Bauwelt

wagnisART in München


Eingeklemmt zwischen Autobahn und Frankfurter Ring im Nordosten Münchens hat die Genossenschaft wagnis ihr neues Wohnprojekt realisiert. Herausragend ist das Ensemble, weil es auch für das umliegende Quartier etwas tut. Selbst der bisher mehr auf Braves und Bewährtes fixierte Deutsche Städtebaupreis hat dies honoriert.


Text: Geipel, Kaye, Berlin


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    Städtischer Kunsthof im Südosten, orthogonal strukturierte neue Wohnbebauung im Nordosten: Das Genossenschaftsprojekt bildet ein Scharnier zwischen den unterschied­lichen Strukturen. Rechts die umlaufende Brücke, die die fünf Blöcke miteinan­-der verbindet.
    Foto: Kaye Geipel

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    Städtischer Kunsthof im Südosten, orthogonal strukturierte neue Wohnbebauung im Nordosten: Das Genossenschaftsprojekt bildet ein Scharnier zwischen den unterschied­lichen Strukturen. Rechts die umlaufende Brücke, die die fünf Blöcke miteinan­-der verbindet.

    Foto: Kaye Geipel

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    Der öffentliche Hof ist bekiest, der mehr private ist begrünt.
    Foto: Julia Knop

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    Der öffentliche Hof ist bekiest, der mehr private ist begrünt.

    Foto: Julia Knop

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    Ein genau austarierter Grünplan unterscheidet öffent­liche Räume von halböffentlichen Räumen. Die Planer a+k und bauchplan erhielten dafür den Deutschen Landschaftsar­chitekturpreis 2017 in der Sparte Partizipation.

    Foto: Julia Knop

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    Ein genau austarierter Grünplan unterscheidet öffent­liche Räume von halböffentlichen Räumen. Die Planer a+k und bauchplan erhielten dafür den Deutschen Landschaftsar­chitekturpreis 2017 in der Sparte Partizipation.

    Foto: Julia Knop

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    Foto: Julia Knop

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    Foto: Julia Knop

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    Blick von einer der umlaufenden Erschließungen auf den Hof.
    Foto: Julia Knop

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    Blick von einer der umlaufenden Erschließungen auf den Hof.

    Foto: Julia Knop

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    Die inneren Erschließungen sind großzügiger dimen­sioniert als üblicherweise. Im Treppenauge: eine Tischtennisplatte.
    Foto: Michael Heinrich

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    Die inneren Erschließungen sind großzügiger dimen­sioniert als üblicherweise. Im Treppenauge: eine Tischtennisplatte.

    Foto: Michael Heinrich

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    Blick von einem Erschließungsflur auf eine der Brücken, darunter der Hof.
    Fotos: Julia Knop

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    Blick von einem Erschließungsflur auf eine der Brücken, darunter der Hof.

