Rathaus Rotterdam
Gestapelte Kisten in rigidem Raster: Das Timmerhuis im Zentrum der Hafenstadt fügt sich als Mixed-Use-Komplex in die experimentelle Stadtlandschaft
Text: Spix, Sebastian, Berlin
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Zehn Minuten vom Timmerhuis entfernt befinden sich die Markthal von MVRDV und die Cube Houses von Piet Bloom.
Foto: Ossip van Duivenbode
Zehn Minuten vom Timmerhuis entfernt befinden sich die Markthal von MVRDV und die Cube Houses von Piet Bloom.
Foto: Ossip van Duivenbode
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Das als Wolke konzipiert Rathaus schließt direkt an das alte Stadstimmerhuis an.
Foto: Ossip van Duivenbode
Das als Wolke konzipiert Rathaus schließt direkt an das alte Stadstimmerhuis an.
Foto: Ossip van Duivenbode
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Die Halle wird von den beiden Längsseiten betreten. An den umlaufenden, gebogenen Glaspaneelen lässt sich das ursprüngliche Konzept nachvollziehen.
Foto: Sebastian van Damme
Die Halle wird von den beiden Längsseiten betreten. An den umlaufenden, gebogenen Glaspaneelen lässt sich das ursprüngliche Konzept nachvollziehen.
Foto: Sebastian van Damme
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Die 3850 Tonnen schwere Stahlkonstruktion aus Vierendeel-Trägern wurde während der Ausführung mit Diagonalen ergänzt, ...
Foto: Ossip van Duivenbode
Die 3850 Tonnen schwere Stahlkonstruktion aus Vierendeel-Trägern wurde während der Ausführung mit Diagonalen ergänzt, ...
Foto: Ossip van Duivenbode
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Jeder Mitarbeiter hat einen Spind (links) und sucht sich in der offenen Bürostruktur immer einen neuen Platz.
Foto: Ossip van Duivenbode
Jeder Mitarbeiter hat einen Spind (links) und sucht sich in der offenen Bürostruktur immer einen neuen Platz.
Foto: Ossip van Duivenbode
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Die simpel konstruierten Wohnungen variieren zwischen 50 und 200 Quadratmetern Größe und werden individuell ausgestattet
Foto: Ossip van Duivenbode
Die simpel konstruierten Wohnungen variieren zwischen 50 und 200 Quadratmetern Größe und werden individuell ausgestattet
Foto: Ossip van Duivenbode
Lars und Katrine finden das kürzlich fertiggestellte Timmerhuis von OMA im Zentrum Rotterdams „schrecklich“. Bei einem Heineken in Blufs Bar, gegenüber vom Neubau, echauffieren sie sich: „Die Architekten behaupteten, sie würden eine Wolke bauen. Haben sie aber nicht.“ Zum Abschied ruft mir Lars nach: „Ich mag keine Rechtecke!“ Schnell ist man am Vortag der offiziellen Eröffnung mitten in der Diskussion um das neue Rathaus der im zweiten Weltkrieg fast völlig zerstörten niederländischen Hafenstadt. Die vorangegangenen Berichterstattungen waren gespickt mit polarisierender Kritik: Da wurde einerseits von einem „Wirklichkeit gewordenen Tetris-Spiel“ (
derstandard.at) und von einem „Pixelregen“ (
lemonde.fr) gesprochen, andererseits von einem „spektakulären Fehler“ (
theguardian.com).
Um die Kakophonie und den Ärger der Nachbarn zu verstehen, hilft ein Blick zurück auf den siegreichen Wettbewerbsentwurf von 2009. Die Stadt Rotterdam schrieb damals den Wettbewerb für einen Mixed-Use-Bau aus, der mehr als nur ein Rathausgebäude sein sollte. Eine außergewöhnliche Typologie, die Büros, Gewerbe, Wohnen und eine zentrale, öffentliche Halle vereinen sollte. Der Altbau war zu klein geworden. Außerdem war die Stadt bestrebt, die auf 14 Standorte verteilte Stadtverwaltung auf vier zu konzentrieren. Das neue Timmerhuis sollte direkt an den Altbau andocken, um 1800 kommunale Mitarbeiter der Lizenz-, Kultur- und Sportabteilung sowie zentraler Dienste und Callcenter zu beherbergen.
