Utopien für Kassel
Unverwirklichte Projekte aus der Geschichte der documenta
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
Utopien für Kassel
Unverwirklichte Projekte aus der Geschichte der documenta
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
In diesem Jahr feiert man in Kassel das 60. Jubiläum der documenta, der selbsternannten Weltkunstschau, die der Maler und Kunstpädagoge Arnold Bode 1955 ins Leben rief. Angetreten, um der kulturell defizitären jungen Bundesrepublik westlich internationale Kunstproduktion nahezubringen, durchlebte die Institution documenta in ihren bislang 13 Auflagen zahlreiche kuratorische Anpassungen.
Eine erste radikale Erweiterung vollzog 1972 der schweizerische Generalsekretär Harald Szeemann mit der documenta 5: Befragung der Realität. Das Museum der 100 Tage wurde zum 100-Tage-Ereignis, sprengte die engen Grenzen klassischer Kunstpräsentation. Mit Szeemann begann die Ära ortsspezifischer, speziell für Kassel entwickelter, interaktiver Installationen, die fortan ein Publikum erwarteten, das sich nicht mehr mit der Rolle des passiven Rezipienten zufrieden geben wollte (oder besser: sollte). Und es begann sich der Fundus nicht realisierter Großprojekte zu füllen, die aus technischen, finanziellen oder bürokratischen Gründen auf der Strecke blieben. Diesem utopischen Potenzial, der verborgenen Energie hinter jeder documenta, widmet sich nun eine Ausstellung im neuen Geschichtsturm des sanierten Stadtmuseums Kassel und zeigt 18 Positionen kreativen Überschusses.
Szeemann etwa lud Teams wie Archigram, Coop Himmelb(l)au oder Haus-Rucker nach Kassel ein, sie alle experimentierten um 1970 mit pneumatischen, kinetischen oder mobilen Architekturutopien. Ihre Konzepte richteten sich gegen die Architektur einer Gefälligkeitsdemokratie und gegen Städte als Hülle der Alltagsbanalität. Der Kurator der aktuellen Ausstellung, Harald Kimpel, fand drei unverwirklichte Projekte der documenta 5. Da ist die variable Eventstruktur von Archigram für die Karlsaue, eine Fortschreibung der Instant City. Oder die Wolke von Coop Himmelb(l)au: eine pneumatisch schwebende Hülle für 20 bis 30 Personen, deren Herztöne optische wie akustische Signale generieren. Diese Idee erlebte 2008 auf der Architekturbiennale Venedig als Astro Balloon 1969 Revisited ein Remake. Und auch Haus-Rucker konnte 1972 eine überdimensionale, wolkenumflorte Treppe – eine Tonleiter für 300 Aktivisten – nicht realisieren, dafür aber die Miniversion des Himmelb(l)au-Pneus am Obergeschoss des Museums Fridericianum montieren.
Spektakulär war auch das Scheitern von Aktionskünstler Wolf Vostell (1932–1998), fünf Jahre später unter der Ägide von Manfred Schneckenburger. Vostell beabsichtigte ein umfassendes Environment. Es bestand aus dem realisierten, 30 cm mit Wasser und Altöl gefluteten, dunklen Raum im Erdgeschoss des Fridericianums. An den Wänden hingen übermalte Schreckensbilder aus den Medien, Monitore spielten aktuelle Nachrichten ein. Zu dieser, dank nasser Füße gesamtkörperlichen Rezeption wollte Vostell einen Starfighter auf den Eckturm des Museums setzen – ein Exemplar jenes Flugzeugs, das damals durch zahlreiche Abstürze und Todesopfer regelmäßig für Schlagzeilen sorgte. Trotz statischen Nachweises wurde dieser Teil des Gesamtkonzepts, Das Flugzeug ist das Ei in der Hand des Himmels (kurz: Das Ei), von der Geschäftsführung der documenta untersagt. Auch diese Installation erlebte eine Reanimation, 2014 im ZKM Karlsruhe in der Ausstellung Beuys, Brock, Vostell.
Die Utopien sind Zeugnisse der ästhetischen Diskurse ihrer Zeit. Sie reichen von 68er-Partizipationsschwärmereien über ökologische Dogmen und postmoderne Stadtzeichen bis zur kühlen Konzeptkunst der Gegenwart. Allen blieb die Kritik am vollendeten Werk vorenthalten, ihr virulentes Potenzial bildet nun die ganz eigene Gattung der Gerade-noch-nicht-Realisate.
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