Bauwelt

Quartier Le Albere


Das zusammenfallende Kartenhaus


Text: Ingersoll, Richard, Montevarchi


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Auf dem Gelände einer ehemaligen Reifenfabrik in Trient entstand nach Plänen aus dem Architekturbüro von Renzo Piano ein neues Quartier. Soll es wirklich Vorbild für eine moderne italienische Stadt sein? Immerhin ist es Piano gelungen, nun auch in seiner Heimat mit einem privaten Finanzier ein Großprojekt nicht nur zu planen, sondern auch zu bauen. Der Palazzo delle Albere nebenan indes steht nach einer Nutzung als Museum wieder leer. Es droht zu verfallen.
Öffentliche Bauvorhaben in Italien sind nicht einfach zu vollenden. In der Regel sorgen endlose bürokratische Hindernisse dafür, dass Bauten Jahrzehnte brauchen, um abgeschlossen zu werden. So wurde der Florentiner Justizpalast 2009 vollen-det, Leonardo Ricci hatte den Wettbewerb hierfür aber schon Mitte der siebziger Jahre gewonnen. Und die besten Projekte von Renzo Piano findet man außerhalb Italiens. Dass nun in Trient das Naturwissenschaftliche Museum MUSE und das angrenzende Stadtviertel Le Albere nach den Entwürfen seines Büros weitgehend abgeschlossen werden konnten, grenzt angesichts dieser Verhältnisse fast an ein Wunder.
Die Region Trentino-Südtirol ist eine von fünf autonomen Regionen Italiens. Sie hat das Recht, in ihrem Gebiet eingenommene Steuern selber auszugeben, statt die Gelder nach Rom abzuführen. Dank der guten Verwaltung ist die Region in den letzten Jahren zur produktivsten und wohlhabendsten in Italien geworden. Das neue Museum, zehn Gebäudeblocks und ein in Bau befindliches kleines Kongresszentrum gehören zum umfangreichste Stadtentwicklungsprojekt Italiens seit der Fertigstellung des La Bicocca-Viertels in Mailand, das Gregotti Associati zwischen 1988 und 2005 für die Firma Pirelli verwirklichten.
Auf dem 11 Hektar großen Gelände befand sich zwischen 1927 und 1999 ein wichtiger Produktionsstandort der Firma Michelin. Das Areal liegt zwar in der Nähe des Stadtzentrums, ist aber eine begrenzte Enklave. An seinem östlichen Rand verläuft eine wichtige Eisenbahnstrecke, im Westen bilden die Autobahn A 22 und die Etsch die Grenze, und an der Nordseite ist es durch ein Stadion und die dazugehörenden Parkplätze vom historischen Zentrum getrennt. Die Provinz Trient erwarb das Gelände Ende der neunziger Jahre. Zunächst wurde ein Ideenwettbewerb unter vier Teams durchgeführt, die jeweils aus einem ortsansässigen und einem auswärtigen Architekten bestanden. Kurz darauf wurde das Gelände an ein Entwicklungskonsortium, die Castello SGR S.p.A. verkauft, das sich zu einer öffentlich-privaten Partnerschaft bereit fand, bei der 25 Prozent der Grundstücksfläche an die Stadt zurückfallen sollte. Das Museum und der große Park auf dem bei der Stadt verbleibenden Teil sollten den Marktwert des privat erschlossenen Areals steigern. Im Jahr 2002 wurde Renzo Piano hierfür mit der Planung beauftragt, ohne einen weiteren Wettbewerb.
