Stockholm Royal Seaport – Norra Djurgårdsstaden
Stockholm will bis 2040 ohne fossile Energieträger auskommen. Dort, wo lange Zeit Öl und Kohle von Schiffen gelöscht wurde, entsteht nun ein Quartier, das nicht nur ökologisch vorbildlich sein soll, sondern auch langfristig lebenswert.
Text: Crone, Benedikt, Berlin
Stockholm Royal Seaport – Norra Djurgårdsstaden
Stockholm will bis 2040 ohne fossile Energieträger auskommen. Dort, wo lange Zeit Öl und Kohle von Schiffen gelöscht wurde, entsteht nun ein Quartier, das nicht nur ökologisch vorbildlich sein soll, sondern auch langfristig lebenswert.
Text: Crone, Benedikt, Berlin
Nebenan tobt das Leben. Menschen schimmern durch die Fenster des Cafés mit angeschlossenem Friseursalon. Sie lachen, tratschen, drängen sich an Tischen und Tresen. Dagegen ist das Bamboo Asia, in dem ich meine Mittagspause verbringe, die ruhige B-Wahl. Immerhin geht vor meinem Fenster eine ältere Dame über den Platz; ein Mann schiebt einen Kinderwagen und an der Ecke entlädt ein Fahrer seinen Transporter. Für einen Wochentag im Stockholmer Winter ist das mehr Urbanität als ich erwartet hatte. Vor allem, da dieser Ort ein Ort im Entstehen ist und wohl erst in fünfzehn Jahren als vollendeter Stadtteil bezeichnet werden kann. Im Sommer, so belegen es Fotos, tänzeln an dieser Stelle sogar Kinder um Wasserfontänen, und Familien stöbern durch die Stände eines Marktes.
Norra Djurgårdsstaden heißt das große Entwicklungsprojekt im Stockholmer Nordosten. Nichtschweden geht vermutlich die englische Bezeichnung „Royal Seaport“ leichter über die Lippen – das Areal grenzt an den königlichen Nationalstadtpark. Im 20. Jahrhundert diente der Hafenabschnitt überwiegend dem Kohle- und Öltransport. Mit dessen Rückgang, seit den frühen 2000er Jahren, machte sich die Stadt an die Planung eines neuen Quartiers. Auf 236 Hektar sollen 12.000 Wohnungen – 5500 wurden bereits realisiert – und 35.000 Arbeitsplätze entstehen. 2009 erhielt das schwedische Büro Tengbom den Auftrag für einen Masterplan, der seitdem angepasst und erweitert wurde. 2011 folgte der Baubeginn.
Das Vorhaben ist ambitioniert, wegen der Größe und der Ausgangslage (der Boden enthält Altlasten, eine Sanierung verlängert den Bauprozess um Jahre). Vor allem aber wegen des hohen Anspruchs an das Ergebnis: Es soll ein an die Innenstadt angedocktes Viertel mit belebten Plätzen, Gewerbe und Angeboten für Freizeit und Bildung entstehen – unter grünem Vorzeichen. Denn das Quartier soll auch ein Klimavorzeigeort werden. Schweden will bis 2045 CO2-neutral sein. Stockholm soll bis 2040 ohne fossile Energieerzeugung auskommen, Norra Djurgårdsstaden ab 2030.
Der Platz vor dem Fenster des Bamboo Asia befindet sich in einem der ersten Bauabschnitte im Norden. Er ist das Ergebnis eines städtebaulich strengen Rasters, das an die Stadterweiterungen des 19. Jahrhunderts erinnert. Auf drei Seiten wird er von Blocks umgrenzt, die zur hügeligen Umgebung eine harte Kante bilden. Die siebengeschossigen Gebäude lassen ein weitläufiges Quartier vermuten – doch nach wenigen Metern öffnet sich an einer Kreuzung der Blick auf den Stadtpark, eine Wald- und Gartenlandschaft mit Holzhäuschen im Bullerbü-Stil. Auf die kurze Weite folgt wieder ein dichter Quartiersabschnitt mit Blocks, die sich überwiegend aus geknickten Riegeln und Punkthäusern zusammensetzen. Ich erreiche eine kurvige Straße, die mich an zwei Gasometern vorbeiführt, detailreich gemauerte Bauten des schwedischen Architekten Ferdinand Boberg. Es ist wie bei jedem Neubauviertel: Der Bestand – dazu zählt auch die Topografie aus Hügeln, Felswänden und ausgewachsenen Bäumen – ist ein Geschenk für den Ort, beugt er doch einer Sterilität und Beliebigkeit vor. Durch die großen Eichen und Birken blickend kann man bei manchen Straßenzügen gar dem Eindruck erliegen, in einem über Jahrzehnte gewachsenen Wohnquartier zu stehen.
