Bauwelt

Pariser Politur


Verschmäht, verdrängt, bekämpft – so lautete häufig das Schicksal französischer Großwohnsiedlungen. Inzwischen arbeitet die Politik nicht mehr gegen, sondern mit den Bewohnern für das Leben in den Grands ensembles


Text: Ziegler, Volker


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    Die sanierte Cité Michelet Curial, 2014. Die Türme im Hintergrund (r.) gehören zur Orgues de Flandre
    Foto: Epaillard+Machado

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    Die sanierte Cité Michelet Curial, 2014. Die Türme im Hintergrund (r.) gehören zur Orgues de Flandre

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    Cité Michelet Curial
    Plan im Maßstab 1:7500

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    Cité Michelet Curial

    Plan im Maßstab 1:7500

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    Foto: Luca Nicolao

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    Das von AIR umgebaute Zentrum für Sport-, Musik- und Sprachkurse

    Foto: Luca Nicolao

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    Das von AIR umgebaute Zentrum für Sport-, Musik- und Sprachkurse

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    Wohnungsgrundriss eines von Groupe Arcane sanierten Hochhauses.
    Plan im Maßstab 1:250

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    Wohnungsgrundriss eines von Groupe Arcane sanierten Hochhauses.

    Plan im Maßstab 1:250

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    Innen: Die alten Grundrisse blieben bestehen
    Foto: Luca Nicolao

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    Innen: Die alten Grundrisse blieben bestehen

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    Außen: Klettern und Sitzen auf der neuen Tiefgaragenlüftung
    Foto: Luca Nicolao

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    Außen: Klettern und Sitzen auf der neuen Tiefgaragenlüftung

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    Groupe Arcane legte weiße und schwarze Platten auf eine 16 Zentimeter dicke Wandisolierung und stärkte so die alten Fassadenkonturen der Hochhäuser
    Foto: Luca Nicolao

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    Groupe Arcane legte weiße und schwarze Platten auf eine 16 Zentimeter dicke Wandisolierung und stärkte so die alten Fassadenkonturen der Hochhäuser

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    Der Plan zeigt die Lage der Wohntürme im Quartier.
    Plan im Maßstab 1:7500

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    Der Plan zeigt die Lage der Wohntürme im Quartier.

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    Das Tor zur Anlage der Orgues de Flandre, der „Flämischen Orgeln“
    Foto: Volker Ziegler

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    Das Tor zur Anlage der Orgues de Flandre, der „Flämischen Orgeln“

    Foto: Volker Ziegler

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    Spielplatz vor der Wohnbebauung, die die vier Türme umschließt
    Foto: Volker Ziegler

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    Spielplatz vor der Wohnbebauung, die die vier Türme umschließt

    Foto: Volker Ziegler

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    Das Innenleben der Anlage von Martin Schulz v. Treeck
    Foto: Volker Ziegler

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    Das Innenleben der Anlage von Martin Schulz v. Treeck

    Foto: Volker Ziegler

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    Foto: Volker Ziegler

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    Auf Hochglanz poliert: die Vorher-Nachher-Vision des Ateliers Lion; die Sanierung läuft seit 2013

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    Auf Hochglanz poliert: die Vorher-Nachher-Vision des Ateliers Lion; die Sanierung läuft seit 2013

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    Sanierung der Fassade durch das Ateliers Lion

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    Sanierung der Fassade durch das Ateliers Lion

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    Grundriss eines Wohnturms mit sanierter Fassade
    Plan im Maßstab 1:250

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    Grundriss eines Wohnturms mit sanierter Fassade

