Moscowness oder: Stadt als Fiktion
Dem austauschbaren, globalen Standard entrinnen – das gelingt Büro Nowadays mit einem Beschwören von Bildern, die sich aus der Geschichte speisen, mit dem Anzapfen des kollektiven Unterbewusstseins
Text: Heinich, Nadin, München
Moscowness oder: Stadt als Fiktion
Dem austauschbaren, globalen Standard entrinnen – das gelingt Büro Nowadays mit einem Beschwören von Bildern, die sich aus der Geschichte speisen, mit dem Anzapfen des kollektiven Unterbewusstseins
Text: Heinich, Nadin, München
Das Büro Nowadays liegt etwas versteckt, in den ehemaligen Küchenräumen des zu Sowjetzeiten berühmten Cafés Adriatic. 2013 gründete Nata Tatunashvili Nowadays. Heute führt sie das Büro zusammen mit vier Partnerinnen. Die knapp zwanzig Angestellten sind fast ausschließlich Frauen.
Ihre interessantesten Projekte sind diejenigen, bei denen Nowadays nach dem Moskau-Typischen suchen. In Farben, Materialien, Ornamenten und dem Spiel mit Gegensätzen reflektieren sie die visuelle Ästhetik der Stadt – aber nicht das Moskau, wie es tatsächlich aussieht und alltäglich erfahren wird, sondern die Stadt als Traum, als Fiktion, als Übertreibung. Ihre beinahe märchenhaften Architekturzeichnungen, wie die für den Umbau der Wodkabrennerei Kristall, erinnern an die „Lubki“, die alten russischen Volksbilderbögen mit reduziertem Text und plakativer Gestaltung. Damit wollen sie nicht zum Botschafter eines neuen, russischen Stils werden, sondern durch das Ortsspezifische der ewig gleichen, globalen Architektur-Bilderflut entfliehen. Doch auch in der Architektur selbst spiegelt sich dieser Ansatz.
Café und (geheime) Bar „Iskra“ befinden sich in Kitai-Gorod, einem der ältesten Viertel im Stadtzentrum. Einst gehörte das klassizistische Gebäude aus dem späten 18. Jahrhundert einer Moskauer Adelsfamilie. Zu Sowjetzeiten wurde sie enteignet, im Erdgeschoss ein Milchladen eingerichtet. Das Interieur von Iskra soll sich bewusst von den vielen hippen, zugleich austauschbaren Bars, die in den letzten Jahren in Moskau eröffnet haben, abheben. Vom hellen, freundlichen Café gelangt man hinter einem theatralischen Vorhang zur dunkel gehaltenen Bar im Untergeschoss. Poliertes Messing und mosaikartig verlegter Marmor als Wandverkleidung und auf dem Boden erinnern an die pompösen Moskauer Metro-Stationen aus den vierziger und fünfziger Jahren. Rot und Grün reflektieren den Farbcode des Kremls.
Das neue Gebäude für den Markt in Zhukovka versinnbildlicht die oft extremen Gegensätze, die den russischen Alltag prägen. Zhukovka, ein Nobelvorort entlang der Rubljowo-Uspenskoje-Chaussee westlich von Moskau, ist seit der Zeit Stalins ein Erholungsort für die politische Elite und seit den neunziger Jahren für alle diejenigen, die genug Geld haben. Teure Villen stehen neben dem alten Dorf mit seinen einfachen Holzhäusern ohne fließendes Wasser, deren Anzahl sich (oftmals unter mysteriösen Umständen) immer weiter dezimiert. Typologisch erinnert das Marktgebäude an einen Tempel. Doch das aufwendig dekorierte, goldene Dach besteht nur aus banalen Standardpaneelen. Neue Reiche und russisches Hinterland.
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