutige Präsident der Region Nord-Pas de Calais. Er war bis zu seinem steilen Aufstieg in der Politik Lehrer für Geschichte und Erdkunde in Lens, mit einer Leidenschaft für die Ägyptologie. Er setzt sich besonders für die Stadt ein. 2003 schlug der damalige Kulturminister Jean-Jacques Aillagon im Rahmen der politischen Dezentralisierung in Frankreich vor, eine Dependance des Pariser Louvre in einer nordfranzösischen Stadt des Nord-Pas de Calais zu gründen. Auch Staatspräsident Jacques Chirac konnte sich für diese Idee erwärmen. Unter den sechs Bewerberstädten war auch das „rote Lens“. Es ist wohl dem umtriebigen Präsident der Region zu verdanken, dass Chirac sein Plazet für Lens gab und die Stadt so die Auserwählte für die Neuansiedlung wurde. Allen Beteiligten am Projekt war natürlich bewusst, dass eine solche Entscheidung eine weit größere Aufmerksamkeit auf den Ort und das Museumskonzept lenken würde als eine Dependance in einer Großstadt wie Bordeaux oder Lyon. Beim Rundgang durch das neue Haus erzählte Percheron, dass die Oberschule, in der er früher einmal unterrichtete, nur wenige hundert Meter vom Museum entfernt liegt. Percheron will für sein Lens noch mehr und gründete 2008 nach der Idee „Euralille“ (Bauwelt 44.1994) das Projekt „Eurolens“. Damit soll die Stadt zu einer Euroregion avancieren, gut vernetzt und mit Projektpartnern, die im weiten Umfeld des Museums eine wie auch immer geartete wirtschaftliche Dynamik auslösen.
Nach dem Zuschlag für Lens nahmen die Planungen für einen „zeitgenössischen Louvre“ ihren Lauf. Den internationalen Wettbewerb nach einem Bewerberverfahren gewannen 2005 Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa/SANAA. Auch nachdem der Entwurf vorlag, war man in Frankreich über dieses Projekt noch immer verblüfft und konnte kaum glauben, dass gerade hier, im alten Kohlerevier, eine solche Dependance Erfolg haben könnte. Das zwanzig Hektar große Grundstück – die seit langem stillgelegte Zeche Nr. 9 –, liegt relativ zentral auf einem leicht erhöhten Plateau aus Abraumgestein. Eine neue Fußgängerbrücke über eine vielbefahrene Straße verbindet es mit der Stadtmitte und dem Bahnhof. Es ist umgeben von den für die Gegend typischen, sehr bescheidenen, traufständigen Häusern und Hausreihen aus Backstein. Ein Rundgang in der unmittelbaren Umgebung gibt einen Eindruck von der derzeitigen Krise. Zahlreiche Häuser stehen leer und verwahrlosen. Im weiteren Umfeld liegen Bergarbeitersiedlungen, die teilweise zum im letzten Jahr erklärten Weltkulturerbe Nordfranzösisches Kohlerevier gehören.
All dies tritt nun in den Hintergrund, denn mit der Eröffnung am 4. Dezember wurde die Stadt in eine andere Welt katapultiert, in der die große Kunst von ihren Anfängen bis zum 19. Jahrhundert erstrahlt. Beim ersten Ableger des Pariser Weltmuseums handelt es sich aber nicht um einen Großbau von auftrumpfender Zeichenhaftigkeit, sondern – und damit ist neben der Wahl des Ortes eine weitere Überraschung gelungen, um die Abfolge aneinandergereihter Ausstellungshallen. Die nur sechs Meter hohen Flachbauten machen sich, betrachtet man sie aus einer gewissen Distanz, im Stadtbild und vor der grauen, verregneten Kulisse des Nordens kaum bemerkbar.