    Plan im Maßstab 1:250

Die heroische Zeit der Grands ensembles, der französischen Großwohnsiedlungen, endete vor vierzig Jahren in der Ölkrise. Ein Ministerialerlass von 1973 untersagte den Bau von Siedlungen mit mehr als 2000 Wohneinheiten (1000 bei Städten mit weniger als 50.000 Einwohnern). Das 1977 verabschiedete Gesetz „Loi Barre“ bedeutete das Aus für alle größeren städtischen Wohnbauprojekte und die Hinwendung zum individuellen Wohnungsbau.
Im selben Jahr leitete der Pariser Bebauungsplan die Rückkehr zu einer „Stadtarchitektur“ ohne Hochhäuser ein. Während die Mittelschicht aus den Grands ensembles abwanderte, führte der französische Staat verschiedene Versuchsprojekte mit Großsiedlungen durch. Seit 1971 organisiert eine Ministerialbehörde die Architektur- und Städtebauwettbewerbe des PAN – heute EUROPAN – mit Schwerpunkt Wohnungsbau und weist einzelnen Projekten Finanzmittel zu. Auch aktuelle Aufwertungsmaßnahmen der Politik, der „Politique de la ville“, sollen den Abwanderungstrend umkehren.
Die alte, allzu paternalistische und allwissende Planungsmentalität ignorierte die Bedürfnisse der Bewohner. Heute geht es nicht mehr darum, die „gelobte Stadt“ zu errichten, sondern Strategien für die Stadtreparatur und die Erneuerung bestehender Quartiere zu entwickeln, die die Bewohner in diese Prozesse einbeziehen.
Die Diskussion um die Erneuerung der Grands ensembles wurde in Frankreich vor allem mit Blick auf die Vorstädte geführt. Masterprogramme wie die hochdotierte Mission Banlieues 89, von 1981–89 unter den Architekten Roland Castro und Michel Cantal-Dupart, schienen zwar die bauliche, weniger jedoch die soziale Realität der Vorstädte verbessern zu können. Die Notlage, die „Malaise des banlieues“, blieb, und so wollte Nicolas Sarkozy als Innenminister 2005 noch als Saubermann in die Vorstadtdebatte eingreifen, um die Banlieues „mit dem Kärcher“ von der Kriminalität zu befreien.
Die Quartiere entgetthoisieren
Mittlerweile läuft die Finanzierung Hunderter Stadterneuerungsprojekte über eine Zentralbehörde, die Agence nationale pour la rénovation urbaine (ANRU). In enger Abstimmung mit den lokalen Akteuren sollen die betroffenen Quartiere „wieder in die Stadt eingegliedert“ werden. Ähnlich wie im Städtebauförderungsprogramm „Soziale Stadt“ werden nicht nur bauliche, sondern auch soziale und wirtschaftliche Verbesserungen angestrebt, deren Erfolg auch über Bürgerbeteiligungsverfahren garantiert werden soll. In der Praxis sind diese Verfahren allerdings so stark formalisiert, dass innovative Verbesserungen meist nur von strukturierten und aktiven Bürgerinitiativen durchgesetzt werden können.
Diese Initiativen fordern das Recht der Bewohner, sich ihr Wohnumfeld und die städtischen Freiräume aneignen zu können. Die Außenräume der Grands ensembles mit ihren in die Jahre gekommenen Grünanlagen und Spielplätzen rücken dabei ins Zentrum des Interesses. Die Neugestaltung dieser Flächen ist zwar durchaus von den Bewohnern erwünscht, aber in zweierlei Hinsicht schwierig. Die Politik der ANRU soll die Quartiere „entgetthoisieren“ und zur Stadt öffnen. Realisiert wird dies in baulichen Maßnahmen wie der Anlage neuer Wege und vor allem durchgehender Straßen. Man bedient sich dabei der Formulierung „Schaffung von öffentlichem Raum“, wobei die Bewohner oft befürchten, dass sich dahinter eine „Kontrolle durch die öffentliche Gewalt“, also durch die Polizei, verbirgt.
