Seward´s Success
Seward’s Success, eine futuristische Stadt für die Arbeiter der boomenden Ölindustrie Alaskas, wurde 1968 als die Stadt des 21. Jahrhunderts angekündigt. Doch aus dem Erfolg von Seward wurde nichts
Text: Josties, Daniel, Halle (Saale)
Seward´s Success
Seward’s Success, eine futuristische Stadt für die Arbeiter der boomenden Ölindustrie Alaskas, wurde 1968 als die Stadt des 21. Jahrhunderts angekündigt. Doch aus dem Erfolg von Seward wurde nichts
Text: Josties, Daniel, Halle (Saale)
Als Alaska 1867 für gerade einmal 7,2 Millionen Dollar von Russland an die noch jungen USA verkauft wurde, war die Kritik an dem Geschäft heftig. Was sollte man mit einer solch riesigen Fläche nutzlosen Landes anfangen? Als wenig später festgestellt wurde, dass Alaska reich an Rohstoffen wie Gold und vor allem Erdöl ist, verstummten die kritischen Stimmen. Der Ruf des damaligen amerikanischen Außenministers William H. Seward, der maßgeblich für den Ankauf gewesen war, wandelte sich vom verspotteten Naivling zum Helden. Bald trugen zahlreiche Straßen, Feiertage und sogar Städte seinen Namen; das Örtchen Seward im Süden Alaskas wurde 1903 gegründet. Einige Jahrzehnte später sollte dem Politiker und seinem Gespür für die Bedeutung Alaskas eine weitere Stadt gewidmet werden. 1969 begann die Planung für „Seward’s Success“.
Ein Jahr zuvor hatte man in der Nähe von Anchorage, in der Prudhoe Bay, große Erdölvorkommen entdeckt. Die heute größte Stadt Alaskas erfuhr zu jener Zeit ein rasantes Bevölkerungswachstum. Die Einwohnerzahl stieg zwischen 1950 und 1968 um das vierfache auf knapp 120.000 an. Schätzungen verkündeten, dass diese Entwicklung sich fortsetzen und die Zahl der Bewohner in gut zehn Jahren auf 500.000 anwachsen würde. Begründet wurde dies mit dem Bevölkerungswachstum in anderen Ölfördergebieten wie Midland in Texas. Die unterschiedlichen klimatischen Bedingungen fanden bei dieser Betrachtung keine Berücksichtigung. Dennoch entschied sich das Unternehmen Tandy Industries aus Tulsa, Oklahoma, eine Planstadt für Arbeiter und Firmen aus dem Ölgeschäft in dem kalten, abgelegenen Landstrich in Auftrag zu geben: Seward’s Success sollte im Norden von Anchorage, auf der gegenüberliegenden Uferseite des Knit Arms entstehen, dem Ausläufer einer sich weit verzweigenden Meeresbucht. Nach Abschluss der vier geplanten Bauphasen sollte die Stadt Wohn- und Arbeitsraum für 40.000 Einwohner bieten.
