Bauwelt

Museum aan de Stroom


Museum als Aussichtsturm


Text: Geldorf, Marc


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    Foto: Dario Scagliola/Stijn Brakkee

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Das „Museum aan de Stroom“ in Antwerpen ist eröffnet. Die Lage auf der alten Hafeninsel zwischen Altstadt und Seehafen hat die Architekten zu einem Konzept inspiriert, dass den Blick der Besucher neu justiert.
Das „Museum aan de Stroom“ (MAS) werde sich zu einem neuen Ort im öffentlichen Raum entwickeln, einem Treffpunkt für die Bürger von Antwerpen, meinte der regionale Regierungsbaurat Peter Swinnen während der Pressekonferenz zur Einweihung. Er sollte Recht haben. Bereits am Eröffnungswochenende strömten 45.000 Besucher in das Gebäude. Doch wird der Bau wirklich jener „Turm für die Menschen“ werden, wie Eric Anthonis, der frühere Kulturstadtrat, vor­aussagt? Großen Interpretationsspielraum lässt auch das programmatische Statement des MAS-Direktors Carl Depauw: „MAS ist mehr als ein Museum. Möglicherweise ist das MAS sogar überhaupt kein Museum, oder vielleicht will es auch gar  nicht so sehr Museum sein.“ Solche Äußerungen stecken das Feld der hohen Ansprüche ab, denen die an der Umsetzung des Projekts Beteiligten gerecht werden wollen.
Der Planungskontext
2003 greift Patrick Janssens, der neu ins Amt gewählte junge Bürgermeister, Planungsaktivitäten wieder auf, die nach dem glanzvollen Jahr Antwerpens als Kulturhauptstadt Europas 1993 ins Stocken gekommen waren. Zwei grundsätzliche Prozesse kommen nun ins Rollen: Zum einen erstellt man übergeordnete Pläne für Mobilität und Raumordnung, dazu gründete man zwei neue selbständige kommunale Unternehmen, die dank klar definierter Vertragsgrundlagen, Arbeitsaufträge und Budgets ein stärker privatwirtschaftlich orientiertes Agieren erlauben. Neben der AG Stadsplanning für die Umsetzung der Projekte im Rahmen des Strukturplans sollte die AG VESPA als öffentliche Immobiliengesellschaft fungieren. Sie koordiniert auch die externe Finanzierung, etwa durch EU-Mittel und Fördergelder. Planung, Projektmanagement und Durchführung münden schließlich in eine Zusammenarbeit, die sich bislang in einer ganzen Reihe realisierter Projekte niedergeschlagen hat, darunter das Bahnhofsviertel, der Rotlichtbezirk, der Park Spoor Noord und die alten Werftanlagen auf der Hafeninsel. Weitere Eingriffe sind in Planung: die Schelde-Kais, Wohn- und Bürozentren auf der Hafeninsel, das Zurenborg-Viertel oder das Areal des ehemaligen Militärkrankenhauses. Projekte mit Signalwirkung wie der neue Justizpalast von Richard Rogers, der als Eurostation wiedererweckte Hauptbahnhof von Jacques Voncke, die Erweiterung des internationalen Kunstcampus DeSingel durch Stephane Beel (Bauwelt 30.2010) und das MAS vervollständigen das Bild von Antwerpens Transformation (mehr dazu ab Seite 22).
Standort Hafeninsel
Die Hafeninsel wurde um 1550 herum aufgeschüttet und ist damit der älteste Teil des Antwerpener Hafens, wenn auch dessen eigentlicher Ausbau erst Anfang des 19. Jahrhunderts stattfand. Im Zusammenhang mit dem Hafen siedelten sich die unterschiedlichsten Bauten und Unternehmen in unmittelbarer Umgebung der sechs Docks an – darunter Speicher, Brauereien, Wohnhäuser und Handelskontore –, so dass sich hier das Geschehen des Hafens und das städtische Leben miteinander verzahnten. Nach der Verlegung des Hafens fluss­abwärts in Richtung Norden verkam die Hafeninsel zu einer funktionslosen Brache zwischen Stadt und Seehafen.
