Bauwelt

Minden – die Rückkehr zum Kontext


1974-78


Text: Weiß, Klaus-Dieter


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    Foto: Klaus-Dieter Weiß

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Für die Brache zwischen Dom und Altem Rathaus entwarf Harald Deilmann eine mehrfach geknickte, raumbildende Figur, die spätere Ansätze einer „Kritischen Rekonstruktion“ der Stadtzentren vorwegnahm. Der Sanierungsbedarf einerseits und die gesunkene Attraktivität der Mindener Altstadt als Handelsort andererseits könnten ihr jetzt den Garaus machen.
„Wir haben kein modernes Rathaus“, sagt mir der Hausmeister. Ich hatte ihn gebeten, zum Fotografieren das Licht in der Eingangshalle einzuschalten. Offensichtlich waren über längere Zeit lediglich die defekten Leuchtstoffröhren nicht ersetzt worden. Keine Frage der Modernität mithin, nur der laufenden Unterhaltung eines mit Steuermitteln errichteten Rathauses. Das Gebäude von Harald Deilmann (1920–2008) aus dem Jahr 1978 ist jedoch laut Lokalpresse und Verwaltung zum Abriss längst freigegeben. Noch einen Monat vor seinem Tod hatte Deilmann auf sein Urheberrecht gepocht, eine Nachricht, die das Mindener Tageblatt mit dem zweckdienlichen Hinweis versah, dass ein Totalabriss davon aber unberührt bliebe. So geht es in der westfälischen Provinz zu, wenn eine einzige Zeitung die Deutungshoheit besitzt und Bürgermeister und Redaktionsleiter noch dazu alte Schulfreunde sind. Das Urteil wird die Politik Ende dieses Jahres verkünden.
Die wahren Entscheider sind jedoch ganz andere. Der Ausgang der Hetzjagd auf ein nach 34 Jahren erstaunlich intaktes Gebäude wird bestimmt von den mächtigen und jetzt auch in Mittelstädten allgegenwärtigen Generalentwicklern von Einkaufszentren. Das Einzugsgebiet zwischen Osnabrück, Bielefeld und Hannover ist verlockend – mag die Konkurrenz in Gestalt von Werre-Park (Bad Oeynhausen, 30.000 Quadratmeter Verkaufsfläche, ECE 1998) und Porta-Markt (Porta-Westfalica, 62.000 Quadratmeter Verkaufsfläche, 1965) auch bereits vier Kilometer vom Rathaus entfernt in der Nachbargemeinde beginnen. Nicht Stadtplanung, Baudezernat und Politik ergreifen in Minden die Initiative, um den sichtbaren Niedergang der „Historischen Stadt voller Leben“ (Stadtmarketing) als Ort des Warenaustauschs neu zu etablieren. Zu viele fachfremde Kompetenzen stehen sich dafür im Wege – der Geschäftsführer der Minden Marketing GmbH etwa ist Phytomediziner. Die gesamte Verkaufsfläche der Innenstadt entspricht mit 62.000 Quadratmetern der Dimension des Porta-Markts, wobei aktuell 20 Prozent Leerstand abzuziehen sind.
Trotz des endgültigen Scheiterns der 1985 eröffneten Obermarktpassage in Gestalt einer Insolvenz-Ruine, der bedeutende historische Bauten zum Opfer fielen, setzt die Politik nach wie vor auf Investoren-Impulse von außen. Ein Großkomplex mit 25.000 Quadratmetern Verkaufsfläche soll die Stadt neu formatieren, dort, wo eigentlich viele kleine Initia­tiven nötig wären: zum Beispiel ein Metzger, der in der gesamten Innenstadt nicht mehr zu finden ist, ein Kino mit ansprechendem Programm oder ein Restaurant, das die Weser erlebbar macht. Das aktuelle Experiment unter der Federführung der ECE, nach eigener Aussage erstmals „dialogorientiert“, findet am Ende der Fußgängerzone kurz vor der Weserbrücke statt. Dort sind Karstadt bzw. Hertie (Leerstand), C&A und einige andere Brachen für ein Einkaufszentrum vorgesehen. Nicht einmal der Wochenmarkt funktioniert in Minden. Wer einen Erlebnis-Einkauf dieser Art sucht, ist im benachbarten Bückeburg, das nur über ein Viertel der Einwohnerschaft von Minden (82.000) verfügt, besser