Bauwelt

Oberschule


Wie ein Faustschlag auf den Tisch


Text: Cohn, David, Barcelona


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    Foto: Duccio Malagamba

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Die Oberschule in Rafal bei Alicante von Grupo Aranea positioniert sich im neuen Wohnquartier mit einer eigenen, sehr stringenten Sprache. Die Architekten realisierten ein introvertiertes Konzept mit vielseitig nutzbarem Innenhof. Noch immer harrt das Quartier der Vollendung. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hinterlässt auch hier deutliche Spuren.
Kann ein architektonisches Werk die Sichtweise verändern, mit der Bewohner auf ihr frisch erworbenes neues Zuhause blicken, und ihnen gar dessen gestalterischen Fehlgriffe bewusst machen? Kann es eine urteilende ästhetische und vielleicht sogar moralische Haltung zu seiner Umgebung beziehen? Vermag es, ein Gegenmodell vorzuschlagen? Das sind Fragen, die uns die Architekten mit ihrem Neubau einer Oberschule in der kleinen Ortschaft Rafal stellen. Rafal zählt nur 4000 Einwohner und liegt in der spanischen Provinz Alicante, in einer Ebene 20 Kilometer von der Costa Blanca entfernt.
Die Architekten von Grupo Aranea stehen mit ihrer kritischen Position nicht allein da. In Spanien hat die Zeit einer wirtschaftlichen und damit auch moralischen Bestandsaufnahme begonnen. Denn die schwierige Lage des Landes aufgrund der weltweiten Wirtschaftskrise und der gegenwärti­gen Eurokrise wird noch verschärft durch den jahrelangen ungebremsten spekulativen Bauboom, der nun mit einem Mal zum Stillstand gekommen ist. Dabei sind Küstenregionen wie die Provinz Alicante, wo noch bis vor kurzem unvermindert große Anlagen mit Ferienwohnungen und Seniorenresidenzen gebaut wurden, besonders stark betroffen.
„Prachtstücke“
Rafal ist kein Ferienort, vielmehr lebt es von kleineren Industriebetrieben und von der umliegenden Landwirtschaft. Dennoch folgte die Neuplanung dem an der Küste vorherrschen­den Muster. Unter dem Druck von Bauunternehmern und Projektentwicklern plante die Gemeinde Rafal in der Erwartung steigender Steuereinnahmen eine großzügige Erweiterung am südlichen Rand. Die alten Gärten mit Zitronenbäumen wurden eingeebnet und ein Raster von Straßen mit kleinen Grundstücken angelegt. Dann begann man die Parzellen mit übergroß dimensionierten, eng gestellten Einfamilienhäusern – teils privat, teils spekulativ errichtet – zu füllen. Die meisten zeigen auffällig den typischen Baustil spanischer Ferienhäuser an der Küste: Fassaden mit bunten Keramikfliesen, breite Terrassen und Veranden mit neoklassizistischen Balustraden, große Walmdächer, dekorative Metallverzierungen usw. Diese „Prachtstücke“ stehen in einem Quartier ohne jeden Charme und fast ohne öffentliche Einrichtungen.
Von den Landreserven, die gemäß gesetzlicher Vorgaben für öffentliche Nutzungen frei gehalten werden müssen, bestimmte die Gemeinde einen kleinen Block, der mit 7000 Quadratmetern nur etwas mehr als die Hälfte der empfohlenen Größe hatte, als Standort für eine neue Oberschule mit rund 500 Schülern. Der Block befindet sich am Rand der Ortserweiterung und in der Nähe einer bereits bestehenden Mittelschule.
Ein großer Teil der Wohnsiedlung wurde aufgrund der Krise bisher nicht realisiert. Sie besteht heute nur aus isoliert stehenden Häusern. Unabhängig von dieser eher kümmerli­chen Bebauung wurde die 2002 geplante Oberschule auf engstem Raum im letzten Jahr fertiggestellt.
„Dort hatten sie alles zerstört“
Das Projekt, mit dem Grupo Aranea den Wettbewerb gewonnen hatte, sollte nach Ansicht von Francisco Leiva, dem Leiter des Architekturbüros, und seiner Frau, der Agrarwissenschaftlerin und Landschaftsarchitektin Marta García Chico, wirken „wie ein Faustschlag auf den Tisch“. „Wir reden hier von einem der künstlichsten und damit schwierigsten Orte in der Provinz Alicante“, bemerkte Leiva bei unserem Gespräch und fügte hinzu: „Bei unserer Arbeit entwickeln wir die Entwürfe mit Vorliebe aus dem Gelände heraus, aus den Strukturen der landwirtschaftlichen Nutzung, den Spuren der Vergangenheit. Das war in Rafal nicht möglich. Dort hatten sie alles zerstört.“
