Bauwelt

Venezia vendesi

Einleitung

Text: Marcello, Delfina, Venedig; Schirmeyer, Guido, Venedig

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    Canal Grande, Campo della Pescaria, Protest gegen den Ausverkauf der Stadt


    Federico Sutera

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    Canal Grande, Campo della Pescaria, Protest gegen den Ausverkauf der Stadt


    Federico Sutera

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    Die 2006 von Santiago Calatrava errichtete, vierte Brücke über den Canal Grande lenkt Touristen von der Piazzale Roma in die Stadt



    Federico Sutera

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    Die 2006 von Santiago Calatrava errichtete, vierte Brücke über den Canal Grande lenkt Touristen von der Piazzale Roma in die Stadt



    Federico Sutera

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    Die Vision „Venice 2.0“ von Julien De Smedt entstand zur Architekturbiennale 2010. Strände mit Neubauten legen sich um die Stadt.
    JDS

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    Die Vision „Venice 2.0“ von Julien De Smedt entstand zur Architekturbiennale 2010. Strände mit Neubauten legen sich um die Stadt.

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    Proteste der Bewohner im Stadtbild
    Federico Sutera

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    Proteste der Bewohner im Stadtbild

    Federico Sutera

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    Eine Allianz aus Politikern, Wirtschaftsleuten und Investoren, Stadt- und Hafenverwaltung, Reedereien und Reiseunternehmen betreibt eine verantwortungslose Stadtpolitik mit verheerenden Konsequenzen für die gesamte Lagunenregion

    Enrico Bardin

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    Eine Allianz aus Politikern, Wirtschaftsleuten und Investoren, Stadt- und Hafenverwaltung, Reedereien und Reiseunternehmen betreibt eine verantwortungslose Stadtpolitik mit verheerenden Konsequenzen für die gesamte Lagunenregion