Ein viel diskutiertes Vorgehen ist die sogenannte „Résidentialisation“, die seit Ende der neunziger Jahre zum Werkzeugkasten der Stadterneuerung à la française gehört. Damit ist die eindeutige Zuordnung von Außenflächen zum Gebäude gemeint, zu einer Gemeinschaft im Gebäude – Bewohner, die am gleichen Treppenhaus wohnen oder den gleichen Hauseingang benutzen – oder einfach zu den Erdgeschosswohnungen. Das dient rein praktischen Zwecken (behindertengerechte Eingänge, Wertstoff-, Fahrrad- und Kinderwagenstationen), soll aber auch die Aufenthaltsqualitäten im direkten Umfeld aufwerten und die Nachbarschaftsbeziehungen befördern.
Die Qualität dieser neuen Räume hängt stark von der Einsichtigkeit des Bauherrn, der Feinfühligkeit des Architekten oder Landschaftsplaners und davon ab, wie es gelingt, Einzelwünsche und kollektive Interessen der Bewohner aufeinander abzustimmen. Die Kehrseite der Résidentialisation ist die Zerstückelung, die Umzäunung und Privatisierung großer Flächen zum Nutzen einiger Privilegierter. Damit wird auch ein wichtiges Potenzial dieser großen Außenflächen zerstört: Freiraum für eine spontane Aneignung durch alle Bewohnergruppen und für Graswurzel-Initiativen zu bieten.
Dieses Spannungsfeld stellt gerade Paris, eine der am dichtesten bebauten Metropolen Europas, deren Grundstücks- und Immobilienpreise jährlich zweistellige Zuwachsraten verzeichnen, vor eine Herausforderung. Seit 2002 erhalten elf Pariser „Stadterneuerungs-Großprojekte“ (GPRU) Mittel aus dem Fördertopf der staatlichen Behörde ANRU. Die GPRU sollen das Wohn- und Lebensumfeld von weit über 100.000 Parisern verbessern, vor allem in den äußeren Stadtbezirken entlang des Autobahnrings Périphérique, der die Grenze zwischen Paris und seinen Banlieues bildet. Zu den Gebieten zählt auch der Pariser Nordosten, der lange Zeit von den Industrieanlagen des Stadtteils Saint-Denis beherrscht war.
Die Industrieanlagen sind längst verschwunden. Auf ihren Arealen entstanden bis in die siebziger Jahre hinein große Wohnanlagen. Später wurde das riesige Gebiet um den Schlachthof in La Villette zu einer inzwischen bekannten Kultur- und Parklandschaft umgeformt. In diesem Gebiet werden derzeit zwei benachbarte Grands ensembles überholt, das eine im Rahmen eines GPRU, das andere im Rahmen des „Pariser Klimaplans“ (Plan Climat). Paris hatte sich 2007 verpflichtet, die Auflagen des Kyoto-Protokolls zu erfüllen und bis 2020 den Wärmeverbrauch und die Emissionen der Gesamtstadt um 25 Prozent zu senken und ihr 25 Prozent erneuerbare Energien zufließen zu lassen. Für stadteigene Betriebe und Immobilien sind sogar 30 Prozent angestrebt.
Durch Sanierungen soll der Energieverbrauch bei öffentlichen Gebäuden und Sozialwohnungen, aber auch bei Häusern privater Eigentümergemeinschaften von 240 auf 80 kWh/m2 reduziert werden. Konkret bedeutet das auch das Ende der in Frankreich üblichen innenliegenden Wärmedämmung – und ein grundlegendes Umdenken bei der Fassadengestaltung. Dieser Punkt ist gerade deshalb von Bedeutung, weil beide hier gezeigten Ensembles, die Orgues de Flandre und die Cité Michelet, nahe des Périphérique liegen und stadtbildprägende Hochhaussiedlungen sind. Die Orgues de Flandre genießt sogar Denkmalschutz.
Um die Ecke springende Fassade
