Bauwelt

Unbekanntes Moskau? Plädoyer für einen zweiten Blick

Unsere Gastredakteurin über Geschichte und Alltag in der russischen Kapitale, über sich wandelnde Leitbilder und Akteure und über eine pulsierende junge Architekturszene, die hierzulande nicht wahrgenommen wird

Text: Heinich, Nadin, München

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    Moskauer Alltag jenseits von Kreml und Rotem Platz. Aufnahme von einer Reise nach Moskau im Jahr 2002
    Foto: Nadin Heinich

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    Moskauer Alltag jenseits von Kreml und Rotem Platz. Aufnahme von einer Reise nach Moskau im Jahr 2002

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    Rückkehr nach Konkovo 2014: Auch zwölf Jahre später hat sich am Erscheinungsbild der Großsiedlung nicht viel verändert
    Foto: Nadin Heinich

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    Rückkehr nach Konkovo 2014: Auch zwölf Jahre später hat sich am Erscheinungsbild der Großsiedlung nicht viel verändert

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    Multifunktionaler Komplex, Sankt Petersburg, 1989. Als junger Architekt träumte Sergej Tchoban von einem anderen Russland, jenseits des sozialistischen Alltags.
    Zeichnung: Sergej Tchoban

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    Multifunktionaler Komplex, Sankt Petersburg, 1989. Als junger Architekt träumte Sergej Tchoban von einem anderen Russland, jenseits des sozialistischen Alltags.

    Zeichnung: Sergej Tchoban

Unbekanntes Moskau? Plädoyer für einen zweiten Blick

Unsere Gastredakteurin über Geschichte und Alltag in der russischen Kapitale, über sich wandelnde Leitbilder und Akteure und über eine pulsierende junge Architekturszene, die hierzulande nicht wahrgenommen wird

Text: Heinich, Nadin, München

Diese Stadt ist eine Dirne,
hat rote Flecken auf der Stirn‘
Ihre Zähne sind aus Gold,
sie ist fett und doch so hold
Ihr Mund füllt mir zu Tale,
wenn ich sie dafür bezahle
Sie zieht sich aus,
doch nur für Geld
Die Stadt die mich in Atem hält…
MOSKAU
MOSKAU
Sie ist alt und trotzdem schön,
ich kann ihr nicht wiedersteh‘n
Pudert sich die alte Haut,
hat sich die Brüste neu gebaut
Sie macht mich geil,
ich leide Qualen
Sie tanzt für mich,
ich muss bezahlen
Sie schläft mit mir,
doch nur für Geld
Ist doch die schönste Stadt der Welt.
Ich sehe was, was Du nicht siehst.
Ich sehe was, das siehst Du nie!
MOSKAU
MOSKAU1