    Fotos: Julia Knop

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    Foto: Kaye Geipel

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    Foto: Kaye Geipel

Am Ende des Rundgangs wird der Architekt grundsätzlich: „Die Wohnungsfrage in München ist explosiv. Jeder muss heute zusehen, wo er bleibt. Die Leute brauchen aber Sicherheit. Sie brauchen einen Platz zum Wohnen, der ihnen von niemand streitig gemacht wird. Erst dann sind sie in der Lage, sich um die Wohngemeinschaft und um die Belange der Nachbarschaft zu kümmern.“
Rainer Hofmann steht auf einer der Brücken, die in knapp 10 Metern Höhe die fünf Wohnbauten verbinden, die hier zu einem lockeren Ensemble verknüpft sind, das in der Mitte zwei ineinander übergehende Hofflächen umfasst. Unter uns liegt der öffentliche Hof mit Kiesbett, Läden, Gemeinschaftseinrichtungen, Kinderspielflächen, Ateliers und bald auch einem Restaurant. Solche zusätzlichen Nutzungen finden die rund 320 Bewohner in ihrem Quartier vor, bei bezahlbaren, je nach Einkommen gestaffelten Mieten. Hier, im nördlichen Schwabing, zwischen dem Frankfurter Ring und der Autobahn A9, immer noch Stadt, aber nicht mehr ganz vollständig, ist es wohl genau das, was man sich wünscht: Ein nach außen offenes Ensemble von 138 Wohnungen, die einen Teil der Funktionen, die in der Nachbarschaft fehlen, integriert – als ein von Anfang an bewusst geplantes „Add-on“, an dessen Ausgestaltung die Bewohner wäh­-rend des Planungsprozesses beteiligt waren. Die Genossenschaft „wagnis“ verfolgt seit vielen Jahren solche Konzepte und entwickelt sie weiter (Stadtbauwelt 36.2013). Es ist einer der wenigen Lichtblicke im heutigen Wohnungsbau, ein Sonderfall sicher, von dem man sich aber Beispielwirkung erhofft. „Eigentlich“, so Reiner Hofmann, „müsste der Wohnungsmarkt mehr von solchen Genossenschaften geprägt sein.“ Ist er aber nicht. Wie enttäuschend neuer Wohnungsbau heute ist, kann man sich in der nächsten Nachbarschaft ansehen.

Nebenan: Stadtvillen als Standardware

Das Projekt „wagnisART“ ist Teil des Umbaus der ehemaligen Funkkaserne, dessen städtebaulichen Wettbewerb Ortner & Ortner 2002 gewonnen haben. Die Architekten sahen U-förmigen Geschosswohnungsbau und würfelförmige Stadtvillen vor, die sich strikt aufgefädelt aneinanderreihen. Es sind auch hier in Randlage teure Eigentumswohnungen entstanden, die dieses Signum stolz vor sich hertragen: Es gibt viel Grün zu beiden Seiten der Reihe – aber außer kubischem Wohnen und sauber abgezirkelten privaten Gärten, die nur eine hohe Hecke noch aufpeppen kann, ist da nichts. Die Erdgeschosse sind tot. Die einzelnen Bauten tun nichts für das Quartier. Warum sollten sie auch? Wer so viel zahlt, möchte nicht die Nachbarschaft mitfinanzieren.
Nur am östlichen Rand ist alles ganz anders, dort, wo die Künstler-Ateliers der ehemaligen Funkkaserne in ihrer inzwischen sanierten Dreiseit-Anlage untergebracht sind. Das Grundstück der Genossenschaft wagnisART schließt hier an, daneben hat die Genossenschaft WOGENO einen durchquerbaren Riegel gebaut, in dem auch eine gemeinsame Car-Sharing-Sta­tion untergebracht ist. Diese Art von Kooperation der Genossenschaften ist ein Zukunftsthema. Die Projektleiterin von wagnisART, Rut-Maria Gollan, die uns auf dem Rundgang begleitet, ist davon überzeugt, vor allem, wenn heute immer schneller geplant und umgesetzt werden muss. Genossenschaftskonzepte brauchen viel Zeit für den Entwurf, die Münchner Politik aber will möglichst schnell möglichst viele Wohnungen. „In anderthalb Jahren ist ein Projekt, wie wir es hier umgesetzt haben, nicht zu schaffen.“ Rut Gollan wohnt selbst mit ihrer Familie auf dem Grundstück. Sie ist Architektin und wird während der zweitstündigen Besichtigung von den Bewohnern immer wieder angesprochen auf das eine oder andere noch unfertige Detail. „Als Genossenschaft können wir nicht einfach so wachsen und plötzlich doppelt so viel Wohnungen bauen wie bisher. Eine Möglichkeit wäre aber, dass verschiedene Genossenschaften ihre Fähigkeiten bündeln. Der nächste Schritt könnte dann sogar in der Umsetzung ganzer Quartiere liegen, die wir quasi arbeitsteilig entwickeln.“
Bestechend an einer solchen Kooperation ist der Umstand, dass zusätzliche, für das Stadt­leben unverzichtbare Funktionen in eine langfristige gemeinsame Nutzungsverantwortung übernommen werden. An die Stelle der wohlfeilen Idee, die von konservativen Stadtplanern manchmal verfochten wird, dass eine Blockbebauung mit vorgehaltenen leeren Erdgeschoß­zonen schon ausreiche, tritt hier ein aktives und nach außen offenes Modell. Denn städtische Nutzungen entstehen gerade im suburbanen Kontext nicht von selbst. Architekten können noch so viele Gemeinschaftsräume in ihre Grundrisse zeichnen – diese brauchen vor allem in der Startphase ein gemeinsames Management. Dafür sind Bauherren, Stadt, Investoren und Bewohner zusammen verantwortlich. Die Architektur kann dies nur stützen.