Ein von René Daniels entwickelter und 2002 offiziell ra­tifizierter Masterplan wurde inzwischen in einen Raumordnungsplan überführt und zum Teil auch schon realisiert. Ziel des Plans ist der Erhalt von Baudenkmälern wie Speichergebäuden, Brücken und Lastenkränen; ein Regelwerk für neue Gebäude und den öffentlichen Raum („Visual Plan for Architecture“, Atelier JPLX, 2004); die Umwandlung der Kais in Promenaden (FDA Architects-Technum Hasselt auf Grundlage des „Green Plan“ von Michel Desvigne Paysagiste, Paris, 2005);  der Umbau des Willem-Docks in eine Marina; die Erneuerung von Straßen und Plätzen wie Falconplein und Van Schoonbekeplein (WEST 8, Rotterdam) und – last but not least – der Neubau des „Museum aan de Stroom“ (MAS) von Neutelings-Riedijk.
The Making of MAS
Eric Anthonis, 1993 gerade Kulturstadtrat geworden, beauftragte den Architekten Stéphane Beel mit der Ausarbeitung eines Masterplans für alle bestehenden Museen der Stadt. In den meisten Fällen verbesserten die einfallsreichen Lösungen deren Erreichbarkeit und Attraktivität erheblich, doch für die Sammlungen Volkskunst, Ethnographie und Schifffahrt kam man zu keinem befriedigenden Ergebnis. 1998 entschied die Stadt, ein neues Haus zur Stadtgeschichte in Auftrag zu geben. Angeregt durch die Vorschläge von Manuel De Solà-Morales und dem Stadtplaner René Daniels bestimmte man den Hanzesteedeplaats als Bauplatz. Sein Name – zu Deutsch „Platz der Hansestädte“ – bezieht sich auf das 1560 errichtete Haus der Hanse, das 1893 einem Brand zum Opfer fiel. Laut De Solà-Morales sollte eine Achse der Kultur die Hafeninsel mit der Altstadt verbinden, mit dem Hanzesteedeplaats als optimalem Standort für ein neues Kulturzentrum. Für diesen Kontext lobte man im Sommer 1999 einen internationalen Wettbewerb für das neue MAS aus. Die erste Phase fragte nach einer umfassenden Vision für Museum und Standort. Aus 55 Einsendungen erreichten fünf Büros – Bernard Tschumi, Ibos and Vitard, Neutelings-Riedijk, Tadao Ando und Xaveer De Geyter – die zweite Runde. Einstimmig kürte die Jury im April 2000 den Vorschlag von Neutelings Riedijk als Siegerentwurf. Der Vorschlag überzeugte die Jury nicht nur als architektonische Landmarke, sondern auch, weil es der einzige Entwurf war, der die Idee eines Turms einbrachte und so mehr als die Hälfte des Areal unbebaut ließ. Darüber hinaus schufen Neutelings Riedijk mit ihrer Spiralgalerie eine öffentliche Promenade bis zum Dach, wo dem Besucher ein spektakulärer Blick über die Stadt und den Hafen geboten wird.
Laut Willem Jan Neutelings musste der Entwurf fünf Punkte einlösen: Das MAS sollte ein dem Erbe der Stadt angemessener Ort werden. Darüber hinaus sollte der Bau eine inspirierende Geschichte erzählen, was die Architekten mit dem Konzept verbanden, das Gebäude als „narratives Ereignis des kollek­tiven Gedächtnisses“ der Antwerpener auszulegen. Das MAS sollte ein Ort der Begegnung werden, ein Ort voller Leben, den man zu allen Tages- und Jahreszeiten würde nutzen können. Die Institution sollte ein Generator für die weitere urbane Erneuerung sein und das Interesse von Investoren wecken, und schließlich sollte das MAS ein architektonisch herausragender Bau werden, um so auch vom Stadtmarketing verwertbar zu sein.
Die Grundidee sind zehn große Boxen mit davor gelegenem öffentlichen Galerie- und Rolltreppenbereich, in denen Objekte vergangener Generationen bewahrt werden. „Indem man  eine dieser Boxen betritt, geht man einen Schritt zurück in die Vergangenheit, in eine heute nicht mehr existente Stadt. Wieder draußen, sieht man auf eine lebendige Stadt. Wie bei Alice im Wunderland lassen sich immer neue Türen öffnen, um dahinter eine andere Geschichte über die Stadt zu entdecken“, beschreibt der Architekt das Verhältnis von Ausstellung, Bau und Stadt. „Jede dieser Boxen drehten wir anschließend um eine Vierteldrehung. Dadurch entstand eine Spirale, und es ergab sich außerdem Raum für Treppen und Aufzüge. Dank dieser Stapeltechnik wurde das Gebäude zu einem Aussichtsturm. Im MAS kann man an den Ausstellungsräumen vorbei gehen, ohne sie betreten zu müssen. Wir wollten, dass die Galerie einen Beitrag zum öffentlichen Leben leisten sollte, als Treffpunkt für Diskurse und zum Feiern oder für eine Verabredung zur Mittagspause.“
