Ein Italiener in der Wüste
Mit dem Begriff Arcology beschrieb der italienische Architekt Paolo Soleri in den sechziger Jahren seine Vision vom Siedeln im Einklang mit der Natur. Seitdem bauen Freiwillige in der Wüste von Arizona an einem Prototyp namens Arcosanti. Von den ursprünglich geplanten 5000 Einwohnern ist man noch weit entfernt, doch die Idee von der kompakten, nutzungsgemischten Stadt ist erlebbar
Text: Stein, Jeff, Boston
Ein Italiener in der Wüste
Mit dem Begriff Arcology beschrieb der italienische Architekt Paolo Soleri in den sechziger Jahren seine Vision vom Siedeln im Einklang mit der Natur. Seitdem bauen Freiwillige in der Wüste von Arizona an einem Prototyp namens Arcosanti. Von den ursprünglich geplanten 5000 Einwohnern ist man noch weit entfernt, doch die Idee von der kompakten, nutzungsgemischten Stadt ist erlebbar
Text: Stein, Jeff, Boston
1970.
Amerika.
Vor einem Jahr hat Apollo 11 einen Mann auf den Mond gebracht.
Vor zwei Jahren veröffentlichte die NASA „Earthrise“ – das Foto des
„blauen Planeten“.
„blauen Planeten“.
Amerikas Militäreinsatz in Vietnam neigt sich dem Ende zu.
In Kunst und Kultur herrscht Aufbruchstimmung, alles ist möglich.
Das private Kunstmuseum Corcoran in Washington DC verzeichnet mit seiner Ausstellung „Die Architekturvisionen des Paolo Soleri“ einen Besucherrekord: Eine Viertelmillion Menschen kommen, um die Visionen eines Mannes zu bestaunen, dessen Zeichnungen später mit denen von Leonardo da Vinci verglichen werden sollten. Es sind wundervolle Zeichnungen und großartige Architekturmodelle, Modelle ganzer Städte. Paolo Soleri bezeichnet sie als Arcologies, als Projekte, bei denen Architektur und Ökologie im Einklang sind. Es ist seine Vision für nachhaltige Städte. Eines der vorgestellten Projekte, ein weißes Plexiglasmodell im Maßstab 1:500, heißt Arcosanti und ist so groß wie ein VW-Bus. Im Ausstellungskatalog steht unter der Abbildung des Modells: „Die Cosanti Stiftung beabsichtigt, Anfang Juni mit den Arbeiten auf dem Gelände am Agua Fria zu beginnen.“
Nicht im Juni, aber gleich im Juli 1970, begeben sich etwa zwanzig Personen – Abenteurer, Journalisten, Bauleute – auf die Reise nach Arizona in den Südwesten der USA. Sie wollen dabei sein, wenn Paolo Soleri den ersten Spatenstich macht für das, was seine Lebensaufgabe werden sollte: Arcosanti. Der Reporter, den Newsweek auf die Baustelle geschickt hatte, war sich damals sicher: „Arcosanti ist das vielleicht wichtigste Architekturexperiment unserer Tage.“ Bis heute haben rund 7000 Menschen aus der ganzen Welt an einem der Arcosanti Construction Workshops teilgenommen, haben Beton gegossen, Infrastruktur gebaut, Freiräume ersonnen und die Idee vom Einklang von Architektur und Ökologie wachsen lassen.
Paolo Soleris Theorie
Nach seiner Promotion an der Architekturfakultät in Turin 1946 verbringt Paolo Soleri die ersten drei Jahre seines Berufslebens in der Sonora-Wüste im Südwesten der USA: zuerst 18 Monate als Schüler von Frank Lloyd Wright in Zeltlagern vor dessen Winterquartier Taliesin West; später zusammen mit seinem Freund, dem Architekten Mark Mills, am Fuß des Camelback Mountain nahe Phoenix. Dort entwirft er eine Reihe fantastischer Häuser für einen Grundstücksentwickler, und ein „Dome House“ für Leonora Bulley Woods, seine spätere Schwiegermutter.
Soleris Lebensumstände in dieser Zeit – ohne vier Wände, die ihn umgeben, ohne künstliches Licht oder gefilterte Luft und mit Informationen, die unmittelbar aus der Natur anstatt vom Bildschirm kommen – ermöglichen es ihm, die Sonora-Wüste kennen und verstehen zu lernen. Für ihn ist sie kein „gottvergessenes Stück Land“, wie es viele der frühen europäischen Siedler in der Neuen Welt empfanden, sondern ein reichhaltiges und vielfältiges, wenn auch fragiles Ökosystem.
In der Wüste von Arizona fühlt sich Soleri zu Hause. In den fünfziger Jahren beginnt er hier für den Stammsitz seines Architektur- und Forschungsbüros miteinander verbundene Erdbauten zu entwickeln. Er nennt es
Cosanti, was so viel wie „vor den Dingen” bedeutet. In den Jahren darauf wird die Cosanti Stiftung im Paradise Valley in Arizona zur Ideenschmiede. Sie ist ein Ort, an dem die Dinge vorgedacht und weitergedacht werden. So lässt sich Soleris Arbeitsweise und die derer beschreiben, die mit ihm über sechzig Jahre lang gearbeitet haben: Architekten und Planer, Handwerker und Helfer auf dem Bau. Mit ihnen entwickelte er die Grundlagen seiner Vision.
Cosanti, was so viel wie „vor den Dingen” bedeutet. In den Jahren darauf wird die Cosanti Stiftung im Paradise Valley in Arizona zur Ideenschmiede. Sie ist ein Ort, an dem die Dinge vorgedacht und weitergedacht werden. So lässt sich Soleris Arbeitsweise und die derer beschreiben, die mit ihm über sechzig Jahre lang gearbeitet haben: Architekten und Planer, Handwerker und Helfer auf dem Bau. Mit ihnen entwickelte er die Grundlagen seiner Vision.