Streit um die große Form

Der Bauprozess an der Gertrud-Grunow-Straße ist in diesem Zusammenhang vorbildlich. Be­reits in Heft 36.2013 wurde darüber berichtet, wie die Architekten von bogevischs buero hier zusammen mit den Bewohnern entworfen haben. Mit etwa 40 Prozent der Bewohner, die bereits in der Planungsphase feststanden, hat man sich zunächst über die grundsätzliche städtebauliche Form auseinandergesetzt: Introvertierte Insel in Form eines großen Blocks oder offene Struktur aus einzelnen Stadtbausteinen? In einem knappen Finish entschied sich die Mehr­heit für die Öffnung mit fünf individuell geformten Baukörpern. Diese Öffnung machte Ande­-ren Angst. Können die Kinder ungestört auf dem Hof spielen? Warum sollen sich die eigenen Bauten überhaupt zur Nachbarschaft öffnen und Nutzungen wie Café und Werkstätten anbieten, wenn es die Nachbarschaft nicht umgekehrt auch tut?
Die Fragen waren nicht einfach zu beantworten. „Die hohe soziale Kontrolle, die hier durch den direkten Außenbezug entsteht, war schließlich ein Argument, Ängste zu entkräften. Und von der Begegnung profitiert man wechselseitig“, so Rut Gollan, während wir den östlichen und als „Dorfplatz“ auch sichtbar öffentlich gestalteten Hof passieren. Im Erdgeschoss gibt es eingezogene Nischen, in denen an einer Stelle ein Sammelsurium von Stühlen und Sesseln untergestellt ist, die bei Bedarf auf den Hof gezogen werden. Im gegenüberliegenden Block ist das „Lihotzky“ untergebracht, ein Veranstaltungsraum, der für Feste und Versammlungen auch von außen gemietet werden kann. In einem weiteren Block wird bald ein kollektiv bewirtschaftetes Café einziehen und an einer weiteren Ecke gibt es einen Waschsalon mit Nähstudio.
Wie geht man entwerferisch mit Lärm und anderen Störungen um, die solche Nutzungen mit sich bringen? Rainer Hofmann weist auf den Erkenntnisprozess im Laufe des gemeinsamen Entwerfens hin: „Wir hatten damals auch eine Variante diskutiert, bei der ein halböffentlicher, nur für die Bewohner zugänglicher Fahrradweg rund um einen massiven Wohnbaublock bis aufs Dach geführt hätte – ein Erschließungskonzept ähnlich wie beim 8-Haus von Bjarke Ingels in Kopenhagen.“ Das Projekt war dann wegen der Kosten schnell vom Tisch. Aber die Idee, dass es eine üppig dimensionierte gemeinsame Erschließung sein sollte, die nur den Bewohnern offensteht, hat sich gehalten.
Australien, 4. Stock
Daraus wurden dann die auffälligen Brücken, die Europa, Asien, Afrika, Amerika und Australien – so die Namen der fünf Baukörper – im dritten und vierten Geschoss verbinden. Ob sie wirklich genutzt werden, wird mir bei der ersten Besich­tigung nicht klar. Schließlich bedeutet es für die Bewohner aus den tieferliegenden Geschossen einige Mühe, zuerst nach oben zu gehen. Üppig dimensioniert sind sie in jedem Fall und zur so­zialen Kontrolle tragen sie ebenfalls bei. Der Blick von den bis zu sechs Meter breiten Brücken auf die beiden Höfe hat etwas von einem Leuchtturm, von dem sich alles überblicken lässt.