Die kurvige Straße geht in die bisherige Hauptachse des Quartiers über. An ihrem Ende reihen sich Wohn- und Gewerbebauten. Sie wechseln sprunghaft, von Haus zu Haus, in Höhe und Fassadengestaltung. Der unstete Rhythmus wirkt wie ein unbeholfener Versuch, die Strenge der bisherigen Quartiersabschnitte auszugleichen. Architektonisch „wilder“ wird es ebenfalls zum Nordrand, wo sich in Reihenhäusern einige Glückliche eine Wohnung mit Blick auf eine kleine Bucht mit Spielplatz, Parkbänken und Entenfamilie leisten konnten (unter den Gebäuden befindet sich auch ein kurioses, mit Cortenstahl verkleidetes Haus von CF Møller Architekten). Auf dem Weg dorthin kreuze ich halböffentliche Blockinnenräume, die man wohl als Huldigung an einen zeitgenössischen Städtebau verstehen kann. Zwar wage ich mich ohne Zögern in sie hinein, husche vorbei an Rasenflächen, Balkonen und Laubengängen, allerdings bin ich mir dabei nie sicher, nicht doch auf die private Terrasse oder Gartenfläche eines zu Empörung neigenden Anwohners zu treten.
Mehr als ein Wohnort
Je weiter ich in Richtung Wasser gehe, desto mehr schwindet die Idylle undsteigt der Lärmpegel. Lastwagen brettern die Straße entlang, Bagger bereiten den Grund für die Bauvorhaben der kommenden Jahre. Die Architekturbüros adept und mandaworks haben für diese Erweiterung 2015 den städtebaulichen Wettbewerb gewonnen. In ihrer Vision soll ein Kultur- und Freizeitboulevard vom Quartier bis zum Ufer führen, alte Industriehallen werden zu Kultur- und Veranstaltungsorten umgenutzt, das Land wird durch Aufschüttung bis ins Wasser verlängert.
„Norra Djurgårdsstaden ist für viele Menschen noch ein Wohnort“, sagt Martin Ottosson, Sprecher des Stockholm Royal Seaport. Arbeitsplätze und Freizeitangebote fänden viele in der bisherigen Stadt. In Zukunft soll sich das ändern, teilweise sogar umkehren, und Norra Djurgårdsstaden ein Magnet für Innenstadtbewohner werden. Ein Anspruch, den Neubauviertel in Randlage gerne erheben – aber bisher nur selten erfüllen konnten. Ottosson leitet die Kommunikationsarbeit des Projekts. Er sitzt mit seinem Team, der Entwicklungsabteilung der Stadt Stockholm mitten im Quartier, im Hauptgebäude der früheren Gasanstalt, wo er mit einem Beamer die großen Pläne an die Wand projiziert: Bis 2030 soll der nördliche Abschnitt rund um den Vorort Hjorthagen abgeschlossen sein, inklusive des Ausbaus der Bahnstation Ropsten und der Streckenverlängerung über die Meerenge Lilla Värtan. Parallel läuft südlich, zwischen den Becken Värtahamnen Port und Firhamnen Port, der Bau eines dichten Wohn- und Gewerbequartiers, bei weiterhin aktivem Fähr- und Kreuzfahrtverkehr. Ab 2023 sollen außerdem die ersten Wohnungen in Loudden stehen, dem letzten Abschnitt, für dessen Umwandlung Öltanks beseitigt werden müssen. Wesentlicher Teil des Royal Seaport, darauf kommt Ottosson schnell zu sprechen, werde seine umweltfreundliche und raumsparende Infrastruktur: Radwege, fußläufige Distanzen, mit Strom und Biogas betriebener Bus- und Bootsverkehr, Ladestation für Elektrofahrzeuge und 0,5 PkW-Stellplätze je Wohneinheit in Tiefgaragen, gegenüber zwei Stellplätzen für Fahrräder. In der Tat wirken die Straßen verkehrsberuhigt, begleitet werden sie von Radwegen und breiten Bürgersteigen.