Im Verständnis von Arcology sind Städte der neue Organismus des Planeten. Wenn sie gedeihen sollen (und wir in ihnen), muss sich ihre Gestalt an die Bauprinzipien anderer erfolgreicher Organismen halten: an die Zwillingsregel von „Miniaturisierung” und „Komplexität.” Arcology sieht die Stadt als kompaktes, dreidimensionales Gebilde, das die gewachsenen Strukturen des Lebens auf der Erde nachahmt. Durch ihre Dichte kann ihr Energie- und Materialverbrauch auf ein Minimum reduziert werden.
Mit diesem Ansatz steht die Arcology-Idee im Kontrast zu all jenen, vor allem nordamerikanischen Städten, in denen das Öffentliche und das Private getrennte Einheiten bildet. Die meisten von uns leben in zwei Städten gleichzeitig, in der von Handel und öffentlichen Einrichtungen geprägten Innenstadt und der zersiedelten Vorstadt. Diese doppelt gebauten Städte verbrauchen doppelt so viel Material und fünfmal mehr Energie als nötig. Paolo Soleri ahnte bereits damals, dass diese Art des Bauens und Siedelns, bei der nahezu der gesamte Baubestand in einer das ganze Land überziehenden Schicht ausgebreitet wird, zu Ende geht. Er verstand Städte als Lebewesen; die so entworfen werden müssen, wie sich Leben auf der Erde entwickelt.
Dass sich Soleri auf die harte Realität der Wüste einließ, ist aus einem weiteren Grund von Bedeutung: Wüsten werden künftig die vorherrschende Landschaftsform unseres Planeten sein. Ein Drittel der heutigen Wüsten ist erst nach 1900 entstanden. Derzeit leben mehr als 2 Milliarden Menschen in Wüsten. Die Arbeiten aus Arcosanti bieten also bereits architektonische Lösungen für einen beträchtlichen Teil der Weltbevölkerung an, für Menschen und andere Lebewesen.
Bogen, Apsis, Halbkreis
Auf der Suche nach einem geeigneten Standort für den Prototypen von Arcology, Arcosanti, stieß Soleri 70 Meilen nördlich von Phoenix, und nicht allzu weit entfernt von seinem Forschungsbüro Cosanti, auf eine Hochwüste (1000 m). Mit großem Gespür für Einfachheit und Bescheidenheit, einem seiner Prinzipien, entwickelte er prototypische Konstruktionen, die mit zunehmender Größe komplexer werden können, immer aber auf das Nötigste reduziert bleiben.
Das erste, was in den frühen siebziger Jahren in Arcosanti entstand, waren zwei aufragende Halbbögen, die einen öffentlichen Raum markieren. Sie fokussieren den Blick, bilden eine Promenade aus und erlauben es, die sich nach Osten und Westen anschließenden Bauten mit geringst möglichem architektonischen Aufwand zu verbinden. Die Form der Apsis wurde für die Keramikwerkstatt und die Bronzegießerei gewählt. Während sich die Seitenkapellen im christlichen Kirchenbau zum großen Kathedralenraum hin öffnen, sind sie in Arcosanti zur Welt gerichtet. So ist die Keramikwerkstatt mit der Sonne, den Jahreszeiten und der übrigen Gemeinschaft verbunden. Die Bronzegießerei, in der kleine Glocken und Windspiele hergestellt werden, ist in der stärker ausgebildeten nördlichen Wand um einige Appartements ergänzt. Auf diese Weise wird das Private mit dem Arbeitsplatz verbunden, und beides zusammen mit der Welt.
Der jüngste Bau Arcosantis, der East Crescent, ist ein Komplex aus Wohnungen und öffentlichen Räumen wie Archiven, Büros, Klassenräumen, einer Bibliothek und einem Studentenwohnheim. Er nimmt die Kurve der Apsis auf und verbindet sie mit einem Theater für die Darstellenden Künste. Anstatt in der Isolation des Einfamilienhauses vor dem Fernseher zu sitzen, sind die Bewohner in Arcosanti so in ständigem Kontakt mit Künstlern aus aller Welt, die vor ihrer Haustür arbeiten.
„There is no there, there”, beschreibt Gertrude Stein die Dualität unserer Situation. Davon handelt das Experiment Arcosanti, eine sich immer weiter verfeinernde Konstruktion für eine 3-D-Integration von Arbeit und Spiel, Handel und Freizeit, Leben und Lernen. Arcosanti repräsentiert den Prototyp der Arcology-in-the-making, eine Stadt für Fußgänger, die sich und ihre Bewohner der Sonne und den Jahreszeiten aussetzt. Arcosanti kann in höchstem Maße energieeffizient sein, ist in der Lage, seinen Energieverbrauch selbst zu erzeugen und kann in solar betriebenen Treibhäusern Nahrung für die Bewohner anbauen.
Arcosanti ist ein sich ständig weiter entwickelndes urbanes Labor, in dem heute ganzjährig 85 Menschen wohnen. Einige Tausend sollen es einmal werden, die mit der Arcology-Idee experimentieren können. Wie auch immer sie dies in Zukunft tun, zwei Dinge werden in jedem Fall bleiben: der Zustrom neugieriger Geister, die darauf aus sind, eine bessere Zukunft zu bauen, und die alles beherrschende und ökologisch intakte Wüstenlandschaft, die den Ort umgibt.
Aus dem Amerikanischen von Michael Goj
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