    Enrico Bardin

Venezia vendesi

Einleitung

Text: Marcello, Delfina, Venedig; Schirmeyer, Guido, Venedig

Gefährlicher als die Türken, Österreicher und Napoleon Man mache sich nichts vor, jeder führt mit dieser Stadt etwas im Schilde. Politiker und Big Business allemal, denn nichts hat eine größere Zukunft als Geld. Das geht sogar so weit, daß das Geld sich für ein Synonym der Zukunft hält und versucht, sie ordnend zu gestalten. Es gibt eine Vielzahl von verbalen Ergüssen, man wolle die Stadt revitalisieren, die gesamte Provinz des Veneto in ein Tor nach Mitteleuropa verwandeln, die Industrie auf Hochtouren bringen (...). All dieses Gewäsch sprudelt normalerweise aus demselben Mund (und oftmals auch mit demselben Atemzug), der von Ökologie, Schutzmaßnahmen, Restaurierung, kulturellem Erbe und wer weiß nicht was schwatzt. Das Ziel von alldem ist ein einziges: Vergewaltigung. Gleichwohl mag kein Vergewaltiger sich gern als solchen betrachten, geschweige denn erwischt werden. Daher die Mischung aus Interessen und Metaphern, hochgestochener Rhetorik und lyrischer Inbrunst, die die hohe Brust von Parlamentsabgeordneten und Commendatori gleichermaßen schwellen läßt. Wenn diese Typen auch weitaus gefährlicher sind als die Türken, die Österreicher und Napoleon zusammengenommen, hat sich im Verlauf der siebzehn Jahre, während derer ich diese Stadt besucht habe, sehr wenig geändert. Was Venedig, wie Penelope, vor ihren Freiern bewahrt, ist ihre Rivalität untereinander, das Wettbewerbswesen des Kapitalismus, zusammengeschrumpft auf die blut-verwandtschaftlichen Beziehungen hoher Tiere zu verschiedenen politischen Parteien. Joseph Brodsky aus „Ufer der Verlorenen“, 2001
Skrupellos abgeholzt, ein großer Pinienhain auf dem Lido, hundert Jahre gewachsen. Die Bäume spendeten den Venezianern früher Schatten, nun klafft an ihrer Stelle seit Jahren eine Baugrube voll Wasser und Unrat. Der hier geplante Nuovo Palazzo del Cinema wurde nicht gebaut. Das prunkvolle Grand Hotel des Bains, einst Filmkulisse von „Tod in Venedig“, geplündert, zugenagelt, mit Bauzäunen umgeben; die Investoren abgesprungen. Ein Krankenhaus-Quartier am Strand – verlassen, dem Vandalismus preisgegeben, eine ruinöse Brache. Auf dem Schauplatz der Filmfestspiele von Venedig findet ein Trauerspiel statt. Stars im Budenzauber des Festivals wecken in der Weltpresse Jahr für Jahr glamouröse Lido-Assoziationen und täuschen über die bittere Realität hinweg.
Die dramatische Entwicklung Venedigs, geprägt von Gier und Maßlosigkeit, der tiefe Fall in einen pittoresken Vergnügungspark für Massentou-rismus, in einen Ramschladen mit Pizza, Bier und Masken, begann in den neunziger Jahren unter Bürgermeister Massimo Cacciari, der mit unheilvollen Entscheidungen die Hinrichtung Venedigs einläutete. Immer öfter führt in der „schönsten Stadt der Welt“ das Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft zur Schande; reihenweise verhökern Venedigs „Stadtväter“ historische Gebäude. Und in einem entkernten und lieblos umgebauten Palazzo starren scharenweise US-Teenager beim Burger-Essen auf Flachbildschirme mit Hip-Hop-Clips; ein trauriges Bild von Venedigs jüngster „Kultur-Touristen“-Generation. „Nach uns die Sintflut“, scheint die Devise zu sein. Dem venezianischen Stadtbild wird mehr Schaden zugefügt als von jeder Luftwaffe – um ein Bild von Joseph Brodzky zu zitieren.
Diese unheilige Allianz aus Politikern, Wirtschaftsberatern, Investoren, Stadt- und Hafenverwaltung, Reedereien und Reiseunternehmen betreibt in Venedig eine verantwortungslose Stadtpolitik mit verheerenden Kon-sequenzen für die gesamte Lagunenregion. Ein auf circa 10.000 Personen geschätzter Kreis – die „Famiglia“ – profitiert direkt und indirekt von den immensen Einnahmen der jährlich rund 30 Millionen Besucher, so die Überzeugung der Rest-Bewohner Venedigs. Seit Jahrzehnten sind die Falschen am Ruder. Die kriminellen Machenschaften korrupter Machthaber führten in diesem Sommer zu zahlreichen Festnahmen. Allen voran wurde Venedigs Bürgermeister Giorgio Orsoni verhaftet und unter Hausarrest gestellt, weil er sich an der im Bau befindlichen, milliardenschweren Flutschutzwehr MO.S.E. (Modulo sperimentale elettromeccanico) bereichert haben soll.
