Bild der Stadt der Bilder
Text: Landes, Josepha, Berlin
Bild der Stadt der Bilder
Text: Landes, Josepha, Berlin
Bild der Stadt
1960 veröffentlichte der U.S.-amerikanische Architekt und Urbanist Kevin Lynch „The Image of the City“ in der M.I.T.-Press, Cambridge/Massachusetts. Die deutsche Erstauflage von „Das Bild der Stadt“ folgte fünf Jahre später in der Reihe Bauwelt-Fundamente bei Ullstein Berlin. In diesem Buch präsentierte Lynch seine experimentellen Untersuchungen, wie Menschen die Städte, in denen Sie leben, wahrnehmen, wie sie sich orientieren und vor allem: woran. Er versichert: „Die vorliegende Studie ist, wie der Leser rasch feststellen wird, ein erstes und nicht ein letztes Wort.“ Die Untersuchungsfelder waren Boston, Jersey City und Los Angeles. Studierende der Architektur und Stadtplanung, vielleicht auch anderer Disziplinen, haben seither mit den von Lynch angelegten Werkzeugen geübt, ihre eigenen Städte zu kartieren: Beschreiben, Skizzieren, Phantasieren.
Los Angeles schnitt in den sechziger Jahren schlecht ab. Wozu aber bedarf es überhaupt eines Bilds der Stadt? Was ist ein Bild der Stadt, oder was kann es sein? Lynch bedient sich dazu des Begriffs der „Prägnanz“, fasst ihn jedoch weit über das visuell Bildliche hinausgehend: Ja, das Offensichtliche ist Teil von Prägnanz. Hinzu gesellen sich jedoch, wie er formuliert, „Ausdrücke des inneren Wesens“. Das Bild einer Stadt ist nach Lynch ein stabiles Gerüst aus Merkmalen, das von den Nutzerinnen und Nutzern, also Bewohnern und Passantinnen, Besuchern und Alteingesessenen, mit Ihren eigenen Geschichten angereichert werden kann, ohne, dass dabei eine derartige Disparität entstünde, als dass A nicht mehr verstünde, wo B, denn nun gewesen sei – „doch gewiss nicht in L.A.!“ Lynch verfällt bei seinem Entwurf für einen Zugriff auf das Bild der Stadt keineswegs darauf, Gefälligkeit, Verständlichkeit, Praktikabilität – gar Schönheit –als wertende Maßstäbe einzuführen. Im Gegenteil: Er preist ausdrücklich Sinnenfreude, Rhythmus, Anregung und Erlesenheit als städtische Vorzüge. Die rezeptive Ebene steht bei ihm vornan, die Beziehung also, die die Stadt als zeitlich, baulich und sozial komplexes System mit den Wahrnehmendeneinzugehen vermag, die ihrerseits erst durch verschiedenste Faktoren zu dem geworden sind, was sie sind. „Solang [ein Beschauer] Wirklichkeit und Plan zusammenführen kann, besitzt er einen Schlüssel zu den Beziehungen der Dinge.“
Warum also hatte Los Angeles eine „schlechte Bilanz“? Vorangestellt sei,dass der Untersuchungsperimeter allein die Downtown der City of Los Angeles umfasste. „Das Zentrum wird nur noch aus reiner Höflichkeit als Downtown bezeichnet, denn es gibt verschiedene andere Kernpunkte.“, schreibt Lynch. Außerdem sei „das Straßenraster selbst eine unübersichtliche Schablone, deren einzelne Elemente nicht immer mit Sicherheit aus-einandergehalten werden können.“ Die Freeways schließen das „Zentrum“ heute wie damals akribisch ab, und die eigentlich für die Einprägsamkeit geeignete Bereiche wie z.B. ein im Text als „der Geschäftsbezirk der 7th Street“ bezeichneter Abschnitt seien klein, geradlinig angeordnet oder beschränkten sich auf eine Straßenseite. Nachbarschaften wie Bunker Hill oder Little Tokyo seien relativ „schwach“ – einige Befragte sahen sie gar als nicht zum Downtown-Gebiet gehörig. Einzig der Pershing Square, obwohl seinerzeit mit einer großen Rasenfläche bedeckt und relativ unbeliebt aufgrund einer Furcht vor „sonderbaren Leuten“, diente weitgehend als Orientierungshilfe. Auch der Broadway mit seinen bunten Theater-Vordächern schien universellen Anhalt zu bieten. Wirklich heraus stach allerdings lediglich der historische Ausgangspunkt der Stadtentwicklung: „El Pueblo“. Hier konnten die Befragten sogar die Farbe des Pflasters, die Form der Bänke oder die Art der Bepflanzung ganz genau beschreiben. Die Interviews zu Los Angeles ließen sich in allgemeinen Beschreibungen wie „ausgedehnt“, „geräumig“, „formlos“, „ohne Zentrum“ zusammenfassen: „Als Ganzes schien Los Angeles kaum einer zu überblicken (…) Endlose Ausdehnung mit einem angenehmen Beigeschmack von Geräumigkeit im Umkreis des Wohnbereichs – oder aber einem unangenehmen von Ermüdung und Desorientierung.“
Als Orientierungshilfen bringt Lynch Meer, Berge, Hügel und Täler ins Spiel. Diese Elemente überlagern das Bild der eigentlichen Stadt in ihrem Wahrgenommenwerden. Los Angeles ist, wenngleich es vielleicht nicht dieses eine Bild der Stadt vorzuweisen hat, eine Stadt der Bilder. Und wie Valerio Olgiati für die Architekturbiennale in Venedig 2012 vierzig Kolleginnen und Kollegen nach ihrem Bild von Architektur befragte – deren Referenz fürs eigene Schaffen erbat, sie bis zu zehn Bilder sammeln ließ, mit denen sie darzustellen versuchen, was Architektur für sie sei, lässt sich auch dem Bild der Stadt L.A. mit Klischees nahekommen. Auch Menschen, die nie in Los Angeles gewesen sind, verbinden ein Image mit diesem Ort. L.A. liefert unbeachtet der Herkunft und Lebenswelten jeder und jedes Einzelnen klare Assoziationen, entzündet Bilder auf der Netzhaut oder Melodien im Ohr, die zugleich – wie eine Art Brückenschlag zum von Lynch skizzierten Charakter eines Bilds von einer Stadt – für andere verständlich sind, die diese Bilder sehen oder hören oder von ihnen erzählt bekommen.