Die 4300 Bewohner der Cité Michelet leben seit 2002 im Rhythmus der Schlagbohrmaschinen, die wohl erst 2015 zur Ruhe kommen werden. Das Ende der sechziger Jahre von der Pariser städtischen Wohnungsbaugesellschaft in Eigenregie errichtete Ensemble mit über 1800 Sozialwohnungen in sechzehn Hochhäusern und einer Wohnscheibe wird derzeit einer Gebäudesanierung und Résidentialisation unterzogen und die Siedlung durch neue Wege und Zufahrten mit dem umliegenden Viertel verknüpft. Die für 2015 geplante Anbindung an die Straßenbahnlinie T3 und, mit dem neuen Bahnhof Eole-Evangile, an die S-Bahn-Linie Eole wird die Siedlung auch aus ihrer isolierten Lage zwischen Bahngleisen und Périphérique führen.
Die Sanierung der 19-geschossigen Wohntürme umfasst die Fassadenerneuerung, die Haustechnik und die Gruppierung und Sicherung der Hauseingänge durch Gitter und Sicherheitscodes. Eine besondere Herausforderung stellt dabei die Renovierung der Fassaden dar, die mit ihrem Spiel von über Eck springenden Mäanderbändern aus Wandflächen und tiefen Loggien für alle Zugreisenden mit Ziel Gare de l’Est die Einfahrt nach Paris begleiten. Allerdings geht durch diese Fassaden auch viel Wärme verloren. Das Pariser Büro Groupe Arcane, das sich auf die Erneuerung von Wohnsiedlungen spezialisiert hat, löst den Spagat zwischen Fassadenschutz und Plan Climat mit einer 16 Zentimeter dicken Wandisolierung, die mit weißen und schwarzen Elementen verkleidet wird. Die hochisolierten Loggienfassaden erhalten raumhohe Paneele in Rot- und Erdtönen. Der Energieverbrauch wurde von 237 auf unter 100 kWh/m2 reduziert – das bis heute größte Fassadenrenovierungsprojekt in Frankreich.
Die Bürgerbeteilung am Erneuerungsprozess der Cité Michelet war von Anfang an hoch. So setzten Bürgervereine in einer Abstimmung über die Gestaltung der Außenräume durch, dass der Fußgängercharakter der Siedlung gewahrt und zwei neue Gärten geschaffen werden. Allerdings wurde der Quartiersinnenbereich auch durch eine neue Fahrstraße geöffnet.
Die Restrukturierung und Résidentialisation der Quartiersräume wurde durch die Architekten Patrick Céleste, Dominique Blanc und das Landschaftsplanungsbüro Pena 2012 abgeschlossen. Die Architekten haben im Quartier auch einen Komplex mit Sporthalle und Sportplatz gebaut, der in das Außenraumkonzept integriert wurde. Zu den erneuerten Einrichtungen gehört außerdem das sogenannte Animationszentrum von den Pariser Architekten AIR, das wie eine Wagenburg zwischen den Hochbauten liegt. Mit wenigen Eingriffen wurde daraus – so der Direktor des Zentrums – ein „Blumenstrauß“ inmitten des Quartiers, der allerdings auch nicht ohne eine auffällige Umzäunung auskommt.
Beim Umbau des Schulkomplexes Rosa Parks hat das Paris-Straßburger Büro TOA den Bestand aufgebrochen und das Gebäude bis an den Grundstücksrand erweitert, sodass Kindergarten, Vorschule und Sporthalle jeweils über eigene Eingänge von der Straße zugänglich sind. Neu und Alt werden über zwei Metallpasserellen verbunden und rahmen dadurch zwei neu entstandene Schulhöfe. Die Fassaden bestehen aus raumhohen Betonelementen, Metallpaneelen und Glaselementen.
Das Spiel der flämischen Orgeln
