„Die umliegenden Bauten sind unsere Originale“
Gründungsdirektor Winfried Nerdinger über das NS-Dokumentationszentrum in München
Text: Meyer, Friederike, Berlin; Stock, Wolfgang Jean, München
„Die umliegenden Bauten sind unsere Originale“
Gründungsdirektor Winfried Nerdinger über das NS-Dokumentationszentrum in München
Text: Meyer, Friederike, Berlin; Stock, Wolfgang Jean, München
Herr Nerdinger, Max Mannheimer, der prominenteste noch lebende Münchner Zeitzeuge und Vorsitzende der Lagergemeinschaft Dachau, sagte kürzlich, das NS-Dokumentationszentrum werde spät, aber nicht zu spät eröffnet. Die Befreiung Münchens durch die US Army geschah immerhin vor siebzig Jahren. Wie ist diese große Verspätung zu erklären?
In Deutschland hat man sich lange Zeit ganz generell schwer getan bei der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. Insbesondere im öffentlichen Raum wurde das Erbe des Nationalsozialismus so gut wie nicht thematisiert. Für die Stadt München kommt hinzu, dass sie mehr als jede andere Stadt in Deutschland mit dem Nationalsozialismus verknüpft war. Die NSDAP ist hier entstanden, hier ist Hitler hochgezogen worden, mit Unterstützung von Verwaltung und Bürgerschaft. Es war in München offensichtlich noch schwieriger als anderswo, sich dem Thema zu stellen.
Die Verspätung ist aber umso erstaunlicher, als die Stadt München nach dem Zweiten Weltkrieg fast durchgehend von Sozialdemokraten regiert worden ist, teilweise mit SPD-Mehrheiten im Stadtrat. Unter den Sozialdemokraten befanden sich ja auch Verfolgte, sogar frühere KZ-Häftlinge oder Emigranten. Kam von dieser Seite gar kein Anspruch?
Hier muss man die gesellschaftspolitische Situation nach dem Zweiten Weltkrieg betrachten. Die Bundesrepublik wurde ab 1949 von einer Gesellschaft aufgebaut, die aus diesem Krieg hervorgegangen war. Es gab acht Millionen ehemalige Parteimitglieder und nicht wenige, die auch an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen waren. Adenauers Devise „Das Land wieder aufbauen und die Wunden heilen lassen“ wurde von allen Parteien getragen. 1951 zum Beispiel beschloss der Bundestag einstimmig das sogenannte 131er Gesetz, danach konnten alle ehemaligen Parteimitglieder wieder auf ihre alten Posten zurückkommen, sofern sie nicht schwerste Verbrechen begangen hatten. Man könnte das als eine Art Burgfrieden zwischen den wenigen Opfern und den vielen Mittätern und Mitläufern bezeichnen. Das führte aber auch dazu, dass die alten Nazis toleriert und integriert wurden.
Sie haben sich bereits Ende der 80er Jahre für ein NS-Dokumentationszentrum eingesetzt. Im Jahre 2001 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Aufsatz von Ihnen, in dem Sie München als „Stadt der Verdrängung“ attackierten. Ist es da nicht geradezu paradox, dass die Stadt einen ihrer langjährigen und schärfsten Kritiker zum Gründungsdirektor gemacht hat?
Ich sehe das eher als Anerkennung und als Zeichen, dass sich ein Wandel in der Bevölkerung und in der Politik vollzogen hat. Der Freistaat und der Stadtrat, mit Ausnahme des einen Rechtsradikalen, stehen jetzt geschlossen hinter dem NS-Dokumentationszentrum.
In der Pressemitteilung formuliert Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter, Ihr Haus schließe nun eine seit Jahrzehnten klaffende Lücke in der Münchner Erinnerungslandschaft. Wie schließt es denn diese Lücke?
Bis in die 90er Jahre gab es keinerlei Hinweise im öffentlichen Raum auf Münchens Rolle als Hauptstadt der Bewegung. Im Gegenteil, 1988 hat man das flächenmäßig größte Dokument der NS-Zeit, den für Aufmarschzwecke mit Granitplatten belegten Königsplatz, wieder begrünt. Dann gab es einen Wettbewerb, um die Sockel der beiden gesprengten Ehrentempel mit zwei Museen zu überbauen. Man wollte das, was ohnehin schon fast unsichtbar geworden war, vollständig verschwinden lassen. An der Feldherrnhalle, dem Ort des gescheiterten Putsches vom 9. November 1923, der zum Ausgangspunkt eines ritualisierten Kults der Nationalsozialisten wurde, finden Sie bis heute keinen Hinweis auf dieses Ereignis. Am Nachfolgebau des Wittelsbacher Palais, der ehemaligen Gestapo-Zentrale, in dem heute die Bayerische Landesbank sitzt, wurde erst auf Drängen kritischer Bürger Mitte der 80er Jahre eine kleine, ziemlich versteckte Tafel angebracht. Auch die kleine Tafel am Königsplatz neben dem Sockel des Ehrentempels gibt es erst seit 1996, initiiert von engagierten Bürgern. Nun besetzt das NS-Dokumentationszentrum den Ort, an dem das „Braune Haus“, die NSDAP-Parteizentrale, stand, und setzt damit ein eindeutiges Zeichen.