Das Gebäude
Der 60 Meter hohe Turm hat einen zentralen Betonkern von 12 auf 12 Meter, in dem die Versorgungsstränge, Feuertreppen, Aufzüge und die technische Infrastruktur untergebracht sind. Zu jeder Seite des Kerns kragen sechs Meter hohe Gitterträger aus Stahl zwölf Meter weit aus, in die vorgefertigte Beton-Wandelemente eingehängt wurden. Aufgrund des Gewichtes geben die Stahlträger etwa sieben bis zehn Zentimeter nach. Zwar wurden die entsprechenden Berechnungen mit Hilfe von Computerprogrammen erstellt, dennoch blieb es knifflig, die Wände in die richtige Position zu bringen.
Fassaden, Böden und Decken der Spiralgalerie sind gänzlich mit roten Sandsteinplatten (100 x 60 x 4 Zentimeter) ausgekleidet und unterstreichen den skulpturalen Charakter des Baukörpers. Der rote, in Indien gebrochene Standstein wurde von Hand geschnitten, was den Platten Relief verleiht. Vier unterschiedliche Farbschattierungen von Braun über Violett bis Rot und Orange kamen zum Einsatz und sind so auf das Gebäude verteilt, dass eine Art Melier-Effekt entsteht. Im Innern der Boxen sind die Decken mit Holz getäfelt, an den Betonwänden bleibt die Maserung der Schalungen sichtbar.
Der wellige Glasvorhang vor den Galerien bricht den monolithischen Charakter der Baus. Die 1,8 Meter breiten Glas­paneele sind 5,5 Meter hoch. Jedes bildet eine S-förmige Welle mit einer Tiefe von 60 Zentimetern aus und ist freistehend verbaut worden. Das Glas wirkt aus einem bestimmten Blickwinkel beinahe opak, doch bei direkter Aufsicht ist es klar.
Die Spiralgalerie selbst ist weder beheizt noch klimatisiert, die Scheiben bestehen aus Einfachverglasung. Um Frostschäden zu verhindern, soll die Temperatur allerdings oberhalb der Null-Grad-Marge gehalten werden. Die durch die Licht-Installationen in den Boxen entstehende Abwärme wird mit Wasser aus dem Hafen gekühlt, wodurch auf eine Klimaanlage verzichtet werden konnte.
Bauschmuck
Die Fassadenverkleidung spielt eine wichtige Rolle für das Ziel, den Bau im lokalen Kontext zu platzieren. Um dies zu erreichen, stützen sich die Architekten auf die Mitarbeit von Philosophen, Schriftstellern, Künstlern und Grafikern. Ein Charakteristikum des Entwurfs ist die Verwendung von Ornamenten. Die Außenfassaden des MAS sind mit dreitausend Händen aus Metall verziert. Dieses Element mildert den monumentalen Charakter des Baus. Das Motiv ist eine Anspielung auf die berühmte Antwerpener Brabo-Legende. Diese im 15. Jahrhundert entstandene Geschichte führt den Namen der Stadt auf das „Handwerfen“ zurück, mit dem sich lange Zeit der Riese Druon Antigon am Schelde-Ufer den Verdruss über Zoll verweigernde Schiffer vertrieben haben soll, bis ihm der junge Held Silvius Brabo selbst die Hand abschlug und in den Fluss warf, was sich förderlich auf die Entwicklung von Schifffahrt und Stadt ausgewirkt habe. Für 1000 Euro kann man die Patenschaft für eine dieser Hände erwerben und so Sponsor werden. Ein weiteres Ornament sind die dreitausend Medaillons, die als Intarsien in Böden, Wände und Decken eingelassen wurden. Designer Tom Hautkiet und Schriftsteller Tom Lanoye ließen sich von Kanal-Deckeln inspirieren, die etwa in Paris oder Berlin besonders gestaltet sind. Die Analogie unterstreicht den öffentlichen Charakter der Spiralgalerie im MAS.
Szenografie