Die Architekten von Adrian Wilson Associates aus Los Angeles legten einen Plan für ein futuristisches Gebilde vor. Als Reaktion auf die rauen Bedingungen wollten sie die gesamte Stadt, inklusive aller Frei- und Verkehrsflächen, als geschlossenes Ensemble errichten. Die Temperatur in der gesamten Anlage sollte konstant auf 20 Grad Celsius gehalten werden. Die Planer wollten sich den Treibhauseffekt zu Nutze machen, indem die Hülle zu großen Teilen aus Glas bestehen sollte. „An entire city under Glas“ titelte dann auch die „popular Science – The what’s new magazine“ im März 1970. Die Energieversorgung sollte – heute eher konventionell – aus Erdgas gesichert werden. Fortschrittlich noch heute hingegen war das Vorhaben, im Stadtgebäude ohne Autos auszukommen. Die Bewohner würden sich zu Fuß, mit Fahrrädern, über Rolltreppen und auf Fahrsteigen fortbewegen. Ihre Autos stünden in beheizten Garagen auf der anderen Uferseite, in Anchorage, zu denen sie in Seilbahngondeln gelangten. Die Seilbahn war als erste Hauptverbindung zwischen dem alten Anchorage und der neuen Stadt vorgesehen. In einer späteren Phase würde eine Brücke für eine Einschienenbahn errichtet werden, die bis zum Flughafen von Anchorage fahren sollte. Nach der ersten Bauphase würden in Seward’s Success 5000 Einwohner einziehen können. Ihre Arbeitsplätze fänden sie im zwanzigstöckigen „Alaskan Petroleum Center“, in dem verschiedene Ölfirmen 56.000 Quadratmeter Bürofläche füllen sollten. Dieser Büroturm wäre das weithin sichtbare Wahrzeichen der Stadt geworden. Geplant waren außerdem 28.000 Quadratmeter Ladenfläche neben Sportanlagen, Hotels, Schulen, Kirchen und weiteren Erholungsangeboten. Tandy Industries wollte 800 Millionen Dollar in „the twenty-first century city“ investieren. Die Summe entspricht einer heutigen Kaufkraft von etwa 5,2 Milliarden Dollar. Die Bauarbeiten sollten am 1. Juni 1970 beginnen.
Nur wenige Jahre vor dem Erdölfund wurden am 17. März 1964 große Teile von Anchorage und anderer Städte in Alaska durch ein Erdbeben zerstört. Das zweitstärkste jemals gemessene Erdbeben ging mit einer Magnitude von 9,2 als das Karfreitagsbeben in die Geschichte ein. Das Epizentrum lag 120 Kilometer südlich der Stadt und löste Tsunamis, Erdrutsche und Landverschiebungen aus. Wegen der dünnen Besiedlung der Gegend kamen dabei „nur“ 125 Menschen ums Leben, der Schaden betrug nach heutiger Rechnung allerdings 2,3 Milliarden Dollar. Dennoch pries Tandy Industries ihr Vorhaben in einer Werbebroschüre als „nicht von Erdbeben gefährdet“. Dass die Entwerfer diesen Widerspruch zuließen und sich für zahlreiche unkonventionelle Lösungen entschieden, zeugt vom Willen zu beweisen, zu welchen technischen Höchstleistungen sie und ihre Auftraggeber in der Lage sind. Es herrschte absolutes Vertrauen darin, im Zeichen des Fortschritts jedes Problem mit Spitzentechnologie lösen zu können. Bezeichnenderweise entstand das Projekt im Jahr der Mondlandung. Die Stadt wirkt selbst wie eine Raumstation auf einem lebensfeindlichen Planeten.
Über die Architekten von Adrian Wilson Associates ist heute wenig bekannt. Der Gründer des Büros verstarb 1988 in Los Angeles. Bereits 1970 hatte er die Firma abgegeben. Zuvor war er verantwortlich für einige Regierungsgebäude im Civic Centre in Los Angeles und den Entwurf der Amerikanischen Botschaft in Saigon von 1965. Auch das Schicksal von Tandy Industries bleibt im Dunkeln. Anchorage selbst – 1915 als Hauptquartier der Alaska Railroad gegründet – hatte 1980 statt der prognostizierten halben Million, gerade einmal 185.000 Einwohner. Seward’s Success wurde nie errichtet. Der Bau der Trans-Alaska Pipeline verzögerte sich: Sie wäre nötig gewesen, um die Ölfelder erschließen zu können. Tandy Industries konnte die Pacht für das Bauland nicht zahlen, das Projekt wurde 1972 offiziell abgesagt.
Gebaut wurde die Stadt dennoch – zumindest virtuell. Der Künstler Nathan Shafer, in Alaska aufgewachsen, erinnerte sich vor einiger Zeit an die Planstadt, die zur Zeit seiner Kindheit in aller Munde gewesen war und forschte nach. Die erhaltenen Pläne setzte er als Computermodell um, das wir in diese Ausgabe integriert haben. Shafers Ziel ist es, mittels „Augmented Reality“-Apps wie Layar, Seward’s Succes auf dem ursprünglichen Baugrund – damals wie heute eine wilde Einöde – erlebbar zu machen.
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