Ein Zeichen, das ja schon während des Baus heftige Diskussionen provozierte. Münchner Kreise, die sich als bildungsbürgerlich bezeichnen, haben viel Kritik am Standort des Gebäudes geübt. Dieses Bauwerk würde das harmonische Bild der Maxvorstadt zwischen dem Karolinenplatz und dem Königsplatz stören. Was sagen Sie dazu?
Nach einem großen Wahlerfolg haben die Nationalsozialisten 1930 das klassizistische Palais Barlow, das sich hier ursprünglich befand, gekauft und ihre Parteizentrale bewusst am Königsplatz eingerichtet, um zu zeigen, dass sie mitten im Zentrum der Bürgerschaft angekommen waren. Dieses „Braune Haus“ wurde im Krieg zerstört, dann blieb der Ort leer. Gegen einen Neubau an dieser Stelle wandten sich etliche Münchner, obwohl der Bau typologisch durchaus in der Tradition der Villen steht, die sich ursprünglich hier befanden. Manche hatten sich wohl einfach daran gewöhnt, dass hier alles zugewachsen ist. Aber alles Grüne, was Sie um den Königsplatz herum sehen, ist Nachkriegsbepflanzung. Ich habe immer gefordert, diesen Ort demokratisch zur Aufklärung zu besetzen. Ich stehe zu diesem städtebaulich störenden Akzent. Der Neubau ist ein Zeichen der Gegenwart, ein Gegenstück zu den umgebenden Nazibauten. Deshalb wurde er ja unter anderem auch im Wettbewerb prämiert. Man kann darüber streiten, ob das Material stimmig ist, das ist aber etwas anderes.
Als der Wettbewerb entschieden wurde, existierte noch der Keller des zerstörten Palais Barlow. Die Denkmalpfleger hielten ihn für nicht denkmalwürdig. Wie war Ihre Meinung?
Ich war ebenfalls der Auffassung, dass die Fundamente und Kellerreste keine denkmalwürdige Substanz darstellen. Sie hatten auch keinerlei Bezug zu dem, um was es hier inhaltlich geht. Die Architekten, die am Wettbewerb teilgenommen haben, hatten allerdings die Möglichkeit, einen Rest dieses Kellers in den Neubau zu integrieren. Soweit ich mich erinnere, hat das ein einziger Teilnehmer aufgenommen. Es gab auch Vertreter der Auffassung, den Keller offen sichtbar zu lassen und das Dokumentationszentrum dahinter zu errichten. Das wäre eine totale Überbewertung und völlig unangemessene Inszenierung des Kellers gewesen. Außerdem hätte es das Baurecht nicht erlaubt.
Das Baurecht hätte man ändern können ...
Nach Auskunft aller Beteiligten hätte dies das Planungsverfahren mindestens um drei bis fünf Jahre verzögert. Deshalb ist man bei den alten Ausnutzungsziffern geblieben und hat versucht, das, wofür oberirdisch nicht genug Fläche vorhanden ist, unter die Erde zu verlegen, etwa den Versammlungssaal.
Wir haben uns in der Bauwelt-Redaktion gefragt, warum in diesen rekonstruktionsfreudigen Zeiten niemand auf die Idee kam, das Palais Barlow zu rekonstruieren. Hätten Sie sich so etwas vorstellen können?
Es gab in dieser Richtung einen einzigen Entwurf, den von Wandel Hoefer Lorch. Sie wollten das „Braune Haus“ in den Umrissen wieder herstellen, aber verfremden und keineswegs rekonstruieren. Eine raffinierte und intelligente Lösung, die aber zu spät eingereicht wurde. Darüber hätte man diskutieren können, obwohl ich die Idee der Störung bevorzuge. Ich habe selbst am Wettbewerbsprogramm mitgeschrieben, in dem wir formuliert haben, dass explizit ein Zeichen der Gegenwart gesucht werden solle, das eine Auseinandersetzung mit den Nazibauten provoziert. Das ist ein Täterort. Man muss sich mit den Tätern offensiv auseinander setzen. In diesem Zusammenhang etwas zu rekonstruieren, würde ja bedeuten, dass ich einen früheren Zustand für so bedeutend halte, dass ich sein räumliches Gefüge genau wiederherstellen möchte. Hier wäre das vollkommen verfehlt.
Den Königsplatz hat man auch in etwa wieder in seinen Vorkriegszustand versetzt. Wo ist hier der Unterschied?
Es ist nicht der Vorkriegszustand. Obwohl ich immer darauf hingewiesen habe, dass der Königsplatz das flächenmäßig größte Monument ist, das wir aus der NS-Zeit in München haben, hätte ich nicht dafür plädiert, dass man diesen „Plattensee“ in toto erhalten muss. Ich hätte aber durchaus ein Reststück, eine harte Kante gelassen. Stattdessen hat man alle Spuren entfernt und etwas drauf gesetzt, was so tut, als sei es der alte Platz aus der Klenze-Zeit. In Wirklichkeit wurde der Platz dem Autoverkehr angepasst. Hier wurde wieder einmal die Geschichte einfach für den Bedarf der Gegenwart zurecht gebogen.