„Vendesi, Vendesi“ – an Fenstern und Türen unzähliger Häuser und Wohnungen kleben Verkaufsschilder, die mitunter wie panische Notverkäufe anmuten. Venedig laufen die Bewohner weg, selbst zutiefst Heimatverbundene flüchten, weil sie die Unbill der Touristen-Invasionen nicht mehr ertragen können. Junge Menschen haben, außer in der Tourismusbranche, schon lange keine Perspektive mehr in der Wasserstadt, die von monströsen Ozeanriesen durchkreuzt wird. Mannigfaltig sind die Skandal-Themen Venedigs, weshalb der Fokus in diesem Heft auf dem Lido liegt, wo sich die Probleme ebenfalls ballen.
„Das Weltkulturerbe Venedig, diese einzigartige Stadt, dieses Juwel, verliert seine Bewohner und liegt daher im Sterben“, stellt auch der venezianische Architekt Sergio Pascolo in seiner Schrift „Venedig beleben“ fest, nicht ohne Möglichkeiten anzubieten, wie man das Ruder zur Rettung Ve-nedigs noch rumreißen kann. Bei unserer Recherche haben wir vergeblich versucht, den nebulösen Schleier über Venedig etwas zu lüften – bei den Interview-Anfragen zum Ausverkauf hagelte es Absagen. Auch Ex-Bürgermeister Cacciari, Ex-Bürgermeister Orsoni sowie der Patriarch von Venedig Monsignore Francesco Moraglia wollten sich unseren Fragen nicht stellen.
26 Jahre für ein Dokument
1987 wurde Venedig von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Die Stadt musste, wie alle denkmalgeschützte Stätten, einen Management-Plan vorlegen, der im Fall Venedigs von 20 verschiedenen Stellen in der Regierung, in der Region und in der Stadt formuliert wurde. Das 157 Seiten starke Dokument wurde 26 Jahre später, im April 2013, fertiggestellt! Für Anna Somers Cocks, bis 2012 Vorsitzende von „Venice in Peril“, war sein Scheitern vorprogrammiert, „weil seine Verfasser aus Bequemlichkeit alle wichtigen Fragen vermieden haben“ – das MO.S.E-Projekt, die Entvölkerung der Stadt, die Verseuchung des Wassers und damit auch der gesamten Altstadt und der Inseln durch Dioxin sowie der Feinstaub in der Luft vor allem verursacht durch die Kreuzfahrtschiffe.
Einheimische werden häufig von Touristen gefragt: „Wann macht Venedig zu?“, als wäre die Stadt ein einziger Konsumtempel. In der Tat zog bereits der größte Teil der Venezianer auf das Festland, um nicht in einem unbezahlbaren Themenpark leben zu müssen. Trotz der Empfehlung des Architekten Vittorio Gregotti, die Ränder der Altstadt mit neuen Wohngebäuden und Dienstleistungen aufzuwerten, war die Kommunalverwaltung weder in der Lage, den Exodus der Stadtbevölkerung, den sie in gewisser Weise auch noch begünstigte, aufzuhalten noch ihn zumindest einzudämmen. Wohnungsmieten und -preise in Venedig sind inzwischen unerschwinglich, obwohl die Kommune seit Jahren über Hunderte von leerstehenden Wohnungen verfügt. Sie kann sich deren Instandsetzung nicht leisten, und so verkauft man eben an den Meistbietenden.
Hinzu kommt der Wellenschlag, den Kreuzfahrtschiffe und die schnellen Wassertaxis verursachen und der die Uferbefestigungen zerstört. Der kommunalen Agentur Insula, die sich um die Instandhaltung und Reparatur der Befestigungen kümmert, fehlen die Mittel. Es gibt Gerüchte, dass so-gar die Pflastersteine Venedigs, die „Masegni”, bei einer Erneuerung der Wasserrohre in den Fernen Osten verkauft werden sollen. Hier und da entdeckt man sie auch in den Gärten venezianischer Villen, während Straßen und Plätze mit Betonplatten zugepflastert werden, die Lärm und im Sommer unerträgliche Hitze verursachen. Diebe haben am hellerlichten Tag die Einfassung eines Brunnens in Campiello dei Ponti aus dem 16. Jahrhundert abtransportiert. Im selben Monat sind auch zwei andere antike Brunneneinfassungen verschwunden.