aufgehoben. Wird sich diese Situation nachhaltig mit einer geballten Packung von Mode- und Elektronikangeboten verbessern, die die letzten intakten Geschäfte der Stadt in ihre neue Mitte einbezieht und die Fußgängerzone damit leersaugt? Der heute in den Rathausbau integrierte „Kiosk am Dom“ war einmal ein niveauvolles Dessous-Geschäft, später eine mit großem Engagement betriebene Kaffee-Bar. Heute beschränkt sich die Funktion der kleinen Fläche im Wesentlichen auf das Verteilen von Flaschenbier. Findet sich der Grund dafür im architektonischen Anspruch oder bautechnischen Zustand des Rathauses bzw. seines Architekten? Die im historischen Rathausbau anschließenden, atmosphärisch sehr hochwertigen Gastronomiebereiche „Ratskeller“ und „Tonne“ werden schon seit Jahren nicht mehr betrieben. Aber sicher findet sich im neuen Einkaufszentrum auch dafür „moderner“ Ersatz. 
Abreißen statt erneuern?
„Neues Rathaus rostet langsam weg“, titelte das Mindener Tageblatt am 27. April 2010. Mit 2,5 Millionen Euro Reparaturkosten rechnen die Ladeninhaber des Rathausbaus, die Teil­eigentümer sind: „Fast 1000 Fenster müssten saniert oder aus­getauscht werden, sowie die im Boden verrottenden Eingangstüren und Schaufenster der Geschäfte.“ „Tropfende Decken, gesperrte Räume und 7000 Quadratmeter gammeliger Teppich“, lautete die Bilanz der örtlichen Presse am 9. April dieses Jahres. Nach 34 Jahren ein intaktes Flachdach zu erwarten oder einen properen Teppichboden, ist allerdings mit Optimismus nicht mehr zu beschreiben. Selbst Möbel sind nach einer solchen Zeit vielleicht zu erneuern. Aber sind das triftige Gründe, um ein Gebäude abzureißen, das zuletzt von einem Mindener Architekten auf einen Verkehrswert von mindestens 16 Millionen Euro geschätzt worden ist? Die Ablehnung des Baus sitzt offenbar tiefer. Von den „Schießscharten“ der Fenster ist oft die Rede, auch davon, dass Harald Deilmann den Blick auf den Dom verbaut hätte. Zwar ist am Rande auch mal vom Siena-Motiv des Kleinen Domhofs die Rede, den das Rathaus zusammen mit dem Gemeindehaus des Doms formt. Aber damit ist lediglich das im Pflaster markierte Halbrund vor dem Westwerk des Doms gemeint, nicht die über Jahrhunderte in europäischen Städten gängige Dramaturgie, die den Blick auf ei­nen Platz mit winzigen Ausschnitten nur andeutet, um die Gesamtwirkung erst beim Betreten des Platzes wie mit einem Paukenschlag zu steigern.
Flexibilisierung statt Überhöhung
1978, das war die Zeit des Centre Pompidou in Paris (Piano/Rogers), des Bürogebäudes Willis, Faber & Dumas in Ipswich (Fos- ter), des Wohnungsbaus Gallaratese in Mailand (Rossi), des Verwaltungsgebäudes Central Beheer in Apeldoorn (Hertzberger). Harald Deilmanns für die Ausführung kaum veränderter Vorentwurf für Minden entstand 1974 unter dem Eindruck auch des niederländischen Strukturalismus. Die Rathäuser dieser Jahre waren in der Regel, ganz anders als in Minden, stolze Solitäre, mit dem Selbstbewusstsein zum Beispiel von Deilmanns Landesbanken. Insofern ist das Mindener Rathaus im Werk seines Architekten, etwa mit Blick auf dessen Rathaus in Rheda-Wiedebrück (1974), aber auch im allgemeinen Vergleich ein Sonderfall. „Rathäuser jener Jahre zeugen von ungebrochenem Kommunalstolz – und von stabilen Gemeindefinanzen“, beschreibt Wolfgang Pehnt diese „starken Signale“. „Oft war Konkurrenzdenken gegenüber Nachbargemeinden im Spiel, manchmal der Anspruch auf fortdauernde Selbständigkeit bei bevorstehenden Gebietsreformen.