Valendas
Gion A.Caminada ist weit über die Grenzen der Schweiz als Ortsarchitekt seines Heimatdorfs Vrin in Graubünden bekannt. Im nahen Valendas hat er im Auftrag einer Bürgerstiftung einen Gasthof revitalisiert, einen Gemeindesaal ergänzt und damit den Dorfplatz aus dem Dornröschenschlaf erlöst. Ein Gespräch darüber, wie Atmosphäre entsteht, wie sich Ereignisse verdichten und was es bedeutet, im Fast-Gleichen weiterzubauen
Text: Aicher, Florian, Leutkirch
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Gion A. Caminada (links) mit dem Gastwirt auf der Freitreppe. Der Wirt kommt im Beitrag nicht zu Wort, spielt aber für den Erfolg des Hauses keine geringe Rolle.
Foto: Florian Aicher
Gion A. Caminada (links) mit dem Gastwirt auf der Freitreppe. Der Wirt kommt im Beitrag nicht zu Wort, spielt aber für den Erfolg des Hauses keine geringe Rolle.
Foto: Florian Aicher
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Dorfplatz von Valendas mit dem, so heißt es, größten Holzbrunnen Europas. In der Mitte das „Gasthaus am Brunnen“. Von Caminadas Anbau links daneben ist eigentlich nur die Treppe hinauf in den Saal zu sehen.
Foto: Ralph Feiner
Dorfplatz von Valendas mit dem, so heißt es, größten Holzbrunnen Europas. In der Mitte das „Gasthaus am Brunnen“. Von Caminadas Anbau links daneben ist eigentlich nur die Treppe hinauf in den Saal zu sehen.
Foto: Ralph Feiner
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Die Loggia neben dem Gemeindesaal. Caminada ist wichtig, dass man von hier den Blick auf den Platz hat, aber selbst nicht unmittelbar gesehen wird.
Foto: Ralph Feiner
Die Loggia neben dem Gemeindesaal. Caminada ist wichtig, dass man von hier den Blick auf den Platz hat, aber selbst nicht unmittelbar gesehen wird.
Foto: Ralph Feiner
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Die unauffällige Fassade des Anbaus
Foto: Ralph Feiner
Die unauffällige Fassade des Anbaus
Foto: Ralph Feiner
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Der Weg ins Restaurant
Foto: Ralph Feiner
Der Weg ins Restaurant
Foto: Ralph Feiner
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Die erneuerte Gaststube im Altbau.
Foto: Ralph Feiner
Die erneuerte Gaststube im Altbau.
Foto: Ralph Feiner
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Der Gemeindesaal
Foto: Ralph Feiner
Der Gemeindesaal
Foto: Ralph Feiner
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Blick vom Flur des ersten Obergeschosses, mit ergänzter Wandverschalung, in eines der Hotelzimmer
Foto: Ralph Feiner
Blick vom Flur des ersten Obergeschosses, mit ergänzter Wandverschalung, in eines der Hotelzimmer
Foto: Ralph Feiner
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Die Ortschaft Valendas ein Dorf zu nennen, fällt schwer. Die Dichte, die meist Jahrhunderte alten Steinbauten, der zentrale Platz lassen an ein Städtchen denken. Die Strickbauten in zweiter Reihe verraten aber: Landwirtschaft herrscht vor. Am zentralen Platz mit dem größten Holzbrunnen Europas hat sich Bemerkenswertes getan ...
Gion A. Caminada Es gibt seit zehn Jahren hier einen Verein von ehrenamtlich Aktiven, der als Antwort auf die Verarmung des dörflichen Lebens gegründet wurde und viel bewegt hat. Man hat ein Backhaus aktiviert, die Nahversorgung, manche Bauten, organisiert Veranstaltungen. Der Verein hat sich das prominente Haus am Platz – 500 Jahre Wohnen, Gaststätte, Bäckerei, Ladenlokal, zuletzt Posthalterstelle – vorgenommen und mich gefragt, ob ich das machen wolle.
Mit meiner Erfahrung aus Vrin, eine Gemeinschaft in ihrer Begeisterung für eine Idee zu unterstützen und zum Bau zu bringen, glaubte ich, dieser Herausforderung gewachsen zu sein. Und doch: Dieser Platz, diese Gasse, diese Häuser, das ist viel enger, viel dichter als da wo ich herkomme. Eine Gratwanderung. Bis zum Schluss spürte ich die Gefahr im Nacken: Kann diese Baracke meine und die Vorstellungen der Initianten überhaupt einlösen? Aber, was ich all die Jahre erlebt, gesammelt, gedacht habe – hier zeigte es sich: Mit dem Ereignis fängt es an! Nicht um das Objekt geht es zuerst, sondern um die Frage: Was kann, was soll sich an diesem Ort ereignen?