„Kalaschnikow gefällig? Am Moskauer Flughafen Scheremetjewo gibt es jetzt ganz spezielle Souvenirs zu kaufen: Der Waffenkonzern Kalaschnikow bietet eine Attrappe seines bekannten Sturm­gewehrs an – und das ist noch längst nicht alles.“2 Derweil kommt Licht ins Dunkel des „verbrecherischen Regimes“3 in Moskau. „Das Ausmaß der Verbindung der russischen Staatsspitze zur organisierten Kriminalität wurde lange Zeit verdrängt. Jetzt bringt ein Film eine Diskussion über die Verschmelzung zwischen den beiden Sphären ins Rollen.“4 Das FBI untersucht nach CNN-Informationen gerade „einen russischen Hackerangriff auf Reporter der „New York Times“ und anderer US-Medienunternehmen.“5 Und zur Demokratie sind die Russen eh nicht fähig, denn fast ein Viertel von ihnen würde ihre Stimme verkaufen. „In vier Wochen wählen die Russen ein neues Parlament, an eine faire Abstimmung glaubt nicht einmal die Hälfte von ihnen. Ein Teil wäre zu einem Wahlbetrug bereit.“6
Mit diesem kurzen Querschnitt durch die aktuelle deutsche Presselandschaft haben wir die gängigen Klischees über Russland abgehandelt. Das Bild, das von Russland gegenwärtig gezeichnet wird, ist fast durchweg dunkel, bedrohlich und aggressiv, zumindest undurchsichtig. Russland = Putin, Korruption, Spionage, Kriegs­treiberei, Wodka. Dazu kommen Krim-Annexion, Ukraine-Krise und Syrien. Düster-faszinierende „Highlights“ sind Geschichten wie die über den ehemaligen FSB-Offizier Alexander Litwinenko, der 2006 in London mit einer hohen Dosis des extrem seltenen und extrem teuren radioaktiven Stoffs Polonium-210 vergiftet wurde, weil er seit 2000 als politischer Flüchtling in Großbritannien lebte und britische sowie spanische Geheimdienste bei ihren Ermittlungen über organisierte Kriminalität in Russland unterstützte.
Bei aller berechtigten Kritik ist es erschreckend, wie einseitig, oberflächlich und geschichtsvergessen über dieses Land berichtet wird. Differenzierung Fehlanzeige. Erst recht der Versuch, das Land von innen heraus, mit einem Verständnis für dessen Geschichte und Entwicklung der letzten Jahre zu bewerten. Kaum zu finden sind Berichte über Kultur oder das „normale“ Leben. Wenn doch, dann meist im Duktus der wilden neunziger Jahre. Dabei ist die deutsche Forschung zur aktuellen Dynamik in Osteuropa seit 1989 rückläufig, es fehlt an gegenwartsbezogenem Wissen über Gesellschaftsstruktur, Wirtschaft, Politik oder russische Sicherheitsinteressen. Auch die großen deutschen Medien haben ihr Korrespondenten-Netzwerk in Osteuropa und Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion stark ausgedünnt. Selten zu lesen ist etwa, dass sich die Krim seit 1783, seit Katharina der Großen, im russischen Besitz befand und 1954 von Chruschtschow in einer politischen Laune an die Ukraine abgetreten wurde. Da alles Sowjetunion war, hatte das damals keine großen Auswirkungen. Auch hat die EU mit ihrem Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, das das Land zerreißt, die angespannte Situation nicht beruhigt, sondern weiter eskaliert, während die NATO in Bezug auf europäische Sicherheitsfragen Russland im Wesentlichen vor Verhandlungsergebnisse stellt und kaum ein Mitspracherecht einräumt. Es ist daher schlicht falsch, Russland als alleinigen Aggressor darzustellen.
Durch das Zusammenwirken von Wirtschaftssanktionen, der Abwertung des Rubels und den niedrigen Ölpreis befindet sich Russland, dessen Wirtschaftskraft zu einem großen Teil immer noch auf Einnahmen aus Rohstoffen basiert, aktuell in einer schwierigen Situation. Doch diese Sanktionspolitik der EU zeugt von einem kompletten Unverständnis für die russische Mentalität. „Sie denken, wenn sie uns isolieren, zerstören sie uns. Das Gegenteil ist der Fall. Gorbatschow und Jelzin haben uns zerstört, weil sie das Land für alle geöffnet haben. Isolation hingegen stärkt unseren inneren Zusammenhalt.“7 Um so mehr sind Intellektuelle, die Kulturszene in der Verantwortung, die Stimmung nicht weiter anzuheizen, sondern zu deeskalieren, zu vermitteln, gegenseitiges Vertrauen zu fördern. Und um so unverständlicher ist es, dass etwa in der Berliner Akademie der Künste eine Ausstellung unter dem Titel Demo:polis stattfindet, die sich mit dem öffentlichen Raum beschäftigt und den Transformationsprozess, der diesbezüglich in Moskau in den letzten Jahren stattgefunden hat, vollkommen ignoriert (Bauwelt 10.2016).
Jenseits des sehr eingeschränkten, einzig aus westlicher Perspektive geführten Architekturdiskurses soll mit dieser Ausgabe der Bauwelt das Gesamtbild ein bisschen mehr differenziert, nicht nur von West nach Ost geblickt, sondern die Perspektive gelegentlich mal umgedreht werden. Da wir uns konzentrieren mussten, liegt der Fokus auf der jungen Architekturszene in Moskau. Auch wenn davon hierzulande (noch) nicht viel bekannt ist, gibt es sie natürlich: Young, hot and russian.