Auffällig sind auch die gelben und blauen Öffnungen einer Abfallsauganlage, die den Hausmüll durch Rohre zur Deponie und Verbrennungsanlage schießt – was Transportwege und Lärmbelästigung durch die Müllabfuhr stark reduziert. Organischer Müll wird in den Privathaushalten über eine Küchenvorrichtung der Spüle in einer Aufbereitungsanlage gesammeltund in Biogas umgewandelt, das der Energieerzeugung dient. Solarzellen und CO2-absorbierende Grünflächen belegen viele der Dächer – nur zwei von 40 „grünen“ Vorgaben, die die Stadt den Bauherren macht. Noch nicht zufriedenstellend sei jedoch der Energiestandard der Neubauten. Die Häuser sollten eigentlich einen jährlichen Energiebedarf von 55 kWh pro Quadratmeter nicht überschreiten; bei der Messung in einem Abschnitt im Jahr 2018 lag der Verbrauch bei 76 kWh. Die Stadt evaluiere derzeit, warum dies der Fall ist, und arbeite mit den Entwicklern daran, den Verbrauch weiter zu senken, sagt Ottosson.
Ihren Beitrag zur nachhaltigen Lebensqualität des Viertels leisten nicht zuletzt die Erdgeschosszonen. Sie fallen auf Vorschrift der Stadt in der Regel höher aus als die Obergeschosse und sind entlang von Hauptstraßen und Plätzen für die Gewerbenutzung vorgesehen. Allerdings, gesteht Ottosson, habe er schon manche Geschäfte und Gastronomie kommen und gehen sehen: In einem sich noch im Bau befindlichen Quartier braucht ein Gewerbetreiber einen langen Atem.
Auf der Bauherrenseite geriet zuletzt der Entwickler Oscar Properties in Finanzierungsnöten. Er wollte ein von Herzog & de Meuron entworfenes Hochhaus realisieren, den Gasklockan-Turm, der zu einem Wahrzeichen von Norra Djurgårdsstaden hätte werden können. Nun soll die Entwicklung des Grundstücks bis zum Sommer neu ausgeschrieben werden; eine Realisierung des bisherigen Entwurfs ist unwahrscheinlich.
Kleiner Bruder der Seestadt Hammerby
Das Bauland des Viertels, das sich in städtischer Hand befindet, wird saniert und teuer an den höchstbietenden Entwickler veräußert. Dieser reicht wie üblich die Kosten an die Wohnungsmieter und -käufer weiter. Das Verhältnis Miet- und Eigentumswohnungen liegt etwa bei 50:50 und einige der Häuser befinden sich in der Hand von Genossenschaften. Doch eine Kritik, die auf viele der neuen, europäischen Hafenquartiere zutrifft, kann auch an den Royal Seaport gerichtet werden: Es hat seinen Preis, hier zu leben. Trotzdem wirkt der Stadtteil besonders auf Familien attraktiv, weshalb die Stadt früh den Bau von Kindergärten und Schulen in die Planung integrierte.
Die Wahrnehmung, es handele sich bei Norra Djurgårdsstaden vor allem um ein Quartier der finanziell Bessergestellten, bestätigt auch der Architekt und Architekturkritiker Rasmus Wærn. Sein Büro Wingårdh arkitektkontor hat selbst ein markantes, rotes Ziegelgebäude in dem Gebiet realisiert. Für Wærn ist der Royal Seaport der kleine Bruder der Seestadt Hammarby. Das Stockholmer Quartier in südlicher Wasserlage ist das Werk des Planers Jan Inghe-Hagström, ursprünglich entworfen in den 1990er Jahren (Bauwelt 6.2005). Während daraus ein heute weltweit beachtetes Neubauquartier mit einer klaren Struktur geworden sei, hätte sich Norra Djurgårdsstaden zwar technologisch weiterentwickelt, vermisse aber vor allem ein gestalterisches Gesamtkonzept. Jeder Architekt plane sein Haus, so Wærn, was in einer großen „Vielfalt“ aber nicht in einem konsequenten Gesamtgefüge münde. Dennoch: Norra Djurgårdsstaden werdemit seiner Dichte und Nutzungsmischung vermutlich ein beliebter, lebenswerter und nachhaltiger Stadtteil werden.
Dabei helfen könnten weniger architektonische Einzelstücke als die Zurückhaltung der meisten Häuser, die den Ort sympathisch geerdet wirken lässt. Für ein Stadtidyll im Grünen sorgen ohnehin bereits die Freiraumgestaltung, die kurzen Wege in die Parklandschaft und der weite Blick auf die Ostsee mit den vielen flachen Inseln des Stockholmer Schärengartens.
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