Der Entwurf für das neue, privat entwickelte Stadtviertel Le Albere stammt von Susanna Scarabicchi, einer Mitarbeiterin im Genueser Büro von Piano. Sie konnte sich auf zwei frühere Entwürfe stützen: Den einen lieferte der katalanische Architekt Joan Busquets, den anderen Renato Bocchi, ein Professor am IUAV in Venedig, der 2001 am Masterplan für die Stadt mitgearbeitet hatte. Busquets wollte die Bahngleise überbrücken und das Viertel so an das Hauptstraßennetz der Stadt anbinden. Eine solche Lösung wäre jedoch zu teuer geworden und hätte eine Kooperation mit der nationalen Eisenbahngesellschaft erfordert, die als notorisch schwieriger Partner bekannt ist. Bocchis Team schlug auch vor, über die Autobahn hinweg einen direkten Fußgängerzugang von Westen zu schaffen; ein Konzept, das mit dem endgültigen Projekt tatsächlich verwirklicht wurde. Während die Auswirkungen der Autobahn auf diese Weise gemildert wurde, bleiben die Probleme mit der Bahntrasse und der Zugänglichkeit des Stadtzentrums bestehen. Le Albere ist weiterhin eine Enklave, eine schrille Tasche, die verführerisch am Körper Trients baumelt.
Rettet den Palazzo!
Auf dem Gelände befindet sich auch ein bedeutendes historisches Bauwerk der Stadt, dem das neue Viertel seinen Namen verdankt, der Palazzo delle Albere aus der Renaissance. Er wurde von Cristoforo Madruzzo, dem Fürstbischof der Stadt, in Auftrag gegeben, der in der Mitte des 16. Jahrhunderts dazu beitrug, dass Trient zum Tagungsort des gegenreformatorischen Konzils wurde. „Albere“ bezieht sich auf die parallelen Pappelreihen, die einst vom Stadtzentrum bis zum Palast des Fürstbischofs führten, seit langer Zeit aber durch einen Friedhof und die Bahntrasse unterbrochen sind. Das rechteckige Gebäude mit Ecktürmen ist umgeben von einem zurzeit trockenen Wassergraben. Die allseitige Umgrenzung durch Wasser ist aber auch das einzige Merkmal, das es mit dem neuen Museum gemein hat. Zwanzig Jahre lang war im Palazzo delle Albere ein Museum für zeitgenössische Kunst untergebracht, das inzwischen als MART in ein neues Gebäude von Mario Botta in der Nachbarstadt Rovereto umgesiedelt wurde. Seit 2002 ist der Palazzo dem Verfall preisgegeben und bedarf dringend der Restaurierung.
Das neue Museum ist dem Renaissancebau gefährlich nahe gerückt, bis auf 25 Meter. Die dynamischen Dächer des Neubaus mit ihren unregelmäßigen Neigungen erzeugen eine heftige Dissonanz. Pianos Bau scheint wie eine Schar von Landsknechten mit aufgepflanzten Bajonetten den Kampf ge-gen das Bollwerk der Gegenreformation aufzunehmen.
MUSE
Das MUSE, die beiden ersten Buchstaben stehen für „MUseum“ und beiden letzten für „SciencE“, hat seinen Ursprung in einem lange Zeit wenig besuchten naturwissenschaftlichen Museum der Stadt, das zugleich wichtige Forschungsvorhaben fördert. Vor allem Michele Lanzinger, seit 1992 der Direktor des Museums, bemühte sich darum, die Institution spektakulärer und interaktiver zu gestalten. Dieses Ziel ist mit dem Neubau erreicht: Im ersten Monat nach der Eröffnung kamen täglich fast 2500 Besucher. Die 2700 Quadratmeter umfassende Ausstellungsfläche ermöglicht eine großzügige Inszenierung. Parallel zur Museumserweiterung konnte auch die Zahl der wissenschaftlichen Mitarbeiter vergrößert werden. Fast die Hälfte der Flächen ist für Büros, Bibliothek und Forschungslabore reserviert.