So planten Leiva und seine Kollegen die Schule als eine Art Kritik an dem Ort und errichteten eine fast schon festungsartige Anlage mit einer rauen Betonfassade, die der unmittelbaren Umgebung den Rücken kehrt und sich stattdessen zu den reich gestalteten Flächen des Innenhofs öffnet, der neben Erholungsbereichen auch einen kleinen asphaltierten Sportplatz bietet. Leiva erläuterte weiter das Konzept: „Uns war bewusst, dass wir Rafal nicht würden verändern können. Dafür war unser Projekt zu klein. Aber wir wollten der neuen Generation eine Chance geben. Wir versuchen den Schülern deutlich zu machen, dass sie die Dinge ändern können. Dabei gehen wir sicher etwas hart mit ihren Eltern und den Nachbarn um, denen wir vorhalten, dass sie das Bisherige nicht besonders gut gemacht haben. Ihre Gipsbalustraden-Häuser stehen nun einer Betonmauer gegenüber. Und sie verstehen nicht, warum.“
Sporthalle ohne Türen
Angesichts dieses streng programmatischen Konzepts war ich beim Besuch der Schule dann von dem sinnlichen und räumlichen Reichtum – innen wie außen – überrascht. Sie bietet eine Renaissance mancher der besten Eigenschaften des Brutalismus der sechziger Jahre, der gegenwärtig bei einer jungen Generation spanischer Architekten wieder populär geworden ist. Die Höfe, der Aufbau der Volumen und die Verwendung von Sichtbeton weisen zum Beispiel eine Parallele zum Madri­der Ärztezentrum San Blas der Architekten vom Estudio Entre­sitio (Bauwelt 40–41.2007) auf. Das Büro Grupo Aranea führt in diese Ästhetik ein Interesse an der gesellschaftlichen Dimension von Architektur als Bühne zur Ermunterung von Interaktionen ein, das in der Tradition von Architekten wie Aldo van Eyck und Herman Hertzberger steht. Zu diesem Potenzial kommt noch die Freiheit hinzu, Innen- und Außenflächen der Schule zu vermischen. Das milde Klima in Alicante macht dies möglich. Korridore wechseln frei zwischen Innen und Außen und erweitern sich zu zwanglosen Treffpunkten, die auch als Klassenzimmer unter freiem Himmel genutzt werden können. Selbst die Sporthalle ist ein Außenbereich, überdacht zum Schutz vor Sonne und Regen, jedoch ohne Türen, so dass sie in den Pausen zum Teil zu einer Spielfläche für die Schüler wird.
Der wichtigste dieser sozialen oder, wie man auch sagen kann, urbanen Räume des Ensembles ist die Freilufttribüne, die einen Ausblick auf den Sportplatz gewährt. Die Schüler nehmen die Tribüne in ihrer ganzen Breite als Erstes vom Haupteingang an der Nordostecke des Gebäudes wahr. Doch auch im Inneren ist sie fast von überall sichtbar, so dass ein ständiger Bezug gegeben ist. Die Tribüne besteht überwiegend aus einer leichten, mit blassem lilafarbenem Kunstrasen bedeckten Schräge, die zum beliebtesten Treffpunkt der Schüler geworden ist. Der abgestufte, ebenfalls stark genutzte Sitzbereich der Tribüne fungiert zugleich als Freitreppe, über die man zum Erschließungsring des ersten Obergeschosses gelangt. Dieser Ring ist die Hauptarterie der Schule, denn er erschließt die meisten Klassenzimmer sowie die Räume für den Fachunterricht. Die Bibliothek, ein Mehrzweckraum, die Cafeteria und die Büros sind im Erdgeschoss untergebracht.
Die Schule verteilt sich auf drei Geschosse. Die übereinandergestapelten Klassenzimmer bilden kleine Blocks, die durch Lichthöfe oder Ausläufer des zentralen Hofs voneinander getrennt sind, so dass sich ein feines Geflecht aus Innen- und Außenräumen ergibt. Vor die Fensterbänder der Klassen sind Rahmen mit verstellbaren Lamellen aus Aluminium gesetzt. Dadurch ergibt sich ein gestaffeltes Muster von geschlossenen Flächen und Öffnungen. Übergroße Zeichen an den Gebäudeecken – aus meiner Sicht eine Reminiszenz an die Siebziger – erleichtern den Schülern die Orientierung. Im asymmetrischen Aufbau der Schule nehmen die Bauten mit den Klassenzimmer die Nord- und Westseite ein; der Verwaltungstrakt