60 Meter hoch gestapelt
OMA konzipierte in der Heimatstadt von Rem Koolhaas ein modulares Gebäude, das, von der Straße zurückgesetzt, in zwei unregelmäßige Türme aufgeschichtet sein sollte. Als wären unzählige Container vom Hafen an den L-förmigen Bestand geschwemmt worden, stapelten sich im Modell die sogenannten Pixel zu einem beinahe 60 Meter hohen „Frachter“ in den Himmel. Durch die unregelmäßige Schichtung der Quader zeichnete sich in den damaligen Renderings noch ein luftiges Stahlkonstrukt mit einer beinah stützenlosen, zentralen Agora (dem „City Shop“) ab. Die Visualisierung zeigte das Gebäude tatsächlich als eine plastische Wolke, die über dem Erdgeschoss zu schweben schien und sich mit seiner modularen Bauweise subtil an das bestehende Stadstimmerhuis aus dem Jahr 1953 anschloss.
Nach dem Wettbewerbsgewinn überarbeitete OMA den Entwurf wegen eines Fehlers bei der Berechnung der Flächen und reduzierte diese um ein paar Tausend Quadratmeter, die Stadt distanzierte sich aus „Kostengründen“ von dem großzügigen Marktplatz im Erdgeschoss. Konkurrierende Büros monierten die „unrealistische“ Kostenschätzung für den komplexen Siegerentwurf. Diesen Vorwurf entkräftete OMA. Die Nachjustierung hatte allerdings Auswirkungen auf das Konstruktionssystem – eine dreidimensionale Vierendeel-Stahl-Struktur. In Zusammenarbeit mit den Tragwerksplanern Pieters Bouwtechniek entwickelten die Architekten eine Struktur aus einfachen Stahlstreben, die lediglich um Diagonalen ergänzt werden musste. Das simple und flexibel addierbare Stahlskelett ermöglichte eine schnelle Errichtung innerhalb von sechs Monaten. Durch die Zeitersparnis konnte mehr Aufwand in die Ausarbeitung der Details gesteckt werden. Die veranschlagten Kosten in Höhe von 85 Millionen Euro wurden eingehalten.
Im Inneren überrascht der 48.400 Quadratmeter große Koloss durch Großzügigkeit und Transparenz. Man betritt das Gebäude durch Glasvorhänge an der West- oder Ostseite. Die gebogenen Glaselemente der Eingänge lassen die seitlich aufsteigende Kistenstruktur nicht schwebend, aber losgelöst vom öffentlichen Entree erscheinen. Hinter diesem Vorhang findet man sich in einer großen öffentlichen Passage wieder. Die knapp zwölf Meter hohe Eingangshalle verbindet das Gebäude einerseits mit der Coolsingel-Fußgängerzone und dem zentralen Laurens-Quartier, andererseits dient sie als öffentlicher Platz und Verteiler zu den nichtöffentlichen Obergeschossen. Sie bildet das Gebäudezentrum und ist gleichzeitig ein Treffpunkt für Beamte, Flaneure und Bewohner. Tageslicht strömt durch zwei große Atrien. Diese sind durchgängig in die quadratische Struktur mit 7,2 Metern Kantenlänge „eingesteckt“. Sie ermöglichen Blickbeziehungen zwischen den Geschossen und unterstreichen das Entwurfsleitmotiv Mixed-Use. Im Erdgeschoss des Neubaus befinden sich ein Café und das Museum für Stadtgeschichte; im Altbau sind zu den Straßen gerichtete Shops angeordnet.