“ Deilmann ging es dagegen um die Flexibilisierung von Bautypen, um die Vorsorge für künftige Ansprüche – eine Haltung, die das Propagieren der einen richtigen Lösung, des einen verbindlichen Stils ausschloss zugunsten von Pluralität und Anpassung. Mit Bezug auf die berühmte Rede von Adolf Arndt „Demokratie als Bauherr“ war Deilmanns Credo zum Thema Rathaus und öffentliche Verwaltung: „Die schöpferische Symbiose aus Typus und Unikat, aus der allgemein gültigen verbindlichen Regelhaftigkeit der Aufgabe, den sich nie wiederholenden einmaligen Gegebenheiten der die Situation prägenden städtebaulichen und landschaftlichen Bedingungen sowie den erkennbaren und zu antizipierenden Kräften des sich weiterentwickelnden Lebens – nur so kann lebendige Baukunst als unser Beitrag zur Geschichte entstehen.“ 
Welch schwierige Gratwanderung Harald Deilmann mit seiner in der Gesamtform zurückhaltenden, aber sehr strukturierten, keineswegs banalen Platz- und Domkulisse in Minden gelang, zeigt sich im Vergleich mit dem fünf Jahre jüngeren Rathaus von Joachim Schürmann in Bad Honnef. Eine ähnliche städtebauliche Geste der Platzrahmung, vielleicht sogar von Minden inspiriert, wurde dort zwar auch rhythmisch gegliedert, aber unter steilen Dächern insgesamt viel kleinteiliger und „wohnlicher“ angelegt. Eine derartige Auflösung und Durchgestaltung der Struktur wäre als Gegenüber des romanischen Doms in Minden völlig ungeeignet gewesen.
Und immer die gleichen öden Investorenpläne
Dies wird sich spätestens dann erweisen, wenn die Projektentwickler zum Zuge kommen, die auf das Scheitern des ECE-Projekts am Wesertor hoffen, um dann, wie schon 2006 von der internationalen Investorengruppe Multi Development beabsichtigt, ein Einkaufszentrum (Domhofgalerie) am Standort des Rathauses zu planen – trotz des eindeutigen Votums der Bürgerschaft am 23. November 2007. Der über ein Bürgerbegehren eingeleitete Bürgerentscheid erbrachte vor fünf Jahren eine Mehrheit von 56,96 Prozent gegen den Abriss des Rat­hauses und blieb für zwei Jahre rechtsverbindlich.
Das komplette Rathausquartier hatte es schon damals den Großinvestoren angetan. Am 1. Februar 2006 wurde der Plan für ein Einkaufszentrum publik. Aufschwung wurde versprochen, über 500.000 Kunden seien zu erwarten. Mit den willfährigen Gutachten der Einzelhandels-Propheten von CIMA, die nicht einmal die Erweiterungspläne des Kaufhauses in unmittelbarer Nachbarschaft wahrnahmen, ist noch jede falsche Zahl zu belegen. Drei Investoren waren zu einem Vorschlag aufgefordert worden. Der Gigant ECE, mit dem Mindener Stadtplanungsamt über einen ehemaligen Mitarbeiter prächtig vernetzt, wurde seiner Favoritenrolle allerdings nicht gerecht. Der Trick des mit amerikanischen Banken operierenden Konkurrenten Multi Development, der vorgab, auch Wohnungen zu bauen, gab der „Stadtgalerie“ der ECE das Nachsehen, nun sollte eine „Domhofgalerie“ entstehen (16.000 Quadratmeter Verkaufsfläche). Aus dem Kleinen Domhof mit seinen Platanen (Harald Deilmann, Friedrich Spengelin), einem der schönsten Plätze der Stadt, sollte zur Vergrößerung der Ladenflächen eine straßenartige Achse werden. Zu allem Überfluss sollte die denkmalgeschützte Alte Regierung (1830) am Großen Domhof auf Betreiben der Unteren Denkmalbehörde abgerissen werden, um mit einem scheunentorgroßen Pas­sagen-Durchbruch feinsinnig neu zu entstehen. Eine leichte Übung, ist doch der mit nur einer Stimme Mehrheit gewählte Baudezernent für beides zuständig: für den Denkmalschutz wie für die Stadtplanung – und noch für einiges andere mehr. Vielleicht fehlt es ja deshalb schlicht an der nötigen Zeit, um ein stichhaltiges Stadtentwicklungskonzept zu entwickeln. Stattdessen vertraut man sich lieber einem Investor an, dessen Engagement spätestens dann endet, wenn die 80-Millionen-Euro-Immobilie (abzüglich Akquisitionskosten) kurz vor ih­rer Eröffnung auf dem internationalen Immobilienmarkt einen neuen Eigentümer findet. So geschehen in Wiesbaden, als die MD-Mall „Liliencarrée“ vier Wochen vor Eröffnung von einem irischen Investor übernommen wurde. MD-Geschäftsführer Hein Nanninga: „Ziel von MD sei, Gebäude zu entwickeln, dann zu verkaufen und weiter zu betreiben“ (Wiesbadener Kurier, 22. Februar 2007).
