Auch Brackwasser ist manchmal blau
Text: Crone, Benedikt, Berlin; Landes, Josepha, Berlin; Redecke, Sebastian, Berlin
Auch Brackwasser ist manchmal blau
Text: Crone, Benedikt, Berlin; Landes, Josepha, Berlin; Redecke, Sebastian, Berlin
Die Ostsee ist ein Mittelmeer des Atlantischen Ozeans – so verlautbart eine Internetsuchmaschine und beruft sich dabei auf das Eingeschlossensein von Meereswasser durch Landmasse. Nun denkt man bei dem Wort „Mittelmeer“ eher an Sardinen als an Hering, recht hat die Suchmaschine dennoch. Und auch abgesehen von ozeanografischer Korrektheit und der Besiedlung durch Schwarmfische hier wie da, hat das nordeuropäische Binnenmeer einige Parallelen zum südeuropäischen.
Zwar ist das Mittelmeer etwa doppelt so groß wie die Ostsee, doch dass beide Meere zum Austausch zwischen den an ihnen lebenden Völkern und deren Kulturen beigetragen haben, ist nicht von der Hand zu weisen. Dort waren es in der Antike die für Hochkultur stehenden Griechen, Römer, Ägypter, hier herrschten – neben den berüchtigten, marodierenden Wikingern – diverse und kulturell bisweilen unterschätzte Bevölkerungsgruppen wie die Finnen, Esten, Letten, Kuren, Litauer, Pruzzen, Slawen, Dänen, Göten, Seonen, Lappen, Russen, Germanen. Und auch die regen Handelsbeziehungen der Hanse leisteten einer „Globalisierung im Kleinen“ Vorschub.
Heute, 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, erleben die Anrainer der Ostsee ein Wachstum, das die mit Aufmerksamkeit verwöhnte Mittelmeerregion in den Schatten stellen kann. Vor allem die Küstenstädte entdecken die Potenziale ihrer Seeseite neu: Die Nachverwertung von brachgefallenen Hafenarealen als neue Stadtquartiere boomt.
Dabei wird deutlich: Auch die Wikinger fallen wieder in die Hafenorte ein, in Form umtriebiger Architekturbüros. Ob in Kopenhagen oder Danzig, in Helsinki oder Tallinn, es sind oft die immergleichen, gerne dänischen Teams, die mit ihren Ideen punkten und Wettbewerbe für sich entscheiden können. Aber auch Deutsche planen in Helsinki, Niederländer in Kiel. Könnte es sein, dass wir Zeugen einer neuen, prägenden Epoche der Ostsee sind? Eines europäischen Binnenraums, wo die Nachwirkungen der Teilung in Ost und West besonders deutlich waren. Viele der neuen Hafenquartiere, denen sich dieses Heft widmet, sprechen dafür. Sie sprechen dafür, dass die Hafenstädte – wie auch viele Städte abseits der See – wachsen und Wohnungen benötigen. Zugleich sprechen sie dafür, dass die Ostsee-Städte erkennen, dass sie von ihrer Küstenlage auch atmosphärisch profitieren können. Beim Ausbau ihrer Potenziale wird deutlich, dass sie aufeinander schielen: Kopenhagen, Stockholm und Helsinki entwickeln, in verschiedenen Maßstäben, Quartiere, die zu wetteifern scheinen, wer die Nase in Sachen Klima-Verträglichkeit vorn hat.
Die Ostsee war viele Jahre für gut die Hälfte ihrer Anrainer ein weitgehend abgeschiedener Hort vor der Stadt – in der Sowjetzeit öffnete sie ab Lübeck bis an die finnische Grenze potentiell Fluchtwege. Wie nun mit dem neuen Möglichkeitsraum vor der Haustür umzugehen ist, variiert erstaunlich: Das estnische Tallinn setzt konsequent auf Zuwendung. Seit den neunziger Jahren ist die Küste zugänglich, und seitdem sind neue, mittelständische Wohnviertel, Kultureinrichtungen und öffentliche Räume entstanden. Anders in St. Petersburg. Hier spiegelt die See die Konturen des neuen Stadtteils „Golden City“ – mit goldenen Turmspitzen. Die 5,3-Millionen-Metropole setzt sich eine Silhouette zum Meer, die die Verteilungen der Güter im post-sowjetischen Russland abbildet, und sie gab dem größten Konzern Russlands die Möglichkeit, sie mit dem höchsten Haus Europas zu krönen: dem Gazprom-Tower am „Lachta Center“. Ob also mit Vorstößen in Klima-Grün oder Gold – sicher ist, dass sich der graue Nebel verzogen hat, der noch in der Vorstellung vieler das seichte Wasser der Ostsee niederdrückt.
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