Für Renzo Piano ist das MUSE nach dem NEMO in Amsterdam aus dem Jahr 1997 und der California Academy of Sciences in San Francisco (Bauwelt 41.2008) das dritte Wissenschaftsmuseum. Während in Amsterdam das Gebäude wie der Bug eines gigantischen Schiffs in den Hafen vorkragt, knüpft das bepflanzte, an sich wölbende Hügel erinnernde Dach in San Francisco an die Landschaft des Golden Gate Parks an.
Piano betont, dass er sich in Trient von den zerfransten Umrissen des Monte Bondone und den zerklüfteten Gipfeln der Alpen inspirieren ließ, doch die kontrastierenden Neigungen der Dächer erinnern eher an ein zusammenfallendes Kartenhaus. Die spitzen Dachflächen steigen mit unterschiedlichen Neigungen hoch über den fünf Museumsgeschossen auf und sind mit Solarzellen bestückt. Über die Lage des Museums, dicht am historischen Zentrum, lässt sich nicht streiten, sie ist logistisch günstig. Unverständlich aber ist, warum es so nahe an den Palazzo gerückt werden musste.
Pianos Mantra der Leichtigkeit und Transparenz wurde von seinem Büro pflichtgemäß befolgt, jedoch scheint die Ästhetik des Bruchs – eine Spalte trennt den Büroblock vom Foyer und den Museumsblock vom tropischen Gewächshaus –, funktionaler oder konstruktiver Logik nicht zu folgen. Das bringt deutliche Mängel mit sich. Zum Beispiel stößt am westlichen Zugangsweg zum Eingang eine der aluminiumverkleideten Dachflächen bis auf Kopfhöhe hinunter, sodass Passanten durch ein rotweißes Sicherungsband auf die Gefahr hingewiesen werden müssen. Tafeln aus blendend weißem Arduino-Stein verkleiden die Außenwände. Er stammt aus einem Steinbruch in der Gegend. Diese hellen Tafeln stehen in harschem Kontrast zur Umgebung. Vergleicht man dieses heftige Bild mit der Anmut, mit der sich Renzo Pianos Fondation Beyeler in die vorstädtische Umgebung Basels einfügt, wird deutlich, dass das MUSE partout durch Kontrast auf sich und das neue Viertel aufmerksam machen will.
Auch die Innenarchitektur, einschließlich der für die Ausstellung, wurde von Renzo Pianos Büro entworfen und weist außergewöhnliche Details auf. Sie beziehen sich beispielsweise auf Arbeiten von Franco Albini, einen Mentor Pianos, der für Inneneinrichtungen zur Stabilisierung ebener Flächen gespannte Stahlseile einsetzte. Die meisten Ausstellungstische sind an solchen Stahlseilen zwischen Decke und Boden fixiert.
Die Hauptattraktion des Museumsgebäudes ist ein sechsgeschossiges Atrium, in dem 45 Tierpräparate in gestaffelter Anordnung von der Decke hängen. Ich fühlte mich unmittelbar an Maurizio Catalans Retrospektive im New Yorker Guggenheim Museum erinnert, bei der der Künstler sein gesamtes Œuvre im Atrium aufhängte und so eine verblüffende Galaxie schuf. Jedes Geschoss des Museums, das von oben beginnend chronologisch aufgebaut ist, setzt sich mit einem bestimmten Aspekt der alpinen Umwelt auseinander. In einigen Geschossen begegnet man diversen Materialien, die man in die Hand nehmen kann und Präsentationen authentischer Proben aus den Bergen der Umgebung. Einer der Blickfänge im obersten Geschoss ist ein simulierter Gletscher. Er schmilzt, für die Besucher erkennbar, und bildet sich auch wieder neu. Vom obersten Geschoss gelangt man auf eine große Terrasse, die für Museumsveranstaltungen und Feste genutzt wird.