Was macht eine Stadt wie Minden aber, wenn ihr das Stadtzentrum nicht mehr gehört und das Rathaus im Krüppelwalmdach-Verschnitt eines Einkaufszentrums nur noch mühsam zu finden ist? Der Mut der Mindener Politiker ist noch immer grenzenlos. Die Obermarktpassage des Jahres 1985, nur 300 Meter vom Rathaus entfernt, unterscheidet sich lediglich in einem Punkt von den aktuellen Planungen: Auf ihrem Dach befindet sich kein Rathaus, sondern eine – kaum weniger gruselige – Stadthalle. Selbst daran, das Rathaus in die Obermarktpassage zu stecken, ist schon ernsthaft gedacht worden. Der Weg einer kontinuierlichen Stadtentwicklung ist gegenüber den fixen Ideen der Entwickler von Einkaufszentren deutlich mühsamer. Gerade dass der Mindener Einzelhandel in Zukunft nicht von einem riesigen Einkaufszentrum dominiert wird, könnte die Stadt doch attraktiv machen. Minden wäre ein Stück Individualität in einem Meer von Kettenläden und Konsumtempeln – an diesem Punkt sollte die Stadtplanung ansetzen. Das schließt ein Einkaufszentrum nicht aus. Nur sollte es besser geplant sein, am besten im Rahmen eines Architekten-Wettbewerbs, um Fehler, wie sie sich in anderen Städten bereits heute deutlich herauskristallisieren, zu vermeiden.
Der verworfene Wettbewerb
Harald Deilmann hat sich seinerzeit der Aufgabe in Minden engagiert gestellt. Landeskonservator Wildemann war hochzufrieden, auch in Anbetracht der auf den Dom gerichteten Verengung. Es ging darum, die Brache zwischen Dom und historischem Rathaus städtebaulich konsequent zu schließen. Man wird kaum ein Rathaus dieser Zeit finden, dass mit seinem im Erdgeschoss fast durchgängigen Ladenbesatz so weit in die Zukunft gedacht und stadträumlich so konsequent integriert worden ist. Deilmann: „Zwischen Rathaus und Stadthaus fügt sich das Gebäude unter Verzicht auf besonderen Eigenwert mit der dem Dom zugewandten viergeschossigen Fassade ein, die bewusst ebenmäßig gehalten ist, um keine Konkurrenz zu den historischen Bauwerken entstehen zu lassen.“ Für dieses Ergebnis setzte sich der damalige architektur­inte­ressierte Stadtdirektor Erwin Niermann sogar über einen 1972 längst entschiedenen regulären Architekten-Wettbewerb mit drei ersten Preisträgern hinweg (Pysall, Rollenhagen, Otto), was eine gerichtlich erzwungene Entschädigung von 200.000 DM auslöste. Ihm ging es offenbar, wenn auch sehr selbstherrlich, um eine „moderne“ Entwicklung von Minden. Darum führte er seine Ratsmitglieder, heute kaum noch nachvollziehbar, nach Lemgo, vor den dortigen Karstadt-Bau von Harald Deilmann. Seine architektonisch weniger interessierten Nach­folger bejubeln stattdessen das ECE-Projekt in Hameln als für die Stadtentwicklung dort insgesamt erfolgreich. Immerhin wurde dafür kein Rathaus abgerissen.
Jan Röttgers entwickelt seit Jahrzehnten Einkaufszentren für die ECE. Darum weiß er auch, was in den Köpfen von Politikern vor sich geht. „Oft denken die Verantwortlichen, sie lassen ein Center bauen und damit lösen sich alle Probleme in der City.“



Fakten
Architekten Deilmann, Harald (1920-2008)
Adresse Markt 1 32425 Minden


aus Bauwelt 40-41.2012
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