Bauwelt

Ich kann keine Kunst mehr sehen!

Werkschau des Konzept­künstlers Timm Ulrichs in Hannover

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

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Ellen Poerschke; © VG Bild-Kunst, Bonn

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Ich kann keine Kunst mehr sehen!

Werkschau des Konzept­künstlers Timm Ulrichs in Hannover

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

Ein bisschen fühlt man sich an Bazon Brock erinnert, der sich zu seinem 70. Geburtstag als „Wundergreis“ inszenierte, als Künstler (zwar ohne Werk), den es noch zu entdecken gelte. Im Falle von Timm Ulrichs allerdings harrt ein stupendes, in weiten Teilen un­be­kanntes Œuvre der Erkundung – zu seinem 70. Geburtstag veranstalten der Kunstverein Hannover und das Sprengel-Museum eine große Doppelwerkschau.
Das Architekturstudium verschlug Timm Ulrichs im Jahr 1959 in die niedersächsische Landeshauptstadt. Den Berufswunsch Künstler bei seinen Eltern vor­zubringen, habe er sich nicht getraut, er sollte doch schließlich was werden. Als das Studium nach dem Vordiplom irgendwie im Sande verlief, wurde dies als Kunstpause verkauft – die eben bis heute anhält. Gerade 32-jährig erhielt er eine Professur; jeder solle früh anfangen, sagt Ulrichs rückblickend. Er entschied sich damals für ein Angebot aus Düsseldorf, Abteilung Münster, und lehnte den Ruf nach Wien ab. So habe er in den Zeiten vor der Billigfliegerei Hanno­-ver, seiner großen Hassliebe, die Treue halten können. Mittlerweile teilt er seine Anwesenheit zwischen Han­nover, Münster und Berlin auf.
Von Hannover aus startete Ulrichs seine künst­lerischen Aktivitäten. Und die beziehen von Anfang an sein Leben und ihn als Subjekt untrennbar mit ein – Totalkunst als Konzept eines Neo-Dada; er selbst ließ sich 1968 gar als erstes lebendes Kunstwerk per Eintrag ins Musterregister rechtlich schützen. Als Test-Fall und Studienobjekt meines selbst-inszenier­ten vivisektorischen Experiments betitelt „Leben“ setzte er sich dafür auch moderner medizinischer und technischer Verfahren aus und dokumentierte sich selbst als wandelndes „Datascape“ (ohne den Begriff zu verwenden): die radikale Erneuerung des Selbstporträts in Zeiten prononcierter Erfassungsmethoden. So ließ er beispielweise seine „Ausstrahlung“ mittels Infrarot-Wärmebildkamera, wie im Bau­wesen gebräuchlich, festhalten oder sein Körperinneres als endoskopische Reise einer „Durchsicht durchs Ich“ unterziehen. Seine Körperoberfläche (genau auf 18.360 Quadratzentimeter vermessen) ist in Hannover als größengleiche Zeltplane zu sehen, es gibt Timm Ulrichs in Würfelform mit gut 55 Zentimeter Kantenlänge und eine Hohlkörperskulptur als Bronzeabguss des kauernden Meisters.
Neben dem frühen Beginn des Lebenswerks setzt Timm Ulrichs aber vorrangig auf seine Hartnäckigkeit – man kann sie gern auch querulatorisch nennen – und das immerwährende künstlerische Experiment. Diese Tugenden wurden seiner Markttauglichkeit zum Verhängnis, da sie ihn ein hetero­ge­nes Werk ohne die heute im Kunstmarkt erwartete Konsequenz, den Wiedererkennungswert, erschaffen ließen. Aber auch einige bemerkenswerte Arbeiten der Kunst im öffentlichen Raum wären ohne diese Hartnäckigkeit wohl nicht möglich gewesen. Am bekanntesten ist sicher das „Versunkene Dorf“ in München-Fröttmaning in Sichtweite der Allianz-Arena, das Ulrichs ab 2004 nach gewonnenem Wettbewerb realisierte. Das alte Dorf Fröttmaning hatte in den 50er Jahren einer Mülldeponie weichen müssen, nur die Dorfkirche mit kleinem Friedhof blieb aus Gründen der Pietät erhalten. Ulrichs dublizierte die Kirche in identischer Größe aus Stahlbeton mit Kalkputz, Silikatfarbe und Schindeldeckung und platzierte das Bauwerk, halb eingegraben, in den mittlerweile begrünten Müllberg. Für das Werk erhielt Ulrichs zu Jahresbeginn den mit 50.000 Euro dotierten „mfi Preis“ für Kunst am Bau; 15.000 Euro Schulden aus der Realisierung belasteten aber immer noch sein Konto, wie er sagt. Doch ohnehin ginge es ihm eigentlich um die Idee als ästhetische Patentlösung, die Materialisation sei nur ein mögliches, nachrangiges Ergebnis. Viele akribische, mitunter übertrieben naive Modelle für Kunst im öffentlichen Raum stehen im Sprengel-Museum deshalb gleichrangig neben kleineren Installationen wie zum Beispiel seiner Paraphrase auf die toskanische Geschlechtertürmestadt San Gimignano aus kopfstehenden Tischen und ziegelroten Beton-Pflastersteinen. Die Grenzen der Kunstformen sind aufgelöst, Timm Ulrichs wandelt permanent zwischen Grafik, Objekt- und auch Sprachkunst.
Bei der Vorbesichtigung der Doppelausstellung spielt er, wie nicht anders zu erwarten, die jungen Kuratorinnen und Museumsleiter rhetorisch souverän an die Wand und äußert ganz unverblümt seine Sicht der Dinge: Dies sei eine Weihnachtsverkaufsschau, denn sein „Nachlass zu Lebzeiten“ solle doch bitte endlich in die Sammlungen zahlungskräftiger Museen wandern. Er könne sich schließlich nicht älter machen, nur, um entdeckt zu werden.

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