Der Auftrag für die Szenografie des Innenausbaus ging an
B-Architecten, Antwerpen. Ihr Entwurf beruht auf der Auffassung, dass eine zeitgenössische Ausstellung wie ein Bühnenstück konzipiert sein solle. Statt reiner Informations- und Wissensvermittlung soll der Ausstellungsbesuch dem Besucher ein Erlebnis bieten. B-Architecten schufen für jedes Level ein eigenständiges Schema mit sieben deutlich voneinander abgesetzten Zonen, in denen die einzelnen Räume thematisch in unterschiedlicher Weise erschlossen werden können: Zone I  (WAKE-UP) leitet zur INTRODUCTION-Zone über und führt über die FOCUS-Zone in den größten Raum, die Zone IV (WOW!). Hier wird das Thema im allgemeinen dargestellt, die darauf folgende Zone V (CONCENTRATION) geht auf einzelne Details ein. Eine KNOWLEDGE-Zone eröffnet dem Besucher Raum für Reflexion und Vertiefung. Beim Verlassen der Box können Besucher in der Zone TRACES einen persönlichen Kommentar  hinterlegen.
Sammlung
Ebenerdig bietet ein Café auf seiner (zu klein geratenen) Außenterrasse den Ausblick über den Museumsplatz. Der Eingang zum Museum liegt auf der dem Stadtzentrum abgewandten Nordseite. In einem separaten, lang gestreckten Pavillon befindet sich der Museumsshop, daneben gibt es Informa­tionsangebote zum Hafen, das World Diamond Centre und den Materialtechnologie-Konzern Umicore. Vor dem Besuch der Sammlungen kann man das „Schaudepot“ im zweiten Obergeschoss besichtigen. Dieses ist frei zugänglich und bietet einen einzigartigen Eindruck darüber, wie mit den reichhaltigen Sammlungen hinter den Kulissen umgegangen wird.
„MAS ist kein Stadtmuseum, sondern ein Museum für die Stadt“, sagt der Kulturstadtrat Philippe Heylen. Das Haus zeigt nicht einfach die Sammlungen der drei früheren Museen, die jetzt im MAS aufgegangen sind, sondern es versucht, eine Geschichte über die Stadt und den Hafen zu erzählen, ihren historischen Werdegang und die heutige Situation: eine Stadt mit 168 Nationalitäten, drei Weltreligionen und einer ganzen Reihe von Einwanderer-Gemeinschaften. „Der inter­nationale Seehafen“ und „Metropolis“ sind weitere Themen, die den Schwerpunkt auf Antwerpens Beziehung zur Welt le­gen. Zwei Geschosse bleiben Wechselausstellungen vorbehalten, und ein Geschoss zeigt die Janssen Collection präkolumbianischer Kunst, die inzwischen in den Besitz der Flämischen Gemeinschaft übergegangen ist.
Fazit
Ganz fraglos ist das MAS eine neue Landmarke, und es ist ein wirksamer Hebel für die weitere Entwicklung der Hafeninsel. In Verbindung mit dem neuen Park Spoor Noord (Bernardo Secchi & Paola Vignanò, 2010) unterbreitet der nördliche Gürtel um die Stadt den Antwerpenern ein neues Angebot von weitläufigem und attraktivem öffentlichem Raum. Das Konzept des Gebäudes weicht vom klassischen Museum ab. Die übereinander gestapelten Boxen limitieren die museologischen Funktionen und ihre Organisation. Zugleich kann aber jede der Boxen in unterschiedlicher Weise bespielt werden. Sie sind neutrale Räume, die sich nach Belieben füllen lassen. Und die Spiralgalerie ist schlichtweg ein Geniestreich, der dem
Besucher spektakuläre Blick über die Stadt in ihren Hafen  schenkt.
Öffentliche Gebäude und insbesondere Museen lassen oft einen angemessenen Zugang vermissen und schrecken Besucher damit ab. Hier haben sich die Initiatoren und Planer bewusst für Konzepte entschieden, die Schwellen herabsetzen. Das MAS wird sicherlich ein interessantes Fallbeispiel für Studien zur menschlichen Perzeption und Interaktion.
Aus dem Englischen von Agnes Kloocke



Fakten
Architekten Neutelings Riedijk Architects, Rotterdam
Adresse Hanzestedenplaats 1 2000 Antwerpen, Belgien


aus Bauwelt 26.2011
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