Die Orgues de Flandre, die „Flämischen Orgeln“, sind das Opus magnus des Berliner Architekten Martin Schulz van Treeck, dessen Karriere sich ab den späten fünfziger Jahren vor allem in Frankreich abspielte. Von 1967 bis 1976 war er mit der Flächensanierung des Riquet-Blocks an der Avenue de Flandre beauftragt. Er errichtet dort das einzigartige Grand ensemble mit 1870 Wohnungen und Nahversorgungseinrichtungen. Beim Entwerfen dieser Anlage mit vier 26- bis 39-stöckigen Wohntürmen nutzte Schulz van Treeck eine Kamera, mit der man das Innere sei- nes komplexen Entwurfsmodells darstellen konnte. Dieses „Relatoskop“ basierte auf dem Oto-Endoskops, das sein Vater, ein Arzt, für die Ohrendiagnose entwickelt hatte.
Gerade die Kubatur der von unten bis oben verkachelten, teilweise auskragenden Stahlbetonbauten bereitet nun aber Schwierigkeiten bei der Sanierung. Nur in den Balkonnischen ergeben sich gestalterische Freiheiten, nicht zuletzt, weil die Anlage unter Denkmalschutz steht. Über hundert französische Grand ensembles aus den Jahren 1945–1975 fallen unter das 1999 geschaffene Label „Denkmal des 20. Jahrhunderts“. Diese Bezeichnung besitzt allerdings weniger einen Pflichtcharakter, vielmehr soll sie die Akteure der Stadterneuerung für die Qualitäten des Bestands sensibilisieren. Nach langwierigen Vorstudien, einer Bewohnerbefragung zum Sanierungsprojekt und dem Einrichten einer Musterwohnung beauftrage eine der größten Wohnungsbaugesellschaften Frankreichs, die Immobilière 3F, zwei Archtekturbüros mit der denkmalgerechten Sanierung der Anlage.
Marie-Christine Quintard und Guy Verdière sanierten von 2009 bis 2012 die über die Avenue kragenden Wohngebäude. Die Architekten hielten sich an die engen Vorgaben für die Renovierung der denkmalgeschützten Fassaden und konzentrierten sich auf die Erneuerung der Haustechnik, auf die Gemeinschaftsflächen und die Fenster. Dadurch wurde der Energieverbrauch zwar um 20 Prozent reduziert, die Vorgaben der Stadt Paris, die diese Sanierungsmaßnahme als prioritär eingestuft hatte, allerdings nicht erfüllt. Doch selbst eine Sanierung mit den Standards von Immobilière 3F für etwa 46.000 Euro pro Wohnung wäre für die Eigentümergemeinschaft, die zwei der vier Türme des Ensembles besitzt, noch zu teuer. Dies zeigt, wie schwierig es für Privateigentümer ist, bei der Umsetzung des Plan Climat mitzuziehen.
Im zweiten Sanierungsabschnitt, seit 2013, werden die anderen beiden 28- und 37-stöckigen Türme durch das Pariser Ateliers Lion Associes von Yves Lion renoviert. Diedenkmalpflegerischen Auflagen und die Bedeutung der Türme für das Pariser Stadtbild lassen nur minimale Veränderungen zu, sodass die Architekten vor allem an der Textur und dem Lichtspiel der Fassaden arbeiten. Yves Lion, dessen Büro in ganz Frankreich Stadterneuerungsprojekte durchführt, hat als Kurator des Französischen Pavillons auf der Architekturbiennale 2012 mit seiner Schau „Grands & ensembles“ die französischen Großsiedlungen thematisiert und sich für deren stärkere Einbettung in die Umgebung – und für die Fokussierung auf die Bewohner ausgesprochen.
Im Schatten der Türme der Cité Michelet und der Orgues de Flandre passiert genau dieses Bottom-Up. Abseits großer Budgets und staatlicher Programme bilden sich Gemeinschaftsgärten und Nachbarschaftsplätze in Eigenregie. Vielleicht steht Paris eine Graswurzel-Revolution bevor.



Fakten
Architekten Castro, Roland, Paris; Cantal-Dupart, Michel, Paris; Groupe Arcane, Paris; Schulz van Treeck, Martin, Berlin; Lion Associes, Paris
Adresse Résidence Edmond Michelet-Curial, 75019 Paris Frankreich


aus Bauwelt 40-41.2014
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