Stadt der Bilder
L.A.-Referenzen speisen sich in der Hauptsache aus der Pop-Kultur, der die Stadt, von der Schwere des Ostküstenintellekts befreit, einen Möglichkeitsraum für schier endlose Bildproduktion und –reproduktion öffnet. Los Angeles liegt, wie die Red Hot Chili Peppers 1999 in Californication sangen, on the “edge of Western Civilisation”. Es gibt so viele Bilder von Los Angeles, dass es dem Filmemacher Thom Andersen kaum schwergefallen sein dürfte, für seinen 2003 erschienen Film „Los Angeles plays itself“ (abrufbar auf youtube) passende Sequenzen zu finden. Zum Thema Ostküsten-Intellekt natürlich voran Woody Allens Blick auf die Stadt – „Hier liegt ja gar kein Müll rum.“, „Weil sie denn in ihre Fernseshows packen.“ (Der Stadtneurotiker, 1977) Aber Andersen moniert auch, dass die Filmindustrie die Stadt karikiere, angefangen bei der Abkürzung ihres Namens zu „L.A.“ Nur eine Stadt ganz ohne Selbstbewusstsein ließe solches zu. Wie aber soll eine Stadt, die eigentlich keine, jedenfalls im klassischen Sinn keine ist, die in dieser Aussage anklingende Art von Selbstbewusstsein entfalten. Selbstbewusstsein als Stolz auf das, was man vorzuweisen hat. Vielleicht liegt das Missverständnis nicht in der Stadt, sondern im Betrachter begründet. L.A. ist, so die umgekehrte These, so selbstbewusst, dass es auf jede Attitüde verzichtet, sich eine Abkürzung zu verbitten. Das Selbstbewusstsein bezieht sich eventuell darauf, zu wissen, dass man eigent-lich nichts vorzuweisen hat, und trotzdem alle etwas von einem wollen.
L.A. in seiner Fragmentation mimt eine genuine Darstellung der globalisierten Welt. These: Diese Stadt ist nicht wirklich eine Stadt, und der Versuch, sie als solche zu betrachten, kommt ihrem Wesen einfach nicht nah. Thom Andersens Ansatz, die vielen Gesichter von Los Angeles im Film nachzuzeichnen, ist genau deshalb so spannend. Denn, wie er auch beweist: Was Los Angeles im Film ist, ist Los Angeles nicht in jedem Fall in der Wirklichkeit. Und manchmal ist sogar Chicago im Film eigentlich Los Angeles in der Wirklichkeit. Los Angeles, behauptet Andersen, wurde von Hollywood gekapert, zur Kulissenstadt degradiert und bisweilen sogar vorgeführt als Hort allen Unglücks und Ort einer Ur-Sünde. Doch Hollywood hat auch die Themen dieser Stadt in die Welt getragen: Die unbedingte Automobilität, die moderne Villenarchitektur nebst der damit assoziierten Klischees; die – ebenfalls in Californication besungene – Plastische Chirurgie: „Pay your surgeon very wellt to break the spell of aging“.
Und in den Filmen ab den zwanziger Jahren lässt sich sogar die Stadtentwicklung nachvollziehen, allein wie sich Bunker Hill von einer respektablen zu einer sinistren zu einer gar nicht mehr Nachbarschaft wandelte. Viele Bilder dieser Stadt sind gewissermaßen zeitenlos, sie versinnbildlichen die in der Utopie enthaltene Dystopie, dazu braucht es nicht erst Blade Runner. Los Angeles ist ein Malstrom, in dem der bittere Beigeschmack jeder Sehnsucht offenbar ist, das Versprechen – the promise – jedoch dermaßen hell strahlt, reproduziert wird, dass wir die Entbehrungen geflissentlich in Kauf nehmen.
„Little girls from Sweden dream of silver screen quotation” – wie diese Zeile aus Californication erzählt das Musical LA LA Land (2016) das Märchen vom glücklichen Zufall, dem Aufstieg im Show Business aber auch den Opfern, die Träume kosten. Es ist in satten Farben gedreht und verlässt sich auf perfekte Choreografien. Der Film strotzt vor schönen Körpern, schönen Räumen – und L.A. bleibt darin auf filmische Zitate wie das Griffith Observatory oder die Erinnerung an den eigentlichen Charme des großen alten Kinos beschränkt. Im Prinzip aber feiert LA LA Land noch etwas anderes, nämlich den Freeway: Vor lauter Freeway sieht keiner die Stadt eigentlich. Was bleibt, ist eine ferne Hügelkette, Abglanz einer Erinnerung daran, dass die Welt tatsächlich dahinter weitergehen könnte.
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