Flankiert wird die Halle jeweils von zwei Erschließungskernen. Durch eine interne Schleuse und mit einer Chipkarte erlangt man Zugang zu den Aufzügen und Treppenhäusern. Die Räume der Behörde erstrecken sich über die ersten vier Geschosse des Alt- und die ersten fünf des Neubaus auf 25.400 Quadratmetern. Ein gemeinschaftlicher nutzbarer Dachgarten dient im fünften Obergeschoss als Begegnungsort für Bewohner und Angestellte. Auf den Geschossen der Behörde entfaltet sich die räumliche Vielfalt und Flexibilität des Konzepts: Anstelle abgeschlossener Büroboxen wurden ineinanderfließende Arbeits- und Verkehrszonen eingerichtet. Offene Treppen verbinden die einzig von Besprechungsbereichen, Sitzgruppen, Schließfächern und Teeküchen gegliederten Geschosse. Durch großen Fensterflächen zum Atrium und zur Galerie öffnen sich die Geschosse zueinander. Um die Kommunikation unter den Mitarbeitern zu fördern und dem sich in den Niederlanden stark verbreitenden Teilzeitarbeitsmodell Rechnung zu tragen, hat niemand einen festen Arbeitsplatz. Jeder Mitarbeiter hat einen eigenen Spind, in dem sei-ne Unterlagen lagern. Jeden Tag muss man sich einen Schreibtisch suchen. Insgesamt 1800 Mitarbeitern stehen 1200 Arbeitsplätze zur Verfügung. Die Behörde behält sich vor, Räume bei einer eventuellen Schrumpfung zu vermieten.
Auch die Wohnungen mit insgesamt 12.000 Quadratmeter Fläche sind flexibel konzipiert. Nur 6 von insgesamt 84 Wohnungsgrundrissen sind identisch. Rau mit Estrich, Stahlträgern und Aluminiumfenstern ausgestattet, setzt sich die Glasfassade auch in den Wohngeschossen fort. Alle Glasscheiben der Kisten sind mit einem Punktmuster als Sonnenschutz bedruckt. Für die Appartementhülsen entwickelte OMA unterschiedliche Wohntypen, die von ihren Bewohnern individuell ausbaubar waren. Durch die versetzte Stapelung ergeben sich erstaunliche große, bis zu 45 Quadratmeter messende Terrassen. Sie sind wahlweise als Einzel- oder Gemeinschaftspixel nutzbar und bilden einen über den Dächern Rotterdams ungewöhnlichen Außenbereich mit Weitblick. Einziger Wermutstropfen des ansonsten bis ins Detail gelungenen Projekts ist das Fehlen von Sozialwohnungen, die zu Projektbeginn eingeplant waren. Alle Wohnungen wurden vom Partner-Bauherrn der Stadt, dem Bauunternehmen Heijmans, als Eigentumswohnungen verkauft, zu für Rotterdam moderaten Preisen: Der Fotograf Ossip van Duivenbode erwarb 3 Pixel (zwei zum Wohnen mit je 50 Quadratmetern, einen Außenbereich mit 45 Quadratmetern) für 370.000 Euro.
Zwischen Reihenhaus und Büroturm
In experimenteller Anlehnung an die gewölbte Markthal von MVRDV und an Piet Blooms Cube Houses sowie zwei Jahre nach Fertigstellung der vertikalen Kleinstadt De Rotterdam realisierte das Team um Reinier de Graaf eine neuartige Hybrid-Großstruktur. Auch wenn es nur Eigentumswohnungen gibt und man auf den „City Shop“ im Erdgeschoss verzichtete – das Timmerhuis ist kein „spektakulärer Fehler“. An einer städtebaulichen Schnittstelle scheint der neuartige Mixed-Use-Bau in der widersprüchlichen Entwicklung der größten europäischen Seehafenstadt, zwischen Reihenhäusern der Nachkriegszeit und Bürotürmen der siebziger und achtziger Jahre mehr als nur Arbeiten und Wohnen zu durchmischen: Im Gegensatz zum unbelebten De Rotterdam fügt sich das rigide durchrationalisierte Kistenkonglomerat des Timmerhuis lebendig in die herrlich unaufgeräumte Stadtlandschaft Rotterdams.
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