Stirlings Stuttgarter Lektion
Text: Geipel, Kaye, Berlin
Eine Ortsbegehung in der Nachbarschaft des Bahnhofs zeigt: James Stirlings Staatsgalerie, Schlüsselbau der europäischen Postmoderne, und das Vorzeige-Stadtquartier A1 auf der Rückseite des Bahnhofs haben mehr miteinander zu tun, als es den Planern recht sein kann
Ende November, ich sitze im Zug von Berlin nach Stuttgart. Stuttgart 21 soll diesmal links liegen bleiben. Ich fahre nach Stuttgart, weil mich das neue Stadtquartier hinter dem Bahnhof interessiert, das seit seinem Startschuss vor mehr als 15 Jahren mit einem blöckischen Hauptsitz für die Landesbank Baden-Württemberg mit kalkuliert konventioneller Architektur vor sich hin gebaut wird. Warum, so frage ich mich, als der Zug zwischen Mannheim und Stuttgart gerade durch eine Reihe von Hochgeschwindigkeitstunneln rauscht, vergräbt sich die Architekturavantgarde eigentlich so gern in den Untergrund (Ingenhovens Bahnhof, Schneider und Schumachers Erweiterung des Städel-Museums) oder setzt auf weithin sichtbare Ikonen, statt sich mehr mit dem „Erdgeschoss“ der Stadt zu beschäftigen. Auch aus diesem Grund will ich mir in der Staatsgalerie nochmals die große Ausstellung über James Stirling ansehen, dem bei seinem 1984 eröffneten Stuttgarter Museum zum Vorwurf gemacht wurde: dass es bloß noch ein begehbarer, wenn auch viel zu monumentaler Sockel sei und keine Fassade mehr habe. Die von Anthony Vidler konzipierte Stirling-Ausstellung (Heft 39–40.2011) ist eindrucksvoll. Aber sie ist in Stuttgart kein Publikumserfolg. Das finde ich erstaunlich. Über kein Bauwerk wurde in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern in Deutschland heftiger gestritten als über Stirlings Neue Staatsgalerie. Ich habe bis 1992 in Stuttgart gelebt, und den Museumsbau mit seiner öffentlichen Durchwegung immer auch als Wiedergutmachung an der brutalen Verkehrsplanung der Nachkriegszeit verstanden, die den Talkessel direkt vor der Staatsgalerie in zwei Tranchen zerlegt hatte. Stirlings Bau wurde damals als unseriös, als monumental und als faschistisch bezeichnet. Ausgelöst wurde die Kritik durch das Faible des Architekten für travertinverkleidete Mauern und durch sein Jonglieren mit Pop-Elementen wie den pinkfarbenen Brüstungen oder dem giftgrünen Kautschukboden. Wenig war damals die Rede von den erbarmungslosen Städtebaumustern, die den Fußgänger rund um das Museum völlig an den Rand gedrängt hatten und denen durch Stirlings Entwurf plötzlich wieder ein Aufenthaltsraum gegeben wurde. Heute kann man es klarer sehen: Nicht das konservative Kunstmuseum selbst, sondern die begehbare Stadtlandschaft entlang der Konrad-Adenauer-Straße ist Stirlings eindrucksvollste Hinterlassenschaft in der Stadt. Sie wurde zum Vorbild für eine aktive Auffassung von Architektur, in der den öffentlichen Institutionen die Aufgabe zufällt, die Idee des „public space“ weiterzuentwickeln. Wenn ich an die Oper von Oslo von Snøhetta (2007) mit ihrem begehbaren Dach denke, die den zuvor brachgelegenen, durch Schnellstraßen abgetrennten Hafen wieder an die Stadt angebunden hat, erscheint mir Stirling aktueller denn je.
In Stirlings Museumscafé bin ich mit Peter Beye verabredet, dem langjährigen (1969 bis 1994) Direktor der Staatsgalerie. An den Wänden hängen grün eingefärbte Kunstgewerbefotografien, die Joseph Beuys beim Arbeiten zeigen. Das originale Mobiliar ist verschwunden. „Stirlings Entwurf hat uns in der Jury damals umgehauen“, sagt Beye. Die Veränderung der Stadtstruktur mittels der monumentalen Durchwegung habe man zunächst gar nicht verstanden. Die Rotunde sei aber „eine geniale Erfindung“. Zwar hatten die anderen Entwürfe ebenfalls eine Durchwegung vorgesehen – das stand so im Programm –, aber das waren eher „Klötze in amputiertem Grün“.