liegt an der Ost-, die Sporthalle und die Hausmeisterwohnung liegen an der Südseite. Mit der Freitreppe der Tribüne gewinnt das Erschließungsmuster insgesamt an Dynamik – ein Konzept, das die Architekten schon bei einer Reihe ihrer früheren Entwürfe angewandt haben. In den Obergeschossen gibt es Blicke nach draußen, zum Beispiel durch die offenen Seiten der überdachten Sporthalle sowie, Richtung Westen, durch einen langen, offenen Gang, der gleichzeitig als Erschließungskorridor der dortigen Klassenzimmer dient. Diese „Aussichtspunkte“ geben – bewusst über die Dächer des unfertigen Wohnquartiers hinweg – den Blick frei in die Ferne, auf Felder und Palmen. Andere Abschnitte der Außenfassade sind von kleinen Bullaugenfenstern übersät, als wäre die Wand hier unter Maschinengewehrfeuer geraten. Auch durch diese Maßnahme ergeben sich festgelegte Aus­blicke und zusätzlich interessante Lichteffekte im Inneren.
Der Planungsprozess
Nach ihrem Studium an der Polytechnischen Universität von Valencia gründeten Leiva und García Chico 1998 in ihrer Heimatstadt Alicante das Büro Grupo Aranea. Das Büro ist interdisziplinär aufgestellt: Neben García Chico mit ihren bereits genannten Qualifikationen arbeiten in ihm ein Umweltbio­loge, ein Soziologe und mehrere Architekten. Entsprechend erstreckt sich ihre Arbeit bis in die Landschaftsplanung hinein. So sind sie gerade dabei, einen Plan für das Tal des Flusses Vinalopó auf der Höhe der Stadt Elche bei Alicante zu entwickeln. Die Gruppe hat schon zahlreiche Workshops organisiert, um Bewohner in die Planungsprozesse von öffentlichen Einrichtungen und neuen Erschließungen von Baufeldern einzubeziehen. Eines ihrer erfolgreichsten Projekte führte dabei zur Aufstellung einer Geländeplanung für mehrere kleine Gemeinden im Tal um Guadelest, ebenfalls in der Region von Alicante, die zuvor ihre Planung unkoordiniert vorgenommen hatten. Leiva: „Wir wenden uns gegen eine Architektur als Ausfluss einer politischen Idee, eines hierarchischen Prozes­ses von oben nach unten. Wir suchen im Gegenteil nach We­gen, Architektur von unten her zu gestalten. Unten, damit meine ich die direkten Nutzer, diejenigen, die in der Regel keinen Einfluss nehmen können.“ Dieses Verständnis von Architektur als partizipatorisches Projekt scheint auf den ersten Blick im Widerspruch zu den kritischen Untertönen zu stehen, die bei der Schule von Rafal zu hören sind, die ja einen freundlichen Dialog mit der Umgebung verweigert. Aber die überbordenden Privathäuser direkt vor dem Eingang der Schule sind ein perfektes Beispiel dafür, was passiert, wenn die Nutzer den Entwurfsprozess ganz in die eigene Hand nehmen.
Zeichen des Respekts
Aus der Sicht des Architekten Leiva herrscht in der Öffentlichkeit eine Art räumlicher Analphabetismus. Öffentliche Entwurf-Workshops erfüllen dann, wenn man will, eine erzieheri­sche Aufgabe. Und so ist die Behauptung nicht weit hergeholt, dass mit der Schule von Rafal den Nutzern eine Architektur-Lehrstunde erteilt werden soll. Vom Schulleiter ist zu erfahren, dass die Schüler bislang die Wände noch nicht mit Graffiti verunziert haben, worin man ein Zeichen des Respekts sehen kann. Die Schule wurde im letzten Jahr mit dem FAD-Preis ausgezeichnet, einem sehr angesehenen Architekturpreis, den die Organisation Arquinfad in Barcelona für Neubauten aus Spanien und Portugal vergibt. Die Jury betonte in der Begründung ihrer Wahl besonders den kämpferischen Standpunkt des Projekts.
Ich glaube nicht, dass wir Architekten behaupten dürfen, dass unsere Vorstellungen von Architektur, unser Geschmack, und unsere Moden denen anderer Leute überlegen sind. Doch das bedeutet ganz und gar nicht, dass wir alle nicht etwas aus dem leidenschaftlichen Plädoyer der Grupo Aranea für einen neuen Gesellschaftsvertrag zwischen der Architektur und ihren Nutzern lernen können.
Aus dem Englischen von Christian Rochow



Fakten
Architekten Grupo Aranea, Alicante
aus Bauwelt 3.2011
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