Düstere Schönheit
Die tschechische Industriestadt Ostrava ist die Heimat des Fotografen Viktor Kolář. Ausschließlich dort fotografiert er. Das Sprengelmuseum Hannover zeigt seine Arbeiten erstmals in Deutschland
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
Düstere Schönheit
Die tschechische Industriestadt Ostrava ist die Heimat des Fotografen Viktor Kolář. Ausschließlich dort fotografiert er. Das Sprengelmuseum Hannover zeigt seine Arbeiten erstmals in Deutschland
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
Zwei zu exakten Pyramiden aufgetürmte Abraumhalden bilden eine übernatürliche Topografie, davor zieht eine Dampflok ihre voluminöse Qualmwolke einmal schräg durchs Bild. Als wäre diese Szene nicht schon pittoresk genug, erscheint sie ein zweites Mal als Spiegelung in einer großen Wasserfläche. Dunkle Grauabstufungen, am unteren Bildrand die fast schwarze Vegetation der Uferlinie formen aus der Situation ein japanisch anmutendes Stillleben, ähnlich einer meisterlichen Tuschezeichnung. Aber das Foto entstand keinesfalls in exotischer Ferne sondern im tschechischen Ostrava, so wie alle Fotografien von Viktor Kolář. Das Motiv von 1963 ist das älteste der gut 50 Fotos, die derzeit im Sprengelmuseum in Hannover zu sehen sind.
Humanistischer Surrealismus
In der hiesigen Fotoszene ist Viktor Kolář kaum bekannt, dekorative Bildbände gibt es von ihm schon gar nicht. Auch Kuratorin Inka Schube ist eher zufällig auf sein Werk gestoßen als sie vor zwei Jahren in Prag die erste umfassende Retrospektive des Fotografen mit über 220 Bildern sah. Sie beschloss, ihn nach Hannover zu holen – die erste Museumsausstellung Kolářs in Deutschland überhaupt.
Viktor Kolář wird gern in die Schublade der Dokumentarfotografie gesteckt. Man werde ihm damit aber nicht gerecht, so Schube. Sie verweist auf unübersehbar surrealistische Aspekte, stellt ihn in die Tradition einer eigenwilligen tschechoslowakischen Avantgarde aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. In der Fotografie verflochten sich dort verschiedene Richtungen. Neben Inspirationen aus dem in Paris theoretisierten Surrealismus um André Breton, Marcel Duchamp oder Man Ray untersuchte man in erzählerischen Bildkompositionen eine neue fotografische Wirklichkeit innerhalb der Wirklichkeit. Ein Thema diente als Vorwand zum fotografischen Ausdruck, poetische Bilder, etwa von Josef Sudek, entstanden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der chiffrierende Surrealismus das Sammelbecken alles Dissidenten im kommunistischen Osten. Die Fotografie, klein und preiswert in ihren Artefakten, war das künstlerische Medium, um Kritisches in Ausstellungen, Sammlungen oder Veröffentlichungen zu schmuggeln. Nicht immer ging das glatt, wie Kolářs Biografie zeigt. Der 1941 in Ostrava Geborene griff schon als Kind unter Anleitung des Vaters, eines professionellen Fotografen, zur Kamera. Mit 20 gab es eine erste Publikation, den Brotberuf – Stahlwerker, später Grundschullehrer – hängte er in den 60er Jahren zugunsten der Fotografie an den Nagel. Mit der Niederschlagung des Prager Frühlings endete 1968 eine Periode vergleichsweise offenen politischen Klimas. In dieser Zeit hatte Kolář seinen ungeschönten, teilnahmsvollen Blick auf seine rußgeschwärzte, von Nachkriegszerfall und arbeitsamem Leben gezeichnete Heimatstadt ausgebildet, der nun ideologisch in Ungnade fiel.
Kolář emigrierte nach Kanada, dokumentierte als Auftragsfotograf dort unter anderem neue Einkaufszentren und kehrte, trotz zu erwartender Repressionen, 1973 nach Ostrava zurück. Denn nur seine Heimatstadt schien ihm die relevanten Geschichten bereit zu halten, die aufzuzeichnen er als seine Lebensaufgabe empfand. Die von Bergbau und Schwerindustrie geprägte Großstadt im multiethnisch schlesischen Kohlebecken zog über lange Zeit die arbeitssuchende Landbevölkerung, auch viel Roma, an, die alle ihre kulturellen Eigenarten weiterpflegten. Allein diese Parallelwelten hätten genügend surrealistisches Potenzial geboten. Hinzu kamen im Laufe der Jahre politische Weichenstellungen wie etwa zur Privatwirtschaft, die vorrangig im Straßenhandel oder einer bescheidenen Gastronomie erblühte.
Die konstanten Verwerfungen, bis hin zum Niedergang der Industrie mit Ende des Kalten Krieges, getragen von unbeirrt hoffnungsvollen, erschöpften, oft stolzen Protagonisten, fing und fängt Viktor Kolář ohne voyeuristische Gelüste in schwarz-weißen, präzise zugeschnittenen Bildern ein – ausschließlich in Ostrava. Die geografische und thematische Selbstbeschränkung macht die Einzigartigkeit seiner Fotografien aus, gibt ihnen eine humanistische Tiefe, berührt mit sensibler Vorsicht existenzielle Fragen.
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