Das Ereignis – das war die Gemeinschaft, die Initiative ergreift, der Verein Valendas Impuls.
Ich hatte den Eindruck: Der Verein, die Leute, ihre Aktivitäten – es braucht etwas, das all das zusammenfasst, dichter macht. Zum Bild macht. Wenn man den Wirt heute von hier oben über den Platz vor seinem Haus gehen sieht, die Leute, wie sie sich bewegen, weggehen, dazukommen, ein Gespräch führen, ist das wie Mittelalter. Ich hatte Bilder im Kopf, wie sich der Raum füllt, was im Haus vorgeht – am Stammtisch, was wollen die Einheimischen für einen Raum; im Saal, mit Versammlungen, Familienfesten, Trauerfeiern; wie kommt man da hin; im Restaurant mit den Fremden und Gästen, die da übernachten. Das „Gasthaus am Brunnen“, dieses Objekt, hat all die Impulse verdichtet, sie haben Halt bekommen – das kann Architektur: Ereignissen, einer Idee, Halt geben.
Soweit die Wirkung nach innen. Wie war sie nach außen?
Die Städter in der Schweiz haben gesehen, da tut sich was; sie haben unterstützt. In der Regel gibt man den Menschen in den Bergen Almosen, aber hier war es umgekehrt: Was geschah, hat auch den Städtern etwas gegeben im Sinn von: Wenn wir da unterstützen, kommt etwas zurück. Der Schweizer Heimatschutz hat sich im Ort engagiert, verschiedene Architekten und andere.
Der Platz und das Haus, das alte Haus und ein neues – wie kam es zu dieser Verdichtung?
Das alte Haus stand leer, der kleine Laden, die Gastwirtschaft: vorbei. Daneben, wo heute der Neubau steht, gab es einen Stall. Versuche, den umzunutzen, widersprachen den hohen Ansprüchen an Räume für die Gemeinschaft des Ortes, die wir hier planen wollten: einen Gemeindesaal. Großzügige Proportionen mit entsprechender Raumhöhe sind einem solchen Raum angemessen, was wiederum dem engen Altbau neuen Wert verleiht. Und – bei der Aufgabe, an diesem Ort – war für uns klar: Kein Holzbau, der den gestrickten Stall ersetzt, der hatte hier nichts mehr zu suchen.
Ging es nicht um Erhaltung?
Nein, das ist viel zu wörtlich genommen. Die Gemeinde wollte ja etwas neu setzen. Ich wollte die Massivität, die schon da ist, weiterdenken. Weiterbauen im Fast-Gleichen – so bekommen Orte eine viel höhere Identität, Atmosphäre, Kraft. Zwei Teile, alt und neu; das Gasthaus für die Einheimischen und das Restaurant für Gäste; zwei Eingänge, aber beide vom Platz, einer für den Saal, einer für die Wirtsstube; da ein Stammtisch für Männer, einen für Frauen, dazwischen eine Säule. Die war mir immer wichtig – sie trennt und verbindet zugleich.
Ein Wechselspiel, bei dem eins dem andern gibt, ohne selbst zu verlieren, eigen bleibt ohne Fremdes abzuweisen – für ein Gasthaus kein schlechtes Prinzip.
Richtig. Verbindung wird wichtig. Da ist unten der Platz, oben der Gemeindesaal, herausgehoben. Das musste verbunden sein – unmittelbar. Unvorstellbar, da irgendwo unten hinter einer Ecke hineinzugehen und sich dann nach oben zu zwängen. Ich sah von Anfang an einzig das Element Treppe, die zum Platz führt, um das Haus aus der Enge zu befreien. Ich will direkt in den Saal kommen, habe keine andere Absicht, komme aus der Tiefe des Platzes, der Weg hebt mich heraus, weitet sich, wird von einem großen Dach empfangen.
Das ereignet sich, wenn die Gemeinde zur Versammlung geht. Verallgemeinern lässt sich das nicht. Was zählt für Gäste, die ein paar Tage bleiben?
Da ist der Altbau wichtig, der die Gästezimmer prägt. Was macht die Qualität eines Zimmers aus? Es ist eine gute Hülle, birgt, umfasst, verschafft Wohlgefühl. Neue Standards waren so unterzubringen, dass es solche Räume bleiben, ganze Räume; man konnte nicht Neues als Kontrast hineinstellen. Man muss diesen alten Räumen das Neue in mühsamer Arbeit abringen.