Die Modernisierung Venedigs geht seit den neunziger Jahren mit dem Problem des Hochwasserschutzes einher. Das MO.S.E-Projekt wurde gestartet, in dessen Zusammenhang seit 2013 etwa 50 Festnahmen wegen Korruption erfolgten. MO.S.E scheint heute völlig überholt zu sein. Seine Effizienz wurde seit seiner Entwicklung angezweifelt, vor allem in Anbetracht eines steigenden Meeresspiegels.
Paolo Costa
Paolo Costa, Stadtrat vom Bürgermeister Cacciari, Rektor der Universität Cà Foscari, Bürgermeister von 2000 bis 2005, Minister für öffentliche Auf-gaben, Europa-Parlamentarier und heute Präsident der Hafenbehörde von Venedig, legte als Professor der Wirtschaftswissenschaften eine Untersuchung vor, wonach Venedig täglich nicht mehr als 22.000 Touristen verträgt, also wenig mehr als sechs Millionen im Jahr. Doch da sind noch die großen Kreuzfahrtschiffe! Als Hafenchef hofft er nun, immer noch größere Schiffe in die Lagune einfahren lassen zu können. „Venedig ist schon der größte und wichtigste Hafen für Kreuzfahrten im gesamten Mittelmeerraum“, erklärt er, „und wir arbeiten weiter in dieser Richtung!“ Costa war 1995 Mitglied der fünfköpfigen Expertengruppe eines staatlichen Ausschusses, der das MO.S.E-Projekt genehmigt hatte. Inzwischen sind die Kosten von eineinhalb Milliarden Euro auf fünfeinhalb Milliarden gestiegen – nicht eingerechnet die Unterhaltskosten von rund 30 Millionen jährlich, die sich weiter aufblähen werden. Wie viele staatliche Gelder sind in die privaten Taschen öffentlicher Funktionäre geflossen – und werden weiter fließen?
Venedig mit Peripherie
2010 wurde von der Stiftung Gianni Pellicani (heute in der Fondazione Vene-zia aufgegangen) ein Projekt mit 4000 Häusern für die Stadt der Zukunft vorgestellt, ausgestattet mit Parks, Plätzen, Schulen, Supermärkten, auf schwimmenden Plattformen, verankert in der Lagune. Ein Teil würde an die Insel Tronchetto angehängt, ein anderer an die Sacca, eine ehemalige Müllverbrennungsanlage hinter Sacca Fisola im Norden der Insel Murano: alles weniger attraktive Gegenden von Venedig. Das Projekt wurde wieder verworfen. Wäre dies ein Weg gewesen, die Bewohner zu halten?
Die venezianische Stadtplanerin Paola Somma zeichnet das Bild einer Stadt, die „von ihren Bewohnern verlassen wurde, deren Prachtbauten man restauriert und an private Investoren verscherbelt hat, und die in ein ‚Old Venice‘ verwandelt wurde: ein Touristenghetto mit einer Reihe von sogenannten Gateways zur Maximierung der Zugänge, die die Invasion vom Land, vom Wasser und aus der Luft erleichtern“. Und sie verweist auch auf die Frage, die sich 2011 die Ingenieurskammer der Provinz Venetien stellte: „Sollte man die Lagune ‚als Chance oder als Problem‘ sehen?“ Wenn nämlich die Bollwerke des MO.S.E-Projekts an den Hafenzufahrten realisiert sind, stellt sich als nächste die Frage: „Für welche Stadt werden diese Bemühung zum Schutz vor Hochwasser unternommen?“ Die Lagune wird zum achten Stadtbezirk. Sie ist schon seit den ersten Jahren des letzten Jahrhunderts massiv vertieft worden, um den Handelshafen Marghera zu schaffen, die Insel Tronchetto und viele andere Betonflächen, haben den Pegel der Lagune steigen lassen. Sie werden bald bebaubares Gebiet sein. Sacca San Biagio, die Insel mit der Müllverbrennungsanlage, wurde vom venezianischen Unternehmer Alberto Zamperla gekauft, der dort „Veniceland“ baut, einen Vergnügungspark. Auch Inseln südlich der Stadt stehen zum Verkauf, Poveglia zum Beispiel, wo sich aber eine große Bürgerinitiative „Poveglia für alle“ gebildet hat.

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