Zu den nur für die Bewohner zugänglichen halb­öffentlichen Räumen gesellen sich die mit Sorgfalt gestalteten inneren Treppenhäuser und die Flure vor den Wohnungen. Sie haben – ein wich­tiges Detail – gut funktionierende Akustikdecken, so dass man hier im Inneren sogar Tischtennisspielen kann, ohne in den Wohnungen gestört zu werden. Dass sich die Bewohner hier bei den Erschließungen räumlichen Luxus gegönnt haben, springt ins Auge – gerade angesichts des Umstands, dass im privat finanzierten Wohnungsbau wie bei den städtischen Wohnungsbaugesellschaften diese Flächen sonst gnadenlos zusammengestrichen werden. In dieser Großzü­gigkeit, die die Fotos kaum angemessen übersetzen, liegt ein Grund, warum man sich auf diesen halböffentlichen Bereichen gerne aufhält. Dafür musste an anderer Stelle strikt gespart werden. „Auch das wurde kontrovers diskutiert. Sind die Brücken und die großzügigen Treppenhäuser wichtig? Oder eher die soliden Holzfenster?“ Die Brücken gewannen das Rennen. Die Fenster sind aus Kunststoff.

Ästhetik der Teilhabe

Das Ensemble wagnisART ist zurzeit in Deutschland eines der vielversprechendsten Beispiele, wenn es um die Frage geht, ob Qualitäten im Geschosswohnungsbau tatsächlich anders gewichtet werden, wenn die Bewohner bei Entscheidungen mitsprechen können. Entstanden ist ein kleines Quartier, das auch ästhetisch ein Eigenleben aufweisen, ohne piefig zu sein. Das Ensemble an der Domagkstraße bietet eine Mischung aus räumlichem Überfluss und Alltags­ambiente, das auch ärmliche Details verkraftet. Interessant ist dies im Vergleich zu den in Bezug auf räumliche Großzügigkeit vergleichbaren Wohnbauten von Lacaton Vassal, deren Handschrift stärker von einem neobrutalistischen Entwurfsvorgehen geprägt ist. Auch die Gestaltung von bogevischs buero ist ablesbar. Die Architekten arbeiten beim „gemeinsamen Entwerfen“ immer mit einem klaren, für alle verständ­lichen Set an Regeln. Dies betraf bei wagnisART selbst die Fassadengestaltung, die Teil des gemeinsamen Entscheidungsprozesses war. Einfluss nehmen durften die Bewohner dabei nur auf die Positionierung der Fenster auf der gegenüberliegenden, für sie sichtbaren Seite – die eigene Fassade blieb tabu. Die zufällige Anordnung der Fenster wirkt zappelig, hat aber im Rahmen der Baukörperform ihre Logik. Selbst die Bauteilfugen des WDVS können dem nichts anhaben.
Alles in allem entstand hier im Schwabinger Norden ein Bau, den sich Baupolitiker, Architekten und Wohnungsunternehmer aus der ganzen Republik ansehen sollten. Jedenfalls jene, die sich dafür interessieren, wie Wohnqualität zu definieren ist, wenn Auftraggeber und Architekten ernstnehmen, was Rainer Nagel von der Bundesstiftung Baukultur „Teilhabe“ und nicht bloß „Beteiligung“ der Bewohner nennt.



Fakten
Architekten ARGE bogevischs buero architekten & stadtplaner und SHAG Schindler Hable Architekten, München
Adresse Fritz-Winter-Straße 4-16 München


aus Bauwelt 10.2017
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