In diesen Räumen mit den alten Böden und Verkleidungen aus Holz ist die Geschichte des Hauses zu greifen, gelegentlich muss man gar den Kopf einziehen. Doch wer hierherkommt, will nicht nur über Ort und Geschichte informiert werden – er will das spüren.
Klar. Geschichte spürbar machen in Räumen, die an die Schönheit der alten anknüpfen.
Sie haben verschiedene Verfahren verfolgt. Mal nur ausgebessert, mal ähnlich weitergebaut, mal neue Elemente wie sehr anspruchsvolle Fliesen extra kreiert, die den Bädern eine ganz eigene Wertigkeit geben ...
... als wir mit dem Ergänzen einer alten Schalung nicht weiterkamen, haben wir gesagt: Dann eben neue, deutlich unterschiedene Bretter, aber wir bleiben beim alten Handwerksverfahren – so gibt es Holznägel.
Was ist nicht alles zerstört worden durch den kleinlichen Zwang unserer Branche, sich als modern zu zeigen. Neues ereignet sich durch andere Ereignisse, aber nicht durch Neu-Wollen, nicht durch Neu gegen Alt als Programm.
Das Beispiel zeigt: Nicht nur um die Sachen geht es, auch um die Verfahren – das Ereignis, wie etwas gefertigt wird.
Wie geht so etwas – das ist gerade in so einem Fall ganz wichtig. Um das Handwerkliche kommt man da gar nicht herum. Die geduldige Art, etwas zu machen, den Stoff, die Zeit, das Tun dulden. Die Werkstatt: Das ist ein zauberhafter Ort.
Ein Stichwort, auf das man bei den Materialien für Ihre Lehre an der ETH Zürich immer wieder stößt.
Man könnte sagen, Dinge entstehen in der Fabrik, in der Werkstatt oder im Atelier. Auf unsere heutige Berufspraxis übertragen heißt das: einerseits Organisation von Architektur für Großkunden in Großbüros, andererseits Sensationen vom Architektengenie. Dazwischen liegt die Werkstatt, der Ort des Ereignisses, wo sich Architektur an das Leben anlagert. Es ist dieses Werken, das für mich dem Leben Sinn gibt – was ich mir von Architektur wünsche. Viel weniger geht es um ein Programm, das abgearbeitet wird, als viel mehr: Etwas kommt auf einen zu, man lässt es kommen, macht einen eigenen Schritt, es bildet ein Ganzes. Das ist der Saft der Werkstatt.
Ist es dieses Entgegentreten, sich nicht ganz auf ein Programm festlegen lassen, was Atmosphäre ausmacht – Atmosphäre, die einen Ort wie diesen vor allen anderen auszeichnet ?
Ich weiß, wie Atmosphäre entstehen kann. Das braucht etwas Vages, Ungeklärtes, Offenes – wenn ich präzise zuspitze, entsteht keine Atmosphäre. Wir haben hier mit Bildern gespielt, haben uns gefragt: Was ereignet sich in einem Saal? Haben uns vorgestellt: Wie belebt sich der Saal? Haben uns ein Paar vorgestellt, das Raum bildet, indem es tanzt. Wir haben nicht gefragt: Wie schaut man hinaus aus dem Saal? Das ist Thema im Stockwerk tiefer, wo im Restaurant Innen und Außen eine Rolle spielt – die Früchte der Bauern auf dem Teller und die Gäste im Garten. Unten im Restaurant verdichtet das Äußere das Innen, oben im Saal verdichtet es sich aus der Mitte. Ein Panoramafenster wollte man. Dagegen habe ich gesagt: Die Aussicht muss einen Rhythmus haben, geformt sein, wie ein Schleier – dann wird es intensiv.
Der Saal hat einen kleinen Nachbarn, das ist ein eigener Raum und Mittler zwischen diesem hohen Raum und dem Platz draußen.
Ein Scharnier – wir sagen Bühne, denn die Wand zum Saal lässt sich weit öffnen. Man kann aber auch das große Fenster zur Gasse wegdrehen. Dann habe ich eine echte Loggia.
In spezieller Beziehung zum Platz, selbst etwas verborgen, aber mit bester Sicht darauf.
Frontal wäre ganz falsch gewesen, da ergreift der Platz von dir Besitz. Man schaut ja nicht nur, man wird auch gesehen – etwas geschieht mit mir. Das ist das Ereignis, dieses Hin und Her, ein Spiel mit ganz feinen Nuancen, niemals „one way“. Das ist ganz wichtig in der Architektur: Was mache ich, was macht das andere, mit mir, mit den anderen. So ist diese Loggia: direkt, entschieden – und dezent, bis zum Verborgenen. Der Nutzer hat übliche, aber auch ganz andere, große Spielräume. Wählen können finde ich wichtig. Räume, Entscheidungen offen lassen. Das ist bei dichten Gebäuden schön: mögliche Bewegungen, Zirkulationen, Schleichwege ...