Sejima und Nishizawa entschieden sich für ein verglastes Eingangsgebäude, das in seinem Gesamtkonzept dem Rolex Learning Center der EPFL in Lausanne (
Bauwelt 13.2010) und dem Glaspavillon des Museums in Toledo, Ohio, ähnelt. Ihre Handschrift ist unverkennbar. Auch hier sind in die nach außen vollständig offene Halle mit schlanken weißen Rundstützen gläserne Rundräume locker verteilt eingefügt. Sie werden u.a. als Buchladen, Cafeteria und Gruppenraum für Workshops genutzt. Im Untergeschoss befinden sich neben Sanitärräumen, Garderobe und Technik auch ein Depot und die Werkstätten des Museums, die durch die große Glasfront einsehbar sind. Den Besuchern sollen Einblicke in den Betrieb des Museums gewährt werden. Man fragt sich jedoch, warum auch die Dependance des Louvre solche Räume benötigt. Offensichtlich wollte man ganz bewusst an diesem Ort mehr bieten und hat deswegen den gewünschten Werkstattcharakter des Museums inszeniert.
Die Grande Galerie
Das zentrale Eingangsgebäude wird zu beiden Seiten von den Ausstellungshallen ergänzt. Dadurch entsteht eine langgezogene Raumabfolge als „Museumslandschaft“ von rund 360 Metern. An der Südost-Ecke des Eingangsgebäudes schließt die Haupthalle Grande Galerie an. Sie ist das eigentliche Herz des Museums. Hier ist eine einzige Ausstellungsfläche als „Galerie du temps“ (Galerie der Zeit) untergebracht, in der einzelne Kunstwerke des Pariser Haupthauses entsprechend einer an der Wand sichtbaren Zeitschiene von 3000 v. Chr. bis 1860 angeordnet sind. Umfassende Themenbereiche, die im Pariser Louvre mehrere Säle füllen und die Besucher zu überfordern drohen, gibt es hier nicht. Die Kunstepochen sind kompakt und reduziert auf insgesamt nur 205 Kunstwerke in einer Zeitreise zu erleben. So können Besucher, die sonst vielleicht nie ins Museum gehen, einen Überblick bekommen. Im Gegensatz zum Pariser Altbau ist hier nichts durch räumliche Zwänge abgetrennt oder abgeschirmt. Statt großer Komplexität hat der Besucher in der überschaubaren Halle die Freiheit, bestimmte Werke näher zu betrachten und ganze Kunstepochen zu überspringen. Besonders eindrucksvoll ist, dass sich mit dieser Nebeneinanderstellung in einem offenen Raum zwischen Werken unterschiedlicher Entstehungszeiten zwangsläufig Beziehungen aufbauen lassen. Auf diese Weise wird die Entwicklung der Kunstgeschichte in großen Schritten vor Augen geführt und leicht erfahrbar.
Beim Eintritt in die Halle ist man vom Raum und den Feinheiten seiner Gestaltung überwältigt. Der Besucher steht zunächst leicht erhöht vor einem großen Tisch, auf dem sich der Lageplan ausbreitet, der jedes Ausstellungsstück aufzeigt. Man nimmt bereits hier wahr, dass die Längsseiten der Halle aus anodisiertem Aluminium leicht gebogen sind. Sie geben dem Raum eine gewisse Spannung. Abgesehen von einem geschlossenen Block mit dem Lastenaufzug bleibt die Halle völlig offen. Vor dem Besucher breiten sich, hintereinander versetzt und gestaffelt, die Kunstwerke auf Podesten, Sockeln und kleinen Wandelementen aus. Das Gesamtkonzept stammt vom Ausstellungsgestalter Adrien Gardère. Auch diese ständige Ausstellung ist in Wirklichkeit eine temporär. Die Werke aus den Museumssälen und dem Depot in Paris sollen in fünf Jahren wieder ausgetauscht werden. Einzelne Werke werden schon nach einem Jahr gewechselt. Damit soll die Halle stetig Neugier wecken. Den krönenden Abschluss bildet das berühmte, 1830 entstandene Gemälde zur französischen Revolution „Die Freiheit führt das Volk“ von Eugène Delacroix. Die Seitenwände des fensterlosen Raums bleiben frei. In den leicht glänzenden Aluminumwänden spiegeln sich die Exponate und die Besucher schemenhaft. Gefiltertes Tageslicht fällt zwischen