Größe war noch nie ein Problem – Eine kurze Stadtgeschichte Moskaus

In Russland ist alles immer ein bisschen größer, radikaler, wilder als im Rest Europas, aber die Russen meinen das ernst. Tiefe Melancholie, schwarzer Humor, absolute Verlässlichkeit und eine Herzlichkeit, die sich jedoch nur eröffnet, wenn man zumindest etwas Russisch spricht. Das alles gilt auch und insbesondere für Mos­kau. Mit offiziell 12 179.144 Einwohner im Januar 20168 ist die Stadt die einzige Megacity Europas, wenn man von Istanbul als europäisch-asiatischer Metropole absieht.
In Russland hat die Industrialisierung später als in West- oder Mitteleuropa Einzug gehalten, der Kommunismus viel früher. Abgesehen von Moskau und St. Petersburg bestand die vorrevo­lu­tionäre russische Stadt vor allem aus Holzbauten, von denen heute die wenigsten erhalten sind. Die physische Struktur der russischen Stadt ist daher sehr stark vom Kommunismus geprägt. Während der Sowjetunion gab es drei große Umbrüche in der Architektur: die konstruktivistische Revolution der zwanziger und dreißiger Jahre, die alle Spuren des bürgerlichen Eklektizismus der vorrevolutionären Zeit auslöschen wollte, der Neoklassizismus unter Stalin und schließlich, ab 1954 unter Chruschtschow, der für die Stadtgestalt prägendste Umbruch: eine fast abso­lute Form der Moderne mit endlosen, seriellen Bauten aus industriell vorgefertigten Elementen – projektiert und realisiert von zum Teil noch immer existierenden riesigen, zentral kontrollierten Planungs- und Baukombinaten.
Wenn man als Altstadt bezeichnet, was von der Gründung Moskaus 1147 bis Mitte des 20. Jahrhunderts, also bis Chruschtschow, gebaut wurde, dann macht das, bezogen auf die Stadt in ihren Grenzen bis zum 30. Juni 20129, nur 6,5 Prozent der Stadtfläche aus. 60 Prozent der Gebäude wurden zwischen 1956 und 1995 errichtet. Die Stadt besteht zu einem großen Teil aus Plattenbauten, 80 Prozent der Russen leben in ihnen.
Mit Chruschtschows Rede vom 7. Dezember 1954 vor dem Bau- und Architekturkongress der Sowjetunion begann eine neue Ära im Bauwesen. Der Neoklassizismus wird offiziell geächtet, und die industrielle Wohnungsproduktion im großen Stil beginnt. Der Wohnungsmangel war und ist seit Jahrzehnten eines der größten Pro­bleme der Stadt. Moskau wächst von nun an rapide. Zunächst mit den „Chruschtschowki“, fünfgeschossigen Bauten in Großtafelbauweise, die als Übergangslösung für einen Zeitraum von 20 Jahren konzipiert waren. Durch die Entwicklungen auf dem Gebiet der Vorfabrikation wird die Großtafelbauweise dominierend – und die Häuser werden immer höher. In den Siebzigern erreichte man 16, 21, schließlich 24 Geschosse. Der Forschritt beschränkte sich jedoch, abgesehen von Farbe an der Fassade, auf das Quantifizierbare: größere Zimmer, mehr Geschosse, Minimierung der Bauzeit. Die Sanitärinstallationen etwa blieben auf dem Stand der fünfziger Jahre.
Mit dem Generalplan von Moskau aus dem Jahr 1971 sollte das Verkehrsnetz neu strukturiert und die monozentrische Stadt in eine polyzen­trische überführt werden: Das Stadtgebiet außerhalb des Zentrums wurde in sieben Planungszonen aufgeteilt, jeweils für 600.000 bis eine Million Menschen. Diese Zonen wurden unterteilt in zwei bis fünf Planungsrayons, diese wiederum in Mikrorayons für je 15.000 bis 20.000 Bewohner. Alle Bedürfnisse sollten sie in der näheren Umgebung abdecken können und sich so zeitrauben-de Fahrten ins Stadtzentrum sparen. Für jeden Mikrorayon waren die nötigen Kindergärten und Schulen sowie Läden für die Grundversorgung vorgesehen, natürlich ebenfalls aus vorfabrizierten Elementen. Kaufhäuser, Kinos, Theater wurden auf der Ebene der Rayons geplant. In der Praxis hat das nie ganz funktioniert. Wohnungen, Läden, Schulen und Kindergärten wurden realisiert, darüber hinaus wenig.