Was ist denn mit dem Sockel des Ehrentempels vor Ihrem Haus passiert? Er sieht aus wie frisch gerodet.
Ich habe ihn vom Bewuchs befreien lassen. Wir wollen zeigen: Das Dokumentationszentrum setzt sich mit dem NS-Erbe auseinander und erläutert das, was hier passiert ist. Auf der gegenüber liegenden Seite, am südlichen Sockel, sehen Sie noch den Vorzustand: Man hat siebzig Jahre buchstäblich Gras drüber wachsen lassen.
Der Neubau ist sorgfältig detailliert, er sieht sauber und ordentlich aus, brav und neutral. Er könnte ein Museum für zeitgenössische Kunst beherbergen, eine Fachhochschule oder eine Unternehmenszentrale. Wie empfinden Sie das?
Ja, wie schaut ein NS-Dokumentationszentrum denn aus? Ich finde es richtig, dass hier keine spektakuläre Architektur oder ein „Markenzeichen“ von Architekten entstanden ist. Der Bau spricht die Sprache der Gegenwart, darauf kommt es an. In zwanzig Jahren wird er eine gewisse Patina angesetzt haben, aber das ist mit allen Bauten so.
Wie beurteilen Sie das Gebäude jetzt, nach Fertigstellung? War es schwierig, die Dauerausstellung unterzubringen? Gibt es räumliche Defizite, und reicht die Verkehrsfläche vor allem für die erwarteten Schulklassen aus?
Wir haben unsere Ausstellung so konzipiert, dass möglichst viel Verkehrsfläche vorhanden ist, da wir sehr viele Besucher erwarten. Ob das funktioniert, wird die Praxis zeigen. Zum Haus selbst: Ich bin 2012 als Gründungsdirektor berufen worden. Meine Aufgabe war es, in ein bereits im Bau befindliches Gebäude eine Ausstellung einzupassen. Ich könnte natürlich jetzt über dieses oder jenes richten, was ich vielleicht anders gemacht hätte. Aber das bringt wenig. Ich habe es als eine Herausforderung gesehen, in ein nicht einfaches Gebäude, mit einem auch vom Grundriss her festgelegten Ablauf sowie mit Materialien und Oberflächen, die wenig Flexibilität ermöglichen, eine sehr schwierige Ausstellung einzupassen.
Ein Architekturhistoriker als Gründungsdirektor. Neiden Ihnen das nicht die Zeithistoriker?
Die Inhalte der Ausstellungskonzeption habe ich mit Zeithistorikern entwickelt. Zudem hat eine Reihe weiterer Historiker mitgearbeitet und in Arbeitskreisen wurden spezielle Themen behandelt. Jede falsche Aussage wäre bei diesem Thema hoch explosiv. Da muss einfach alles stimmen. Der Stand der Forschung ist immens, denn zu jedem kleinsten Detail der NS-Geschichte gibt es inzwischen Magister- und Doktorarbeiten. Es existiert ein Spezialwissen, das die inhaltliche Präsentation enorm schwierig macht, denn Ausstellung heißt immer Reduktion der Komplexität, um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen, aber gleichzeitig darf nichts simplifiziert werden.
Was ist das Ausstellungskonzept?
Wir sind an einem authentischen Ort, umgeben von Orten der Täter, und wir verknüpfen die Geschichte mit diesen Orten. Wir zeigen keine Objekte von Tätern, also keine Uniformen oder Ehrendolche. Wenn solche Gegenstände musealisiert werden, gewinnen sie an rein ästhetischem Wert. Unsere Originale sind die umliegenden Bauten und Plätze. Nebenan, im ehemaligen „Führerbau“ zum Beispiel, wurde das Münchner Abkommen unterzeichnet. Hier gegenüber, im heutigen Haus der Kulturinstitute, befanden sich die Karteikarten der acht Millionen Mitglieder der NSDAP, am Königsplatz fand jedes Jahr am 9. November ein Ritual zur Nachfolge der sogenannten „Blutzeugen“ statt, eine Einübung in den Krieg. Unser Gedächtnis ist topologisch strukturiert. Wir erinnern uns am besten an das, was wir mit einem Ort verbinden. Das weiß man seit der Antike. Der authentische Ort ist also ein ganz entscheidender Teil unserer Erinnerungsarbeit, nicht zuletzt weil uns die Zeitzeugen allmählich verlassen. Deshalb bieten wir eine App an, die zu 110 Orten in München führt. Die Ausstellung geht also im Stadtraum weiter, zum Justizpalast, zum Polizeipräsidium, nach Stadelheim. Am Ende der Ausstellung gibt es eine Wand mit aktuellen Nachrichten zum Thema Antisemitismus und Rechtsradikalismus. Die Besucher werden also nicht einfach mit dem Bewusstsein entlassen, das sei eine abgeschlossene Geschichte, Türe zu. Nein, das ist etwas, was jeden noch heute etwas angeht.
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