Auch eine Art, das Dorf zu beschreiben mit dem Platz, der Straße, den Gassen, Viehwegen, Trampelpfaden. Der Ort lebt im Haus, lebt das Haus im Ort? Hat es ihm etwas mitgegeben?
Jedenfalls gibt es eine große Euphorie. Viel spielt dabei mit: die Wirtsleute, der wunderbare Koch. Die Leute kommen wegen der Architektur, dann der Küche wegen und der Menschen, die an das Projekt Dorf glauben. Im Augenblick ist es wunderbar – die Gemeinde hat sich ins Werk gesetzt.
Was eigentlich die Frage beantwortet: Was kann das Land? Was kann so ein Dorf? Was könnte die Zukunft des ländlichen Raums sein?
Die größte Chance des Landes: seine Differenz zur Stadt. Das bedeutet, die Qualität der Bewohner stärken, zum Ausdruck bringen. Ganz im Gegensatz zu Tourismusmanagern, die eine Fahne bringen, hochziehen, und dann soll sie knattern. Meine Erfahrung, aus Vrin und anderswo: Wenn es für die Leute stimmt, strahlt das genug.
Das Land – das Thema ist Ihnen sozusagen auf den Leib gebunden. Was sind seine Qualitäten?
Von Valendas lernen: Idee kriegt Dichte, dann Ausstrahlung, denn die Überschaubarkeit der Gemeinde stärkt das Kollektiv. Man kann hier an Geschichten glauben und Dinge bewegen. Gegenständlichkeit, Anschaulichkeit, das spielt hier eine große Rolle. Nicht Information sammelt man hier – man macht Erfahrung. Gegenständliche Begegnung, die alle Sinne anspricht, schafft Räume für Erfahrung, wie sie in der digitalen, globalen, urbanen Kultur verschwinden.
Das Land als Gegenraum zur virtuellen Welt, der Erfahrung, Anschauung und Begreifen erst möglich macht?
Als wir in Disentis, rund 30 Kilometer von hier, für die Landwirtschaft gebaut haben, wurde bald klar: Das ist nicht nur Produktion von Lebensmitteln, sondern Erlebnismöglichkeit und sinnliche Fülle. Was für Potenziale! Noch immer reden manche vom Land als potenzialarmem Raum. Eine Umwertung ist dringend geboten.
Das Land ist also im Aufwind? Dem steht doch eine große Depression entgegen. Wie kriegt man den Wind unter die Flügel?
Was wir hier machen, Beziehungen aktivieren, das nimmt zu. Ein großer Schweizer Möbelhersteller möchte von mir Möbel haben – von hier für hier. Man erwartet etwas vom Land. Eigentlich ein großartiges Experimentierfeld. Nicht den Kopf in den Sand stecken, aber auch keine Selbstgefälligkeit nach dem Motto: Wir wissen’s schon. Was ist da falsch gemacht worden!
Der Erfahrungsraum des Konkreten, des Ereignisses, ist immer ein lokaler. Lokales Bauen, das ist immer ganz nah bei den Dingen. Das schafft Intensität, ist Herausforderung, etwa: Bauen mit dem, was an lokalen Baustoffen ansteht. Das schafft Differenz, reizt mich, fordert mich – mehr, als ein Objekt, das überall sein kann. An vielen Orten gibt es hochwertige Architekturobjekte, identitätsstiftende Orte sind eine Seltenheit.
Intensität, die sich dem Gebauten mitteilt; die Atmosphäre schafft; die von Geschichten lebt, die an Orte gebunden sind – gibt es das nur auf dem Land?
Ich kann nicht anders als so, wie ich es dort gelernt habe. Ich suche es auch in der Stadt – und finde es. Es geht um etwas anderes: An der ETH Zürich wird derzeit intensiv das eigene Selbstverständnis diskutiert. Dazu sage ich: Wer internationaler Architektur hinterher ist, wird bedeutungslos. Immer geht es auch um Spezifisches. Arbeiten in dieser Intensität hilft gegen Beliebigkeit und Gleichgültigkeit. Wir wissen es ja: Jede Liebesbeziehung findet im lokalen Raum statt. Virtuelle Liebesbeziehung mag die Zukunft bringen, meiner Gegenwart ist sie verschlossen. Aber was ich weiß: Ich muss mich heute entscheiden, und da ist meine Entscheidung eindeutig: konkret, lokal, intensiv. Ist das neu? Ging es früher um die Identität des Ortes, so hat sich das ergeben – heute muss man sich entscheiden!
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