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, in der Zeit des Turbokapitalismus, teilte sich der Wohnungsmarkt in zwei Bereiche: den für die neu(reich)en Russen und den für die „allgemeine“ Bevölkerung. Während für erstere alles möglich schien – Säulen und Stuck, Türme und Erker –, wurden im zweiten Fall die Plattenbauten einfach weiter gebaut, wenn auch mit leich­-ten Modifikationen. Das war schnell, kostengünstig, profitabel. Die am häufigsten verwendete Serie in ganz Moskau ist P-44, 17 Stockwerke hoch, errichtet von 1979 bis 2000. Stadtteile wie Konkovo, Krylatskoye, Mitino oder Yasenevo bestehen fast komplett aus P-44. Jenseits des Plattenbaus dominierte ein kleiner, geschlossener Club russischer Architekten das Baugeschehen in Moskau. Selbst internationale Stars wie Zaha Hadid oder Norman Forster schafften es nicht, gewonnene Wettbewerbe zu realisieren. Für einige wenige ging es darum, noch reicher zu werden, für viele um das bloße Überleben. Der untrügliche Geschmack des seit 1992 amtierenden Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow wurde zum allgemeinen Maßstab und fand seinen „Höhepunkt“ in so bizarren Eskapaden wie dem Denkmal für Zar Peter den Großen – mit fast einhundert Metern eines der höchsten Denkmäler weltweit. Die Bauunternehmerin und Ehefrau Luschkows, Jelena Baturina, stieg durch Aufträge der Stadt mit ihrem Unternehmen Inteco zur Milliardärin und reichsten Frau Russlands auf. Heute lebt sie die meiste Zeit in Österreich und Großbritannien.
Erst 2010, mit der Entmachtung Luschkows und der Wahl von Sergei Sobjanin zum neuen Bür­germeister, setzte ein sichtbarer Wandel in der Stadt ein, das Neudenken eines Gemeinsinns jenseits des kollektivistischen Ideals der Sowjet­zeit und des Egozentrismus der letzten Dekade. Sobjanin brauchte eine neue Agenda für die Stadt, und so wurde der öffentliche Raum zum zentralen Thema: die Umgestaltung von Parks, neue Fußgängerzonen, Fahrradwege, das Renovieren von Theatern und Bibliotheken. Auf poli­tischer Seite wurden diese Projekte maßgeblich von Sergei Kapkov vorangetrieben, seit 2006 Leiter der von Roman Abramovich finanzierten National Academy of Football und Vizepräsident des russischen Fußballverbandes. 2011 wurde er zum Direktor des Gorki-Parks ernannt und 2012 zum Kultusminister der Stadt. In dieser Position wurde er schnell als „Hipster-Minister“ und Gesicht des neuen, westlichen Moskau populär. Parallel dazu führte der seit 2012 amtierende, bei Amtsantritt gerade 35-jährige Chefarchitekt Moskaus, Sergei Kuznetsov, offene Architekturwettbewerbe ein – ein Novum für die Stadt. Seit Oktober 2015 gelten von Kuznetsov initiierte, staatlich verordnete Neuerungen für die Plattenbauviertel. Neu zu errichtende Gebäude werden nun zu Häuserblocks mit Innenhöfen gruppiert und nicht mehr zu abstrakten Strukturen. Im Erdgeschoss sollen Gewerbeflächen eingerichtet, die Gebäude überhaupt stärker differenziert, der öffentliche Raum soll gestaltet werden, sodass sich die Bewohner mit „ihrem“ Haus identifizieren können.
Doch spätestens seit der Ukraine-Krise hat sich das Klima wieder gewandelt, mit einer neu­-en Hinwendung zum Nationalen. Das lässt sich nicht nur an den beiden letzten, gegensätzlichen Präsentationen Moskaus auf den Architekturbiennalen in Venedig ablesen: 2014 „Fair Enough“, eine vom Strelka-Institut inszenierte ironische, knallbunte „Baufachmesse“, 2016 eine viel pathetischere Inszenierung, die das Wei­terdenken des stalinistischen Architekturerbes, konkret der WDNCh10, zum Thema macht.
Im März 2015 ist Sergei Kapkov von seinem Amt als Kultusminister Moskaus zurückgetreten. Zu groß war der Widerspruch zwischen seiner Politik und der allgemeinen Stimmung im Land. Sein Nachfolger Alexander Kibovsky, vorher für die Denkmalpflege in Moskau zuständig, gilt als deutlich konservativer. Zudem wurde Kritik laut, es ginge bei dem plötzlich erwachten politischen Interesse für die Neugestaltung des öffentlichen Raumes vor allem darum, Demonstrationen wie jene nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2011 und 2012 zu unterbinden, die Widerstände einer jungen, aufstrebenden Mittelschicht mit kostenlosem Internet, Yoga-Kursen und Fahrradwegen zu besänftigen. Also alles nur eine Kopie westlicher Trends, um gesellschaftliche Pro­bleme mit Hilfe einer hübschen Verpackung zu kaschieren? Kapkov hat dies immer verneint.