den filigranen, dicht an dicht liegenden Dachträgern in den Raum. Sejima und Nishizawa schaffen es, mit einer gewissen Symbolik den Werken einen einfachen aber würdigen Rahmen zu geben und gleichzeitig den 3000 Quadratmeter großen Raum als Passage zu konzipieren; am Ende des Raums schließt, wieder über eine Gebäudeecke, ein kleinerer gläserner Saal an, der drei geschlossene Rundräume für temporäre Ausstellungen aufnimmt. Diese Räume wirken hermetisch und passen nicht zur großen Eleganz und freundlichen Atmosphäre des gläsernen und sich spiegelnden Hauses. In den Rundräumen sind in Partnerschaft mit den Museen der Region in Lens, Arras, Douai, Roubaix u.a. unter dem Titel „Le temps à l’Œuvre“ Kunstwerke zusammengetragen worden. Man wolle, hob der Direktor des Louvre Lens Xavier Dectot besonders hervor, die enge Zusammenarbeit mit den Museen und den Menschen der Region. Auf keinen Fall solle der Eindruck entstehen, ein Nationalmuseum würde autark in die Provinz implantiert und alle temporären Ausstellungen bestimmen. Das Konzept des Hauses soll als ein offenes „Laboratorium für das Louvre der Zukunft“ verstanden werden. Nach der brillant konzipierten Grande Galerie fragt man sich aber, ob der Louvre in Lens diesen Annex, der räumlich deutlich abfällt, braucht.
Auf der nordwestlichen Seite der Eingangshalle schließt ein weiterer Saal für Wechselausstellungen an. Hier ist die Ausstellung „Renaissance“ mit Werken aus dem Pariser Louvre zu sehen. Es bot sich die Gelegenheit, auch kleine Zeichnungen und weniger bekannte Arbeiten aus dem Archiv zu zeigen. Auch dieser Raum ist fensterlos und wird über die Decke belichtet. Die Ausstellungsgestaltung ist traditionell und wirkt in der Hülle von SANAA sonderbar. Über eine Ecke dieses Saals erreicht man schließlich die Black Box mit einem flexibel zu nutzenden Veranstaltungssaal.
In Lens wurde nicht, wie zum Beispiel beim Centre Pompidou Metz (
Bauwelt 22.2010), versucht, ein großes Haus als unübersehnbares Zeichen des Aufbruchs in die Gegend zu stellen. Vielmehr sollte sich eine andersartige Architektur, pavillonartig bescheiden, als Gebäude-Aneinanderreihung in den locker gefügten Stadtraum integrieren. Nirgends hat man den Eindruck, von der Architektur erdrückt zu werden. Alles reduziert sich auf die gläserne Haut, die Aluminium-Paneele und die amorphe Außengestaltung, die als Einheit wahrgenommen wird.
Mut der Verzweiflung
Die Außenbereiche von Catherine Mosbach sind teilweise angestrengt auffällig, was sich im Zusammenhang mit der Situation auf einer ehemaligen Brache nicht unmittelbar erklärt. Mosbach sieht das anders. Für sie ist ein Museumspark entstanden, der daran erinnert, wie das Areal von der Natur zurückerobert wurde. Außerdem hätte sie sich von den Spuren inspirieren lassen, die der Kohleabbau an diesem Ort hinterlassen hat. So folgen etwa die Wege dem Verlauf der ehemaligen Gleise der Kohleloren. Dies ist nachvollziehbar und naheliegend. Die betonierten Flächen mit den Ringen aus moosartiger Bepflanzung und die artifiziell wirkenden Graswälle für die Pausen der Besucher erwecken dennoch den Eindruck von Dekoration.
Die Kosten des Museums waren am Ende doppelt so hoch, wie ursprünglich geplant: Die 150 Millionen Euro mussten zu achtzig Prozent von der Region Nord-Pas de Calais aufgebracht werden. Daniel Percheron begründet diese übermäßigen Beteiligung der Region mit dem „Mut der Verzweiflung“, der aus der wirtschaftlichen Lage erwüchse. Nun ist abzuwarten, wie sich das Experiment entwickelt.
Fakten
Architekten
Sejima+Ryue Nishizawa/SANAA, Tokio
Adresse
Rue Paul Bert, BP 11, Rue Hélène Boucher, 62301 Lens
aus
Bauwelt 5.2013
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