Für den heutigen Direktor der Staatsgalerie, Sean Rainbird, ist die Situation der Stadt aus der Sicht eines Museumsmenschen defensiv geworden: Die Zeiten, in denen die Stadtplaner mit einer Kunstmeile die Idee des Zentrums beeinflussen konnten, seien vorbei. „Jede Planung hat ihr Zeitfenster. Wir müssen heute froh sein, wenn uns mit wenig Mitteln die Erneuerung des Museumseingangs gelingt.“
A1 bei Nacht
Zwei Wochen später bin ich erneut in Stuttgart. Ankunft am Hauptbahnhof kurz vor acht Uhr abends. Ich verlasse das Gebäude über den Nordausgang. Der Metallzaun, der die Baustelle des abgerissenen Nordflügels geschützt hatte und auf dem Tausende von erbitterten Kommentaren zu lesen waren, ist inzwischen vom Haus der Geschichte erworben worden. Auch der neue Drahtzaun ist bereits wieder über und über mit Protestnoten gespickt. Ich will mir vor der Schließung um 21 Uhr noch ansehen, wie die neue Bibliothek – das öffentliche Aushängeschild des A1-Quartiers hinter dem Bahnhof – vom Publikum angenommen wird. Wenn Stuttgart eine gefährliche Stadt wäre, würde ich mich beim Durchqueren der Blöcke fürchten. So laufe ich verloren durch ein Quartier mit dem Charme einer Messestadt am Rande der City, die am Abend von allen verlassen ist. Fünf Minuten später stehe ich vor der blau leuchtenden Bibliothek. Ob seiner abweisenden Fassade geriet der Bau des Kölner Architekten Eun Young Yi schon vor der Eröffnung in die Kritik. Der ursprünglich vorgesehene Name „Bibliothek 21“ erwies sich wegen der Nähe zu S21 als glücklos. Heute steht schlicht „Stadtbibliothek“ auf der Fassade. Zwei geradezu winzige Eingänge führen in diesen Würfel, in eine strahlend helle und übersichtliche Innenarchitektur, in deren oberer Hälfte der viergeschossige Lesesaal untergebracht ist, der an diesem Freitagabend gut besucht ist. Nimmt man das funktionslose, auf allen Seiten von Fenstern umgebene Atrium im Erdgeschoss hinzu, hat der Architekt eine Art doppeltes Panoptikum gebaut, zwei attraktive Großräume, die ein passendes Zitat auf die heutige Wissensvermittlung abgeben.
Am folgenden Mittag treffe ich mich im A1-Quartier mit Uwe Stuckenbrock, dem zuständigen Leiter des Planungsamts Stuttgart für den Bereich Mitte. Wir laufen durch ein Viertel, dessen Straßenräume dicht sind – eine Prämisse bei der Planung des Quartiers. Doch die Büroblöcke wirken zu groß, und die Erschließung mit quer zum Tal verlaufenden abgetreppten Fußgängerwegen erinnert nur von ferne an die bekannten Stäffele. Von der Gestaltung her ist die Durchwegung von kaum zu überbietender Dürftigkeit. Außer der Verpflichtung zu eingeschränkten Wettbewerben habe die Stadt kaum Einfluss gehabt auf die Entscheidungen der Investoren, so Stuckenbrock. Entwickelt werden die Grundstücke von der Bahn. Die Bibliothek bildet das einzige öffentliche Gebäude, dahinter beginnt die Leere riesiger Baugruben. Hier wird unter anderem die ECE 500 Millionen Euro in eine Mall investieren.
Kurz vor Weihnachten, längst wieder in der Redaktion, ruft mich der Architekt Eun Young Yi an. Er hat gehört, dass die Bauwelt eine Veröffentlichung der Stadtbibliothek plant. Er will vorbeugen. „Die Leute sind von der endlosen Debatte um S21 geblendet.“ Yi wünscht sich, dass nicht mehr über das Umfeld, sondern über die Architektur seiner Bibliothek gesprochen wird. Ich bestätige, dass mich die Architektur des Lesesaals beeindruckt hat. Aber ich kann andrerseits nicht verstehen, wieso man diesen wunderbaren architektonischen Raum so hoch in die Luft gestemmt hat, statt möglichst viele Funktionen auf den Boden der Stadt zu holen, dort, wo sie dem ganzen Quartier nützen würden. Falsch, entgegnet Yi. Man würde sein Konzept noch schätzen lernen. Es sei ja gerade die Absicht, dass sich seine Architektur abwende von den poveren Außenräumen der Umgebung. Sollte dies wirklich der offiziellen Stuttgarter Planungspolitik entsprechen, dann wäre von der Wirkung der postmodernen Kritik an den unwirtlichen Straßenräumen nichts mehr übriggeblieben. Die Stadt überlässt ihre Zukunft den Developern von der Bahn und scheint es nicht einmal zu merken.
„Die große Erzählung über die neue Umgebung des Bahnhofs“, so formuliert es Uwe Stuckenbrock, „ist ja noch nicht geschrieben.“ Das mag so sein. Erst ein kleiner Teil ist gebaut, zählt man die Quartiere A2 längs des Bahnareals und C1, C2 und D beim Rosensteinpark dazu, geht es um eine Aufgabe für die nächsten 30 Jahre. Eine herausragende Chance. Aber momentan fehlen hinter dem Stuttgarter Bahnhof der Wille wie auch die Fähigkeit, überhaupt etwas erzählen zu wollen.
x
Bauwelt Newsletter
Immer freitags erscheint der Bauwelt-Newsletter mit dem Wichtigsten der Woche: Lesen Sie, worum es in der neuen Ausgabe geht. Außerdem:
- » aktuelle Stellenangebote
- » exklusive Online-Beiträge, Interviews und Bildstrecken
- » Wettbewerbsauslobungen
- » Termine
- » Der Newsletter ist selbstverständlich kostenlos und jederzeit wieder kündbar.
Beispiele, Hinweise: Datenschutz, Analyse, Widerruf
0 Kommentare