Das neue Moskau und sein Chefarchitekt Sergei Kuznetsov

In den letzten Jahren ist in Moskau eine junge, spannende Architekturszene entstanden, eine Generation, die viel reist, zum Teil bereits an Institutionen wie Strelka ausgebildet wurde, die Architektur nicht nur aus Modernistischer Perspektive versteht, sondern neue Konzepte bis hin zu Projekten für den öffentlichen Raum entwickelt oder historische Bausubstanz weiterdenkt. Einige der interessantesten sind in diesem Heft versammelt: Die zwischen Moskau, Basel und New York pendelnden Partner von Kosmos, Nowadays, die jenseits der ewig gleichen, digitalen Architektur-Bilderflut nach der „Moscowness“, einer Moskau-typischen Ästhetik suchen, PlanAR und Buro Moscow, die den russischen Alltag, die Plattenbauviertel neu entwerfen, Wow­haus, die zu den Pionieren der Neugestaltung des öffentlichen Raumes in Moskau zählen und daher, obwohl älter als alle anderen vorgestellten Architekten, wichtig für dieses Heft sind, bis hin zu Ass und Korbut mit ihren wunderschönen, einfühlsamen Ausstellungsinszenierungen.
Wie geht es weiter? Dass die Wahrnehmung westlicher Medien und die offizielle Sicht in Russland weit auseinander driften, liegt auf der Hand. Seit 2012 ist Sergei Kuznetsov Chefarchitekt von Moskau. Ich habe ihn seitdem mehrmals interviewt, unter anderem im November 2015 in Moskau sowie im Mai 2016 in Venedig.
Was für eine Stadt wünschen Sie sich, wie soll sich Moskau weiterentwickeln?
Am wichtigsten ist es, die richtige Umgebung, die Grundlage für eine gute architektonische Entwicklung zu schaffen. Dazu zählen ein funktionierendes Wettbewerbssystem und junge Architekten genauso wie Experten aus dem Ausland einzubinden, die neue Planungs- und Gestaltungsansätze mitbringen. Für die Stadt selbst sind die größten Herausforderungen, die polyzentrische Stadtstruktur und das Verkehrssystem sowie die zukünftige Planung der Mikrorayons und die Idee von öffentlichem Raum weiterzuentwickeln. Die ersten beiden Punkte beziehen sich insbesondere auch auf „New Moscow“, das eineinhalb mal größer sein wird als die bereits existierende Stadt. Das geht nur mit einer polyzentrischen Struktur. Zum letzten Punkt gehört unter anderem die Neuplanung der Moskauer Flussufer.
Von außen betrachtet scheint sich das Land
gegenwärtig im Krisenmodus zu befinden. Welchen Einfluss hat das auf junge Architekten?
Welche Krise? Es gibt keine Krise, nur eine neue Realität, neue Herausforderungen. Die Krise existiert nur in den westlichen Medien. Wir im Land sind sehr entspannt, unser tägliches Leben wird nicht eingeschränkt, nur der Rubel ist günstiger.
Was meinen Sie mit „neuer Realität“?
Es gibt immer noch sehr viele Bauaufgaben in Moskau. Die Anbindung an den westlichen Markt ist geringer, es werden dafür mehr örtliche Ma­terialien und Produkte verwendet und so die heimische Wirtschaft gestärkt. Diese neue Reali­tät bezieht sich auch auf den Ölpreis. Wenn der Preis so niedrig bleibt, wird sich unsere Wirtschaft umorientieren müssen und wir damit weniger abhängig vom Öl werden. Das ist sehr gesund für Russland. Ich glaube an Wettbewerb und Können. Jetzt ist die beste Zeit für jeden von uns in Moskau.
1 „Moskau“, vom Album „Reise, Reise“, Rammstein 2004
2 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.8.2016
3 „Das verbrecherische Regime“, Nikolai Klimeniouk, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.1.2016
4 ebenda
5 www.sueddeutsche.de, abgerufen am 23.8.2016
6 „Fast ein Viertel der Russen würde Stimme verkaufen“, Quelle: ZEIT ONLINE, dpa, kg, www.zeit.de, abgerufen
am 23.8.2016
7 Gespräch der Autorin mit einer Freundin in Moskau
8 Quelle http://www.citypopulation.de/Russia-Cities.html
9 Seit 1.7.2012 hat sich die Stadtfläche Moskaus um 1480 Quadratkilometer oder 134 Prozent in den Südwesten
hinein erweitert. Das entspricht der zusammengenommenen Fläche von Berlin und Hamburg.
10 WDNCh, die Ausstellung der Errungenschaft der Volkswirtschaft, ist ein Austellungsgelände in Moskau, eröff­-
net 1939.

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