Der Höhepunkt der gesamten Ausstellung ist der „tropische Wald“, die Nachgestaltung einer tansanischen Dschungellandschaft. In Tansania betreiben einige Museumsmitarbeiter schon seit mehr als zehn Jahren ein Forschungsprojekt. Man schlendert unter einem simulierten Wasserfall hindurch, auf einem sich schlängelnden Pfad, der von tropischen Gewächsen gesäumt wird. Das Aufeinandertreffen zweier gigantischer Glasflächen in einer unharmonisch schrägen Linie über dem Gewächshaus stellt die wohl provokanteste Position gegenüber dem Palazzo dar. Nahe dem Fahrstuhl liest man im Museum eine Maxime von Albert Einstein: „Man muss die Dinge so einfach wie möglich machen. Aber nicht einfacher“!
Das neue Stadtviertel
Wäre der warme rosa Marmor (Rosso di Trento), der zur Pflasterung des Museumsfoyers verwendet wurde, auch anstelle der weißen Außenverkleidung eingesetzt worden, würde sich das Gebäude zurückhaltender präsentieren. Tatsächlich zeigt dieser Marmor an den Wänden der anderen Gebäude im neuen Viertel Le Albere eine wundervolle Wirkung. Das Museum aber agiert als glänzende Kulisse für das durch Straßen und Plätze gegliederte, zehn Blocks mit insgesamt achtzehn Gebäuden umfassende Viertel. Das gesamte Quartier wird von Fußgängerstraßen erschlossen; für die Autos gibt es eine Ringstraße und ausreichende Stellplätze in Tiefgaragen. Die Hauptstraße von geometrischer Strenge führt über 300 Meter vom Foyer des MUSE zum Eingang des Konferenzzentrums und des Hotels. Ihre Breite von 15 Metern entspricht der Höhe der fünfgeschossigen Fassaden. Zu beiden Seiten wird die Straße durch Portiken aus Lärchen-Schichtholz stark verengt, unter denen sich Läden befinden. Eine zweite, etwas schmalere Straße, zweigt in einer leichten Kurve von der ersten ab und endet an der westlichen Spitze des Museums. Zu ihrer Seite verläuft ein zwei Meter breiter Kanal, der an die Tridentiner Tradition von Wassergräben längs der Hauptstraßen anknüpft. Die meisten der 350 Wohnungen, von denen einige zweigeschossig sind, sammeln sich um zwei dreieckige Höfe. Die Holzstützen setzen sich von den Portiken im Erdgeschoss bis zur Spitze der Gebäude fort und fungieren als Gerüst, hinter dem sich großzügige Terrassen verbergen. Die dahinter liegenden Beton­ober-flächen zeigen sich in dunklem Graublau, die Sonnenblenden sind lindgrün.
Leerstand
Während angeblich die meisten Büro- und Ladenflächen verkauft sind, stehen viele Wohnungen – 35 Prozent des gesamten Bauprogramms – noch leer. Sie sind etwas teurer als vergleichbare Wohnungen im Stadtzentrum, aber der Hauptgrund ist, dass die wohlhabenden Einwohner Trients solche Wohnungen nicht nachfragen. Sie leben lieber in einem Landhaus und fahren mit dem Auto zur Arbeit in die Stadt, als sich auf einen experimentellen Lebensstil in einem dicht bebauten Viertel einzulassen. Schön ist der riesige öffentliche Park im unteren, südwestlichen Teil des Geländes. Es gibt wieder einen Zugang zum Fluss, der freilich keine große Schönheit ist, weil ihn die Österreicher Mitte des 19. Jahrhunderts begradigt und damit seiner Auen beraubt haben. Eine Fußgängerbrücke führt zu einem Kohlekraftwerk, das von Roberto Ferrari, Spross einer örtlichen Architektendynastie, gebaut wurde. Es versorgt die Neubauten mit Wärme. Ein Drittel der in Le Alberer benötigten Energie liefern Photovoltaikmodule. Das Quartier wurde mit dem Standard LEED Gold ausgezeichnet.



Fakten
Architekten Piano, Renzo, Genua/Paris
aus Bauwelt 37.2013
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